Werbung
Bitte halt mich: Von der schwierigen Suche nach meinem perfekten BH

Shopping

Bitte halt mich: Von der schwierigen Suche nach meinem perfekten BH

Rund achtzig Prozent aller Frauen kennen ihre BH-Grösse nicht. Unsere Autorin gehört dazu. Sie macht sich auf die Suche nach dem perfekten BH. Von Körbchen, Bändern, Schalen – und Selbstbewusstsein.

In der siebten Klasse nannte mich ein Junge auf dem Pausenplatz «Tittenmonster».

Meine Brüste wuchsen früher und schneller als die der anderen Mädchen. Während sich meine Freundinnen Push-up-BHs mit Rüschen und Spitze dran kauften, um sich ein bisschen erwachsener zu fühlen, trug ich die Sport-BHs von Tchibo, um ein bisschen weniger zu wackeln, wenn wir Fussball spielten.

In Mädchenzeitschriften las ich Tipps und Tricks, die dabei helfen sollten, heranwachsende Brüste grösser wirken zu lassen. Dabei sehnte ich mich eher nach Ideen, wie ich meine Brüste schrumpfen lassen könnte. Wenn ich bei H&M nach Unter- wäsche suchte, dann fühlte ich mich wirklich wie ein «Tittenmonster», ein Freak, der in keine der zwanzig vorgegebenen Masse passte.

Es erschien mir damals wie ein schlechter Witz: Von Frauen wurde erwartet, dass sie grosse Brüste hatten, aber niemand machte sich die Mühe, grosse BHs zu produzieren.

Werbung

«Ich bin jetzt dreissig und habe mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht, mich ein bisschen für meine Oberweite zu schämen»

Die Sache mit den BHs verfolgt mich, seit ich Brüste habe. Ich bin jetzt dreissig und habe mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht, mich ein bisschen für meine Oberweite zu schämen. Bis vor ein paar Monaten wusste ich noch nicht einmal, welche BH-Grösse mir wirklich passt. Damit gehöre ich zu einer überwältigenden Mehrheit der Frauen weltweit. Die Zahlen gehen auseinander, aber Schätzungen zufolge kennen rund achtzig Prozent aller Frauen ihre BH-Grösse nicht.

Alle Körperformen kann man mit standardisierten Grössen im Wäschebereich natürlich nie abdecken. Aber zu schmale BH-Träger können auf Nerven und Muskeln drücken, besonders bei grösseren Brüsten. Ein zu enger BH schränkt die Atmungsfreiheit ein, was zur Verkrampfung der Bauchmuskeln führen kann. Ein schlecht sitzender BH kann also neben ästhetischen Problemen auch zu Kopfschmerzen, Rückenleiden oder Verdauungsproblemen führen. Das bestätigt unter anderem eine Studie des Wäschehändlers Lascana.

Ich habe meine BH-Grösse lange Zeit unterschätzt. Obwohl die BHs, die ich trug, immer klemmten und ich dauernd damit beschäftigt war, meine Brüste zurück in die Cups zu quetschen, war ich überzeugt davon, ich hätte eine 75 C. Der Grund dafür war zum einen der, dass es etwas Grösseres in vielen Läden gar nicht gab.

Werbung

«Wenn ich auf Dating-Apps schrieb, ich hätte eine 75 C, bekam ich lauter euphorische Ausrufezeichen zurück»

Zum anderen war ich mit Mitte zwanzig auf Dating-Apps unterwegs, wo mich Typen manchmal nach meiner Körbchengrösse fragten. Wenn ich dann schrieb, ich hätte eine 75 C, bekam ich lauter euphorische Ausrufezeichen zurück. Ich glaube, auch für viele Männer gibt es etwas Grösseres als ein C-Körbchen nur in Pornos.

Vor allem aber lernte ich, dass meine BH-Grösse nicht nur mein eigenes, privates Thema war, sondern etwas, worüber sich auch andere eine Meinung bilden durften, sei es auf dem Schulhof, beim Dating, im Schwimmbad oder auf Social Media. Brüste sind vermutlich das sichtbarste Symbol der Weiblichkeit.

