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Simone Felber modernisiert die Jodlerszene: «Man muss Traditionen anpassen, damit sie überleben»

Zeitgeist

Simone Felber modernisiert die Jodlerszene: «Man muss Traditionen anpassen, damit sie überleben»

Die Jodlerin Simone Felber gilt als Erneuerin der Schweizer Volksmusik. Das hat ihr zwar den Schweizer Musikpreis des Bundesamts für Kultur eingebracht, aber nicht den Applaus in der eigenen Szene. Wer ist diese Frau, die traditionelle, patriarchale Lieder umschreibt und die Jodlerszene in Unruhe versetzt?

«Einisch het mer avo munkle. Es gäbt da so eini tüüüüf ir ineschwiz, wo ned macht wie mer sött, sondern wo macht, was sie wott. Wo jodlet und juckzt, singt, was sie denkt.» Die Stimme aus dem Off verstummt. Simone Felber kommt an diesem Abend im Sommer 2023 auf die Bühne. Im schwarzen bodenlangen Jumpsuit tritt sie an ihr Harmonium, ein Instrument, das aussieht wie ein Klavier in einer Kiste. Simone Felber beginnt zu jodeln. Es klingt archaisch, urtümlich, irgendwie nach der Schweiz.

Die Töne schwappen langsam zum Publikum über. Köpfe drehen sich zur Bühne. Solche Klänge gibt es am alternativkulturellen «Festival des Arcs» bei Baden selten. Volksmusik für ein urbanes, linkes Publikum.

Am selben Wochenende findet das Eidgenössische Jodlerfest in Zug statt. Bundesrat Alain Berset sagt dort in einer Rede: «Das Jodeln verbindet uns alle.» Der Gesamtbundesrat wolle das Jodeln auf die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Schweiz setzen lassen. 6000 Menschen im Publikum applaudieren minutenlang.

Zu viel Sexismus, zu viel Traditionalismus

Volksmusik für die Massen. Simone Felber, 31 Jahre alt, aufgewachsen in Luzern, ist von Beruf Musikerin und verdient ihr Geld mit dem Jodeln. Aber sie fühlt sich schon länger nicht mehr wohl in der Welt der Volksmusik. Zu viel Sexismus, zu viel Traditionalismus. Simone Felber ist das Gegenteil.

Sie ist links, feministisch, vorwärtsgewandt. Und sie macht etwas, was nur wenige vor ihr gemacht haben: Sie ändert die Texte jahrzehntealter Lieder ab. «S Müetti hät dä Ätti gno» heisst es bei ihr, anstatt: «Der Ätti häts Müeti gno». Oder nicht wie einst: «Müeterli, säg mer gschwind: ischs Tanze e grossi Sünd», sondern «Muetter chom, säg mer gschwind: brucht die Wält no meh Chend?».

Simone Felber gilt als Erneuerin der Volksmusik und sie gehört zu den aufregendsten Musikerinnen der Schweiz. Am 23. Mai 2024 wird sie mit einem von sechs Musikpreisen des Bundesamts für Kultur ausgezeichnet. Wer ist diese Frau, die in der Jodlerszene für Unruhe sorgt?

Sie kann vom Beruf als Jodlerin leben

Simone Felber sitzt an einem Sommertag im Luzerner Neubad, trinkt eine Zitronenlimonade. Es sind wenige Tage seit dem feministischen Streik am 14. Juni vergangen. Auf ihrem linken Oberarm trägt sie ein abwaschbares Tattoo. Es zeigt eine Frau, die ihren Bizeps anspannt, die Betrachterin breit anlacht.

Seit drei Jahren kann sie von ihrem Beruf als Jodlerin leben und steht mit verschiedenen Formationen auf der Bühne. Ihr Urprojekt ist «Simone Felbers iheimisch», wo sie mit ihrem Lebenspartner, dem Schwyzerörgeli-Spieler Adrian Würsch, und mit Pirmin Huber (Kontrabass) auf der Bühne steht. Im Duo «hedi drescht» präsentiert sie gemeinsam mit Pianist Lukas Gernet eigene Jodellieder. In «famm» singt sie mit drei Luzerner Musikerinnen neu interpretierte Schweizer Volkslieder.

Und in Nidwalden leitet sie den feministischen Jodelchor «Echo vom Eierstock», der im September 2022 vom feministischen Kollektiv Nidwalden in Stans gegründet worden ist. Die Formation möchte unsexistische Jodellieder fördern und textet traditionelle Volksliedtexte so um, dass sie keine althergebrachten Rollenbilder mehr zementieren.

