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Als ich in Kalifornien sah, wie das Meer verschwand

Reisen

Als ich in Kalifornien sah, wie das Meer verschwand

Autorin Lea Catrina erlebte hautnah, wie das Virus die amerikanische Westküste ins Wanken brachte. In einem Bericht teilt sie ihre Erfahrungen aus dieser Zeit – bis zur verfrühten Rückreise in die Schweiz.

Es ist der 12. März 2020, als unser Flug in San Francisco landet. Dass wir einen Teil des Jahres in Kalifornien verbringen, ist nicht ungewöhnlich. Lucas, mein Mann, ist Software-Entwickler bei einer Firma, die hier eine Niederlassung hat. Ungewöhnlich ist die Pandemie. In wenigen Tagen wollen die USA die Grenzen schliessen, weil sich die Lage in Europa rapid verschlechtert. Auf der kurzen Fahrt vom Flughafen nach Redwood City weiss ich nicht, ob es richtig war, trotzdem zu kommen. Ich weiss nur, dass unsere Möbel in Zürich eingelagert sind und die Post umgeleitet ist. Und dass die Hügel entlang des Freeway noch nie so grün waren.

Im Backyard unseres Nachbarn Nick steht das kleine Haus, in dem wir die nächsten Monate wohnen werden. «Hi! How are you?», ruft uns Nick zu, die Airpods in den Ohren, das jüngste seiner Kids am Bein, als wir unsere Rollkoffer an ihm vorbeischleppen. «All good, thanks. You?» Das werden wir uns von nun an täglich sagen. Immer wird alles good sein. Manchmal auch great, je nachdem, wie das Wetter ist.

Ein kaltes Bier, ein erstes Aufatmen

Die Fallzahlen, die «Cases», wie es von nun an heisst, sind niedrig in der San Francisco Bay Area. Dass sich etwas zusammenbraut, wird jedoch schnell klar. Am Samstag nach unserer Ankunft besuchen wir die anderen Expats, die für das gleiche Unternehmen arbeiten, im sogenannten Frat House. Es ist nur zwei Strassen entfernt und die WG für alle, die ohne Begleitung zur Auslandschicht angereist sind. Im halbleeren Bio-Supermarkt haben wir Würste und Halloumi gefunden, die nun zusammen auf dem Grill brutzeln.

Ein kaltes Bier, ein erstes Aufatmen, dann die Nachricht: Ab Dienstag gilt «Shelter-in-Place» für die ganze Region. Heisst: Zuhause bleiben, um sich und andere zu schützen. Am 17. März, als die Verordnung in Kraft tritt, werden im Staat Kalifornien 126 Neuansteckungen gemeldet. Die meisten der Gruppe fliegen zurück. Lucas und ich sowie ein anderes Paar, das ebenfalls gerade erst angekommen ist, beschliessen zu bleiben. «In der Schweiz erwartet uns das Gleiche», sprechen wir einander Mut zu.

Lieber nicht allein zuhause bleiben

Lucas bestellt einen Schreibtisch, damit ich zuhause arbeiten kann. An meinen Textaufträgen, an meinem nächsten Buch. Schreiben ist allerdings das Letzte, woran ich gerade denke.

Dann ist das Frat House leer. Da es so nah liegt und mit einem Büro ausgestattet ist, arbeitet Lucas von nun an dort. Meistens begleite ich ihn, da ich es allein nicht aushalte. Ich richte mich auf dem Sofa ein, sehe mir alle sieben Staffeln der «Great British Baking Show» an. Zwischendurch versuche ich zu arbeiten. Manchmal auch zu lesen, was mir so schwerfällt wie nie zuvor. Ich bestelle mir die Lululemon Wunder Under Leggings in der Farbe True Navy. Vielleicht wegen dem Wort «Wunder». Dann sehe ich in den Spiegel und frage mich: Ist das alles, was du tun kannst?

15 Prozent Arbeitslose innerhalb weniger Wochen

Ich backe Zitronen-Muffins. Mittlerweile gilt Maskenpflicht für alle Innenräume und auch für draussen, falls der Abstand nicht eingehalten werden kann. Jogger tragen Masken. Spaziergänger tragen Masken. Menschen wechseln die Strassenseite, um einander nicht kreuzen zu müssen. Sie winken, lassen ein Lächeln erkennen, manchmal gibt es ein Peace-Zeichen oder einen «I’m smiling»-Zuruf. Parks und Strände sind gesperrt. Bewegen darf man sich nur in einem Zehn-Meilen-Radius.