«Frauen definieren sich sehr über ihre Brüste», sagt Marita Stengle. Sie ist Fachärztin für plastische Chirurgie am Inselspital in Bern und sowohl für ästhetische als auch rekonstruktive Operationen zuständig. Brüste machen ungefähr sechzig Prozent von Stengles Arbeit aus. Darunter sind viele Frauen, die nach einer Brustkrebsoperation ihre Brüste mit Eigengewebe wieder auf bauen möchten oder Implantate brauchen.

Andere Frauen haben ungleichmässig grosse Brüste und möchten sie gerne straffen oder vergrössern. «Es gibt zwei Peaks für Korrekturwünsche», beobachtet Stengle. «Der eine ist mit Anfang zwanzig und oft rein ästhetischer Natur, weil Form oder Grösse als nicht ideal empfunden werden. Der andere Peak ist etwa mit vierzig. Die Nachwuchsplanung ist abgeschlossen und die Brüste sind nicht mehr so, wie sie mal waren – oder es ist fast gar keine Brust mehr da.»

«Eigentlich würde ich bloss gerne an ein bisschen Stoff kommen, der meine Brüste einigermassen in Position hält»

Ich kenne Frauen, die gezielt Ausschnitt tragen, damit ihnen in Clubs alle Drinks bezahlt werden. Ich kenne auch Frauen, die immer nur weite T-Shirts anziehen, weil ihnen die Aufmerksamkeit unangenehm ist. Ich stehe irgendwo dazwischen. Eigentlich würde ich bloss gerne an ein bisschen Stoff kommen, der meine Brüste einigermassen in Position hält – ohne mir dabei das Blut abzuschneiden.

Vielleicht ja hier, im kleinen BH-Fachgeschäft Le Buste Bra Fitting in der Zürcher Gemeinde Rafz, nahe der deutschen Grenze. «Viele Frauen, die zu mir kommen, sagen als Allererstes: ‹Ich hasse es, BHs zu kaufen!›» Joanna Krasuska lacht und schenkt Grüntee ein. Es ist ein kleiner Raum, zwanzig Quadratmeter vielleicht, warmes Licht, weiche Teppiche.

Joanna Krasuska versteht die Frauen. Sie erzählt, dass manche von ihnen sogar blaue Flecken haben, weil ihre BHs eine völlig falsche Passform haben. «Bevor ich zum ersten Mal einen BH fand, der richtig sass, trug ich oft zwei BHs übereinander», erinnert sie sich. «Oder ich zog ein T-Shirt unter den BH, um zu verhindern, dass er verrutschte.»

«Es sind nicht nur Frauen mit grossen Brüsten, die es bei der BH- Suche schwer haben»

Ihr Geschäft sei eine Antwort auf den Mangel an Angeboten von Nicht-Normgrössen und individueller Beratung hierzulande. Am Anfang machte Krasuska das Bra-Fitting in einem Zimmer bei sich zu Hause für Freundinnen und Nachbarinnen. Die Nachfrage war aber bald so gross, dass sie vor rund drei Jahren ein eigenes Geschäft eröffnete.

«Ich möchte, dass keine Frau in einem Geschäft jemals wieder hören muss: ‹Es tut uns leid, aber wir haben Ihre Grösse nicht›», sagt sie. «Die Grössen sind vorhanden, man muss sie nur anbieten.» Nun sie darum auch Schulungen zum Thema Bra-Fitting anbieten. Während viele Läden höchstens vierzig Grössen in ihrem Sortiment führen, bietet Joanna Krasuska 150 an.

Das Problem mit den BHs spannt sich über die Generationen. Joannas jüngste Kundin war 14, ihre älteste 93 Jahre alt. «Neulich habe ich eine Frau beraten, die zu mir sagte: ‹Ich bin jetzt siebzig, und das ist das erste Mal, dass ich einen BH trage, der sitzt!›» Joanna Krasuska sagt: Keine Brust sei so gross oder unförmig, dass es nicht den passenden BH für sie gäbe.