Ihren ersten grösseren Auftritt hatten die 45 Frauen im April 2023 an den Stanser Musiktagen. Die fast 400 Tickets waren ausverkauft. Aus Deutschland reiste ein Filmteam des ZDF an und berichtete in den Abendnachrichten über den «ersten feministischen Jodelchor der Schweiz».

Ihre Musik und ihr Auftreten sind in der Volksmusikszene verpönt, sie erhält dafür anonyme Hassnachrichten, wird als Nestbeschmutzerin beschimpft, als «woke, widerliche Schwester» bezeichnet. «Ich habe damit gerechnet, mit dieser Abneigung und Angst, mit einer negativen Haltung dem feministischen Chor gegenüber», sagt Simone Felber. Deswegen habe sie gründlich überlegt, ob sie dessen künstlerische Leitung übernehmen möchte. Letztendlich sei es aber eine logische Konsequenz ihres Schaffens gewesen.

«Mit Schweigen mache ich mich mitschuldig»

Ihr reichte es nicht mehr, nur den Kopf zu schütteln, aber nichts zu sagen. Sie sagt: «Mit Schweigen mache ich mich mitschuldig. Der Sexismus und die patriarchalischen Strukturen in der Volksmusik sind ein Problem, das dringend angesprochen werden muss.»

Verantwortlich für diese Strukturen und die Einhaltung der traditionellen Sitten ist der Eidgenössische Jodlerverband, die Dachorganisation aller Schweizer Vereine der Jodler:innen, Alphornbläser:innen und Fahnenschwinger:innen. Er ist bestrebt, das Schweizer Brauchtum zu pflegen und hat etwa auch reglementarisch festgeschrieben, dass alle Jodler:innen in einer Tracht auftreten müssen. Die Rocklänge der Tracht muss zwischen 25 und 30 Zentimeter ab Boden sein, kürzer sicher nicht. Ausnahmen – wie sie beispielsweise bei Schwangerschaften eintreten können – müssen vorgängig dem Gesamtobmann gemeldet werden.

Das Hinterfragen kam «sehr schleichend»

Das Hinterfragen der Kultur und der Texte ist bei Simone Felber «sehr schleichend» gekommen. «Ich bin sehr behütet aufgewachsen, war sicher sehr naiv, habe lange Zeit einfach nicht darüber nachgedacht, was ich da singe.» Auf der ersten CD von «Simone Felbers iheimisch» gibt es ein Lied, das sie heute nicht mehr aufnehmen würde. Im Text geht es um einen Jungen, der am Wegrand steht und zwölf Küsse verkauft. Das Mädchen Bethli nimmt diese noch so gerne an. «Aber ich schäme mich nicht dafür. Es ist Teil meiner Vergangenheit.»

Mit der Zeit seien ihr immer mehr Textpassagen schräg vorgekommen: «Es fiel mir auf, wie Frauen in vielen Texten verniedlicht und objektifiziert werden». Heute wolle sie ausschliesslich Texte singen, hinter denen sie zu hundert Prozent stehen könne. «Ich will keine Musik fürs Museum machen, sondern Texte, die nahe an meiner Generation sind.» Es seien nicht mehr die Zeiten, wo ein Bub bei einem Mädchen ans Fenster klopft und um einen Kuss bittet. «Heute lernen sich die Menschen auf Tinder kennen.»

Erstmals mit Volksmusik in Berührung kam Simone Felber bei ihren Grosseltern, wo im Radio stets die «Musikwelle» lief, der SRF-Sender für volkstümliche Unterhaltungsmusik. Im Gymnasium hat sie dann erstmals gejodelt und mit ihrer Mutter besuchte sie ab und zu Konzerte, etwa von der Jodlerin Nadja Räss, die später ihre Gesangslehrerin und Mentorin wird.

Zum Jodeln durch die Liebe

So richtig zum Jodeln kam sie aber erst «durch die Liebe». Während des Studiums lernt sie ihren heutigen Lebenspartner Adrian Würsch kennen, der mit Volksmusik aufgewachsen ist. Durch ihn hat sie gemerkt, dass diese Gesangstechnik zu ihr passt. «Der klassische Gesang hat sich oft aufgesetzt angefühlt.» Beim Jodeln sei das nie so gewesen. «Das Spezielle am Jodeln ist diese archaische Stimmung, die es transportiert. Es ist sehr eigen, es löst immer etwas aus. In mir, aber auch beim Publikum.»

