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Sind wir wirklich alle traumatisiert?

Sind wir wirklich alle traumatisiert?

Redaktorin Esther Göbel hört zurzeit überall von Trauma – und plädiert in ihrem Kommentar für einen sorgsamen Umgang mit dem Begriff.

Ich weiss nicht, wann genau es angefangen hat. Aber irgendwann fiel es mir auf. Dieses eine Wort, das mir nicht nur auf Social Media seit geraumer Zeit immer öfter begegnet, sondern auch in klassischen Medien und sogar in Gesprächen mit Freundinnen: Trauma.

Wir scheinen heute in einer kollektiv traumatisierten Gesellschaft zu leben, zumindest dem inflationären Gebrauch des Wortes nach zu urteilen. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache misst die Häufigkeit verschiedener Begriffe von 1946 bis in die Jetztzeit. Dabei wird untersucht, wie oft ein Begriff in 48 überregionalen deutschsprachigen Medien in jedem Jahr auftaucht. Heraus kommt eine Verlaufskurve – die für das Wort Trauma über die Zeit kontinuierlich ansteigt, um gerade in den vergangenen Jahren sprunghaft nach oben zu schiessen.

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"Diese Pathologisierung kann zu einem Opferstatus führen"

Alle sind heute irgendwie traumatisiert. Weil ein Mann auf der Strasse einem einen anzüglichen Kommentar hinterhergerufen hat. Weil die Mutter früher zu streng war. Weil der Chef seine Kritik zu harsch formuliert hat. Oder einfach, weil man eine Frau ist. So schrieb die Kolumnistin Tara Louise-Wittwer in einem Text auf Spiegel Online jüngst über das virale Hashtag "Women in Male Fields": "Frauen arbeiten kollektive Traumata auf." Aha. Ich wusste gar nicht, dass ich unter einem Trauma leide, nur, weil ich eine Frau bin.

Zwar ist es gut und wichtig, dass Themen wie Angststörungen, Depressionen oder eben traumatische Ereignisse heute offener besprochen werden. Und natürlich stellt es eine Grenzüberschreitung dar, wenn ein Mann einen verbal belästigt oder die Chefin einen anbrüllt. Mit einem Trauma haben solche Situationen aber nichts zu tun.

"Ein Trauma (griechisch für Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur", schreibt die Deutsche Traumastiftung. Prädestiniert für ein Trauma und deren Folgen sind etwa Soldat:innen, die aus dem Krieg zurückkehren, Geflüchtete, Personen, die Gewaltverbrechen ausgesetzt waren oder jahrelangem Missbrauch, sowie Unfallopfer.

Eine schleichende Verschiebung

Ursprünglich wurde der Begriff im 19. Jahrhundert auf Hirnverletzungen bei Soldaten angewandt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte er in die Psychologie. Heute jedoch wird er beliebig über negative Erfahrungen gestülpt. Der australische Psychologe Nick Haslam nennt diese Begriffsdehnung "Concept Creep", was so viel heissen soll wie eine schleichende Verschiebung.

Warum das problematisch ist? Weil das im Alltag so schnell gebrauchte Wort dem handelnden Subjekt quasi die Eigenverantwortung abspricht. Diese Pathologisierung kann zu einem Opferstatus führen, getreu dem Motto: "Ich kann dies oder jenes nicht tun, weil ich unter einem Trauma leide." Dieser laxe sprachliche Umgang aber ist ein Hohn gegenüber all jenen, die wirklich unter einem traumatischen Ereignis und dessen Folgen leiden. Dabei brauchen gerade sie unsere Anerkennung und unser Mitgefühl. Für alle anderen aber gilt: Trauma ist kein Lifestyle.

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Paprika

wenn mein Vater schwerstalkoholiker (Wutanfälle, Brutalität, aggressiv, verbale Erniedrigungen) bis kurz vor seinem Tode war, darf ich sagen, dass ich eine traumatisierende Kindheit gehabt habe?