Es sind aber gar nicht nur Frauen mit grossen Brüsten, die es bei der BH- Suche schwer haben. «Frauen mit einem sehr schmalen Unterbrustumfang etwa haben oft das Problem, dass selbst der kleinste BH zu locker sitzt.» Beim richtigen BH verläuft das Unterbrustband in einer Geraden um den Körper und wird am Rücken nicht nach oben gezogen. Es trägt achtzig Prozent des Gewichts, nur zwanzig Prozent liegen auf den Trägern.

Auch ich suche den richtigen BH bei ihr, das Interview mit Joanna Krasuska führe ich grösstenteils oben ohne. Sie legt ein Messband direkt unter meine Brust und misst. 75 Zentimeter. Krasuska schnalzt nachdenklich mit der Zunge. «Ein BH mit dem exakten Umfang 75 dehnt sich und wird dir sofort zu locker», sagt sie. «Es ist besser, mindestens fünf Zentimeter weniger zu nehmen.» Eine siebzig in der Unterbrustweite also.

«Mit jedem BH, den ich anprobiere, wird mir ein bisschen bewusster, wie gut meine Brüste eigentlich aussehen können»

Joanna Krasuska macht sich eine Notiz, dann legt sie das Messband um den Maximalumfang meiner Brüste. 91 Zentimeter. Diese Zahl legt die Körbchengrösse fest. Alle Herstellungsfirmen definieren diese ein bisschen anders, aber eine C sucht Krasuska trotzdem nicht raus. Stattdessen bringt sie mir D-, E- und F-Modelle und mit jedem BH, den ich anprobiere, wird mir ein bisschen bewusster, wie gut meine Brüste eigentlich aussehen können.

In dem dunkelblauen BH stehen sie leicht zur Seite ab, in dem lilafarbenen kriegen sie eine nach vorn gerichtete Spitze, das rosa Modell macht sie rund und mittig. Joanna Krasuska rät mir, die Haut an der Seite von der Achsel weg nach vorne zu straffen und dort das Körbchen zu platzieren. «Die Brust beginnt viel weiter hinten, als Frauen oft denken», erklärt sie. «Da kannst du ruhig ein bisschen büschele!»

Siebzehn Jahre lang habe ich mich mit der Erklärung abgefunden, dass es den perfekten BH eben einfach nicht gibt. Dabei könnte es ihn geben. In der Hochschule der süddeutschen Stadt Reutlingen zeigt mir Textilwissenschaftlerin Elena Brake den Prototyp eines Avatarbusens auf einem Bildschirm. Er ist wie ein Koordinatensystem mit verschiedenen Punkten versehen: Brustkorbmitte, unterer Brustansatzpunkt, mittlerer Brustansatzpunkt, oberer Brustansatzpunkt, Brustmitte, Brustwarze.

Elena Brake arbeitete von 2019 bis 2021 an dem Forschungs­projekt Your Bra in Zusammenarbeit mit der Ava­lution GmbH. Ihr Ziel war es, einen automatisierten Prozess für massgeschneiderte BHs zu entwickeln. Dafür wurden die Brüste von 500 Probandinnen mit einem 3D-­Scanner erfasst. Eine Software wertete die Daten im Anschluss aus und lieferte die exakten Masse, die ein BH für jede der teilnehmenden Frauen haben musste.

«Eine einzelne Brust kann bis zu zweieinhalb Liter Volumen haben»

Der Computer kann sich in seinen Berechnungen aber nicht an den Brustform­ Vorlieben jeder einzel­nen Person orientieren. Stattdessen geht er von einem von der Schönheitschirurgie vordefinierten Ideal aus. Als Standard gilt, dass 45 Prozent des Gesamt­volumens der Brust über der optischen Brustmitte und 55 Prozent darunter liegen. Der Computer versucht nun, die Brust so zu bekleiden, dass sie diesem Schönheitsideal entspricht.

Dafür hat er von jeder Frau insgesamt 23 Daten vermessen. Brustvolumen, Umfangslinie der Brustwarze, Länge der vorderen Brustkorbweite, Abstand zwischen Brustumfang und Unterbrustumfang und so weiter. Dazu kommen wei­tere Infos. Das System berechnet aufgrund dieser Angaben etwa die empfohlene Trägerbreite. Brake und ihr Forschungsteam haben verschiedene Mate­rialien für die BH­Herstellung getestet und im Sys­tem hinterlegt.