Als Simone Felber 2012 beginnt, klassischen Gesang zu studieren und Jodeln als Nebenfach belegen will, wird das erst abgelehnt und erst im letzten Semester bewilligt. «Ich bin im akademischen Umfeld auf sehr viel Widerstand gestossen.» Sie spürte immer wieder die Arroganz der klassischen Musik anderen Stilrichtungen gegenüber. Sie habe die Volksmusik gegen aussen stets verteidigen müssen. «Zu einem Zeitpunkt, als ich mich in diesen Kreisen selbst nicht mehr wohl gefühlt habe.»

Mit diesen Kreisen meint sie die Traditionalist:innen und deren Feste, allen voran das erwähnte Eidgenössische Jodlerfest, das alle drei Jahre stattfindet. Die dreitägigen Vorführungen werden von einer Jury bewertet. Zur letztjährigen Ausgabe in Zug kamen neben 15 000 Mitwirkenden auch um die 200 000 Gäste.

«Was die machen, ist eine Verhunzung des Brauchtums»

Fragt man dort nach Simone Felber und dem «Echo vom Eierstock» haben alle – zumindest von ihrem feministischen Jodelchor – schon etwas gehört. «Was die machen, ist eine Verhunzung des Brauchtums», sagt ein Dirigent und Leiter eines Kinderchores. «Es gibt Texte, die grenzwertig sind, aber ich würde nie im Leben auch nur eine Zeile davon ändern. Und wenn sie in Tracht auftreten, dann finde ich das noch viel schlimmer.»

Eine Jodlerin, die in Zug am Festakt auf der Bühne stand, sagt: «Ich habe mich als Jodlerin noch nie von einem Text angegriffen gefühlt. Ich fühle mich in der Volksmusik als Frau sehr wohl. Was mich stört sind genau solche Frauen, die mir sagen, dass ich mit meinen traditionellen Werten falsch liege.»

«Es ist auch mutig, was diese Frauen machen»

Ein anderer Jodler, der seit seiner Kindheit im Chor singt, ist unsicher, was er vom «Echo vom Eierstock» halten soll. Mit vierzig Jahren ist er der jüngste der Truppe. Nachwuchs sei keiner in Sicht. «Deswegen frage ich mich manchmal, ob es richtig ist, wenn wir auf unseren alten Traditionen hocken bleiben.» Es sei aber nun mal so, dass jede Veränderung auch Angriffsfläche biete. «Es ist auch mutig, was diese Frauen machen.»

Szenenwechsel zum «Festival des Arcs» in Baden. Simone Felber spielt «Jodelfäscht», einen Song der aktuellen CD. «Meitschi bes lieb und Meitschi bes loschtig. Und Meitschi heb Loscht, wenn de Schatz grad Loscht het. Sing üs es Lied, aber bitte es loschtigs, will Mäinig macht Musig und Musig macht Mäinig.» Das Lied klingt so, wie ein klassisches Jodellied klingt.

So, wie man es sich vorstellt, wenn man Musikwelle von Radio SRF hört. Das Lied besteht aus drei Strophen mit anschliessendem Jodel als Refrain. In Simone Felbers Fall ist nur der Text etwas ungewohnt. «Meitschi bes brav und Meitschi bes apasst. Und Meitschi bes agleiht, wies üs do passt. Und sing üs es Lied, aber bitte es apassts, will Mäinig macht Musig und Musig macht Mäinig.»

Die Lieder für die neueste Platte von «hedi drescht» hat Simone Felber mit Lukas Gernet komponiert. Beim Songwriting unterstützte sie zudem der Luzerner Dramaturg, Sänger und Songwriter Béla Rothenbühler. Er habe sich als Volksmusik-Laie erst durch die Zusammenarbeit mit Simone mit den frauenverachtenden Liedtexten auseinandergesetzt und sagt: «Ich würde so weit gehen, einigen Schweizer Volksliedern eine gewisse Rape Culture vorzuwerfen. Sätze wie ‹Meitschi, jetz tue ned so› sind wahnsinnig häufig.» Er hofft, dass Simones Ansatz, die Volksmusik-Szene innerhalb ihrer eigenen Kunstform zu kritisieren, Erfolg haben wird. «Das ist vielversprechender, als wenn man den gleichen Text beispielsweise mit einer Rockband vertont, die niemals an ein Volksmusik-Festival eingeladen würde.»