Innerhalb weniger Wochen sind fast 15 Prozent der US-Bevölkerung arbeitslos. Die meisten von ihnen haben keine Krankenversicherung mehr, da diese an den Job gebunden ist. Ein Mietmoratorium soll verhindern, dass sie auch noch ihr Zuhause verlieren. Schon vor einem Jahr hatte Nachbar Nick in Shorts und Flipflops gesagt: «Es gibt nur noch Reiche und Arme in der Bay Area.» Die Mieten sind so hoch, dass selbst Techies, die es im Silicon Valley zuhauf gibt, sie sich kaum noch leisten können. Auch Nick ist ein Techie, einer der ersten Generation. Vor seinem Haus stehen drei Autos. Das neueste: ein Tesla Model X, True Navy.

«Es ist, als wäre auf der ganzen Welt Krieg»

Meine Eltern sind besorgt über die steigenden Fallzahlen in den Vereinigten Staaten. «Uns geht es gut», sage ich. Es ist alles, was sie hören müssen. Seit Ostern sei Flims überfüllt, sagt meine Mutter. «So extrem war es noch nie.» Ich will nachhause. Doch das sage ich nicht. Stattdessen erzähle ich ihnen vom Lake Tahoe, wo Tagestouristen aktuell eine Busse von tausend Dollar erwartet.

«Es ist, als wäre auf der ganzen Welt Krieg», heule ich später auf dem Badezimmerboden. Lucas kniet sich zu mir und sagt: «Wir sind alle auf der gleichen Seite.» Schlafen kann ich in dieser Nacht nicht. Eigentlich checken wir die News nur morgens, beim ersten Kaffee, so unsere Abmachung. Doch um zwei Uhr nachts halte ich mich für einmal nicht daran. In einem Artikel des «San Francisco Chronicle» wird empfohlen, neben den Corona-Vorsichtsmassnahmen nun auch Vorkehrungen für Erdbeben zu treffen. The Big One ist überfällig.

Das Highlight der Woche

Die Checkliste: Schuhe unters Bett, eine Tasche mit Kleidung, Essen und Wasser für drei Tage packen. Dazu eine Taschenlampe, Streichhölzer, Medikamente sowie ein Erste-Hilfe-Paket. Ich habe das Gefühl, der Boden schwankt.

An den Wochenenden treffen wir uns jetzt im leeren Haus mit unseren Freunden Marko und Justyna, die ebenfalls in Redwood City geblieben sind. Es ist das Highlight der Woche, für das ich meine Jeans raushole und Mascara auflege. Wir trinken Wein, bestellen chinesisches Essen und spielen «Cards against Humanity». Es tut gut, zu lachen, die Zeit und das Chaos zu vergessen. Gemeinsam zerbrechen wir Glückskekse.

Alles unter Kontrolle, sagt Trump

Morgen ist Lucas’ Geburtstag. «Was willst du unternehmen?», frage ich. «Ich will Bäume sehen», sagt er, ohne nachzudenken. Die Parks und Parkplätze sind immer noch geschlossen. «Da ist doch dieser Kreisel», erinnert er sich. Mit dem Velo brauchen wir nur wenige Minuten. Der Kreisel ist gross, ein kleiner Tannenwald hat darauf Platz. Redwood-Tannen. Lucas legt beide Hände auf einen Stamm und blickt in die Krone. Ich wische eine blöde Träne weg, die niemand sieht. Es ist nur ein Geburtstag, es ist nur eine Tanne, will ich denken. Wieder habe ich das Gefühl, der Boden schwankt.

Später kaufen wir Steaks und Chips. Tabs für den Geschirrspüler. Eine junge Frau spricht uns auf dem Parkplatz an. Sie fragt nicht nach Geld, sondern nach Essen. Präsident Trump spekuliert darüber, ob die orale Einnahme von Desinfektionsmittel eine Lösung gegen das Virus wäre. Die steigenden Fallzahlen seien nur auf vermehrte Tests zurückzuführen, meint er. Seiner Meinung nach ist alles unter Kontrolle.

Der Kloss in meiner Magengrube

In Amerika angestellte Arbeitskollegen von Lucas erhalten im Rahmen des Stimulus-Pakets unaufgefordert Geld, samt Begleitbrief und Trumps machthungriger Unterschrift. Sie spenden das Geld. Die Corona-Task-Force in der Schweiz diskutiert unterdessen weiter, ob Masken sinnvoll sind.

Schreiben kann ich nur nachts. Motoren und Sirenen heulen auf. Irgendein Spassvogel zündet einen Böller, der die Auto-Alarmanlagen anspringen lässt. In der Schweiz ist es neun Uhr morgens. Ich glaube mittlerweile zu wissen, woher er kommt, der Kloss in meiner Magengrube. Während ich auf eine Nachricht meines Bruders antworte, dämmert es mir. Es ist Trauer. Darüber, wie das Leben war, aber vielleicht nie wieder sein wird. Die Menschen, die brutal und einsam sterben. Die Hilfslosigkeit aller, die versuchen zu helfen. Und ich drehe und wende mich in der Blase meiner Privilegien.