Progressivität hat keinen hohen Stellenwert

Wie stehen die Chancen, dass sich die Jodlerszene modernisiert? Und dass eine Künstlerin wie Simone Felber nicht mehr als Nestbeschmutzerin, sondern als Wegbereiterin gesehen wird? Dieter Ringli lehrt Musikethnologie an der Zürcher Hochschule der Künste und hat das Buch «Schweizer Volksmusik – von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart» publiziert. Er sagt, viele Jodler:innen sähen ihre Kunst als Schweizer Kulturgut, es gehe ihnen um Identität und Heimat. Texte abzuändern sei sehr verpönt. «In anderen Musikrichtungen, wie beispielsweise dem Jazz oder Pop, geht es um Innovation.» In der Jodlerbewegung aber habe Progressivität keinen hohen Stellenwert. «Das Bewahren ist wichtiger als die Weiterentwicklung.»

Interessant sei, dass Simone Felber als Jodlerin genau das sei, was der Jodlerverband im Grunde suche. «Ihre Stimme ist sehr gut ausgebildet und klassisch geprägt.» Das entspreche den Idealen des Verbandes, zudem mangle es der Szene an Nachwuchs. Er ist überzeugt, dass der Jodlerverband und seine Reglemente je länger je mehr an Bedeutung verlieren werden. Es gebe eine immer breitere Szene, die sich nicht an dessen Richtlinien halte, Chöre, die zwangloser agieren. Er ist überzeugt, dass die Volksmusik langfristig nur existieren kann, wenn neue Formen und Inhalte gefunden werden. «Es können nicht auf alle Ewigkeit aus der Zeit gefallene Rollenmuster und Werte zelebriert werden. Insofern ist Simone Felber eigentlich ein Glücksfall für die Tradition.»

Engagements abgesagt wegen ihrer Haltung

Simone Felber, die während des Gesprächs im «Neubad» stets schnell und mit ansteckender Begeisterung gesprochen hat, wirkt jetzt müde. Ist ihr der Aktivismus manchmal auch zu anstrengend? Sie lacht. «Eine junge, linke Frau, die den Sexismus in der Volksmusik bekämpfen will – ja, das gibt viel Publizität.» Wegen ihrer klaren Haltung seien auch schon Engagements abgesagt worden. So hätte sie kürzlich einen Workshop für einen Jodelchor leiten sollen. Dann habe man sie wieder ausgeladen, weil man «jemand passenderen gefunden habe». Womöglich jemanden, der die Traditionen nicht so sehr infrage stelle.

Mit dem «Echo vom Eierstock» hat sie viel Staub aufgewirbelt. «Wir haben eine Bombe gezündet, die erstmal dazu geführt hat, dass alle in Deckung gehen.» Nun brauche es Zeit, bis eine Annäherung stattfinden könne. «Die krasse Abneigung mancher Menschen hat viel mit Angst zu tun. Angst, dass wir etwas kaputt machen, das sie seit Jahren pflegen.» Dabei schätze und liebe auch sie viele der Traditionen der Volksmusik. «Aber man muss Traditionen anpassen, damit sie überleben können. Ich hoffe, dass schon bald nicht mehr alle an Konservatismus denken, wenn sie das Wort jodeln hören. Dass wir diesen aufbrechen – und überwinden können.»

«So etwas habe ich noch nie gehört»

Deshalb exponiere sie sich auch in beiden Welten: in jener der Volksmusik und in der urbanen Welt, wo das Jodeln nicht geläufig ist. Wie am «Festival des Arcs», wo sie nach dem Konzert von einigen Besucher:innen angesprochen wird. «So etwas habe ich noch nie gehört. Ich wusste nicht, dass Jodeln auch so klingen kann», sagt ein junger Mann. «Was für eine schöne Stimme», sagt eine andere. Simon Felber bedankt sich und sagt: «Wir treten selten vor so jungem Publikum auf. Es ist schön, zu merken, dass auch sie Freude an dieser Art von Musik haben.»

Vielleicht könne sie irgendwann auch auf solchen Bühnen eine Tracht anziehen, sagt sie später. «Das ist mein ultimatives Ziel, dass ich an Konzerten eine Tracht – ein Kleidungsstück, das ich eigentlich mag – anziehen kann und nicht mehr als konservativ gelesen werde.»

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