«AVOID NON-ESSENTIAL TRAVEL»

Anfang Mai informiert mich meine Verlegerin, dass mein Debütroman auf nächsten Frühling verschoben wird. Hochzeiten werden verschoben. Reisen. Nur Geburten lassen sich nicht verschieben. Zwei meiner Freundinnen gebären in den nächsten Monaten ihr erstes Kind. Im Dunkeln stelle ich die Abfalltonnen raus. Vorn an der Strasse wohnt seit einer Woche ein Mann in seinem Bus. Uringeruch neben dem Sternjasmin.

Unser Hochzeitstag fällt auf das Memorial Day Weekend. Nachbar Nick hat eine aufblasbare Wasserrutschbahn für seine Kids bestellt. Sie füllt den ganzen Garten und ist so hoch wie unser Haus. Nach zweieinhalb Monaten in Kalifornien fahren Lucas und ich zum ersten Mal ans Meer. «AVOID NON-ESSENTIAL TRAVEL», zieht eine Anzeigetafel vorbei.

Irgendwo kreisen weisse Haie

Am Half Moon Bay State Beach ist das Mikroklima kühl. Ich liebe das raue Wetter, die felsige Küstenlinie. Den Gedanken, dass irgendwo da draussen weisse Haie kreisen. Heute scheint die Sonne. Ich atme die salzige Luft ein, schlüpfe aus meinen Sandalen und spüre den heissen Sand unter meinen Füssen. Eine schaumige Welle schwappt bis über meine Knie, über die neuen Leggings.

Einen Tag danach, am Montag, dem 25. Mai, wird George Floyd von vier Polizeibeamten während acht Minuten und 46 Sekunden ermordet.

Wohnungssuche in der Schweiz

Welpen taumeln über den Kunstrasen. Nick und seine Familie haben sie hinter einem Restaurant gefunden. Sie behalten Oreo, Fudge, Dolce und Peanut, bis die vier winzigen dänischen Doggen ein Zuhause gefunden haben.

Auch Lucas und ich sind auf der Suche nach einer neuen Bleibe – in der Schweiz. Langsam beginnen die Unruhe und die Unsicherheit an uns zu nagen. Das Vertrauen in die zuständigen Behörden schwindet, denn die anfangs transparente Kommunikation wird immer spärlicher. Die Bundesregierung giesst weiter Öl ins Feuer: Die Zahl der Todesfälle steigt in den USA auf 100 000. Und Präsident Trump kündigt den Austritt aus der WHO an.

Rückflug zweimal gecancelt

Lucas soll zudem bald Patenonkel werden, wie er erst kürzlich erfahren hat. «Ich will da sein, wenn das Baby kommt», sagt er. Wir buchen unseren Rückflug, der noch zweimal gecancelt und schliesslich auf den 1. Juli fallen wird. Der Zürcher Wohnungsmarkt scheint unter der Corona-Krise wenig zu leiden. Wir haben Glück und werden fündig.

Um den Mietvertrag auszudrucken, fahren wir ins Office. Ein obdachloses Paar hat sich auf dem überdachten Sitzplatz vor dem Eingang eingerichtet. Sie grüssen freundlich. Wieder spüre ich diesen Kloss in meinem Bauch.

Jedes zweite Haus steht zum Verkauf

In der Innenstadt sind alle Geschäfte mit Spanplatten verbarrikadiert. «Land of the Free», steht auf einer, «We’re open», auf einer anderen, neben dem kaum erkennbaren Starbucks-Eingang. Mein Handy vibriert: Ausgangssperre wegen der Demonstrationen. Das ganze Land bäumt sich auf – gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus, gegen das System. Black Lives Matter.

Mitte Juni steht in unserer Strasse jedes zweite Haus zum Verkauf. Doch es gibt erste Lockerungen der Restriktionen und wir wagen einen Ausflug in den Sequoia-Nationalpark. Es ist 42 Grad heiss. Der Nadelwald duftet so intensiv durch meine Maske, dass ich hoffe, der Geruch bleibt haften.

Zuwinken anstatt umarmen

Bald werden wir ungläubig durch den Zürcher Flughafen gehen, weil keiner eine Maske trägt. Wir werden staunen über volle Restaurants, Bars, über die befremdliche Gelassenheit und uns nach der Klarheit des Corona-Alltags in Kalifornien sehnen. Vom Wohnzimmerfenster meines Bruders aus werde ich meiner Mutter zuwinken, anstatt sie zu umarmen, und dabei fast auseinanderbrechen.

Im Februar soll es zurück nach Amerika gehen. Aber wer weiss schon, was im Februar ist. Jetzt bin ich hier. Jetzt lege auch ich meine Hände auf die weiche Rinde einer Sequoia-Tanne. Um zu überleben, brauchen sie die Zerstörung des Feuers. Während kleine Bäume wehrlos lodern, bleiben die Riesen unversehrt.