Das Programm kann nun darstellen, wie diese sich auf die jeweilige Brustform auswirken, wie weit sie sich dehnen und wie viel Druck sie auf die Brust ausüben. Wichtig ist neben dem Material vor allem auch der Schnitt: Die Nähte zum Beispiel definieren, wie die Brustmitte wahrgenommen wird.

Brüste bestehen im Wesentlichen aus Fett, Binde­gewebe, Haut und Milchdrüsen, die dem kleinen und grossen Brustmuskel aufsitzen. Eine einzelne Brust kann bis zu zweieinhalb Liter Volumen haben. Je grösser die Brust, desto stärker schwingt sie auch, wenn wir uns bewegen. Chirurgin Marita Stengle vergleicht Brüste mit Wasserballons. «Die Brust ist schwer und die Haut dehnbar, das Gewebe wird also von dem Gewicht nach unten gezogen. Tragen wir einen BH, bleibt die Brust länger straff.»

«Vieles im Le­ben einer Frau kann dazu führen, dass Brüste an Festigkeit verlieren»

Brüste «wippen, hüpfen, schwabbeln, springen, purzeln wunderbar», wie die Berner Mundartband Tomazobi in ihrer Hymne auf die weibliche Brust singt – bis zu 19 Zentimeter von einem Punkt zum anderen. Und Brüste sind nicht nur aus bewegungs­technischer Sicht schwierig zu fassen. Vieles im Le­ben einer Frau kann dazu führen, dass Brüste an Festigkeit verlieren.

«Der Körper ist mit vierzig Jah­ren nicht derselbe, der er mit zwanzig war», sagt Marita Stengle. Alter, Schwangerschaft, Abstillen, Menstruation, Wechseljahre. Das alles hat einen Ein­ fluss auf die Brust. Der perfekte BH ist also sowieso ein temporäres Konstrukt.

Elena Brake hofft, dass 3D­-Brust­-Scannings in Zukunft für Kundinnen ganz normal sind, wenn sie Unterwäsche einkaufen gehen. In vielen anderen Bereichen der Bekleidungsfachbranche ist dieses Verfahren ja längst üblich: Wer joggt, kann sich ein Bewegungsprofil seiner Füsse erstellen lassen. Und selbst bei massgeschneiderten Männerhemden wird diese Technik angewandt.

Etwas anders sehen das die Verkäuferinnen. «Es ist einfach zu kostspielig für die Kundinnen», sagt Silke Brucklacher, die gemeinsam mit Co­-Geschäfts­führerin Kristina Wilhelm den Wäscheladen Wör­ner Dessous leitet, der unweit der Hochschule Reut­lingen liegt. Brucklacher und ihre Kolleginnen haben sich für Your Bra scannen lassen und Elena Brake beraten.

«Vielen Frauen gehe es so wie mir, sagt sie, als ich ihr von meinen BH­-Leiden erzähle»

Der perfekte Büstenhalter ist auch ihnen ein Anliegen. Immerhin verspricht der Schriftzug im Schaufenster: «Passende Körbchen für Äpfel, Me­lonen und Kürbisse!» Silke Brucklacher ist schon seit 31 Jahren im Damenunterbekleidungs-­ und Dessous­geschäft tätig. Sie berät nicht nur, sondern führt auch Veranstaltungen durch, feiert Korsett­ Feste und lädt Frauen zu Informationsabenden ein.

Vielen Frauen gehe es so wie mir, sagt sie, als ich ihr von meinen BH­ Leiden erzähle. Sie schämen sich für ihre Brüste und zwängen sich in zu kleine Körbchen. Einmal sei eine Kundin zu ihr gekommen, die ihre Brust über Jahre hinweg so abgeschnürt hatte, dass sie ganz ver­formt war.

«Ich habe erst gar nicht verstanden, wa­rum da so eine Lücke war im Körbchen», erinnert sie sich. «Aber dann dämmerte es mir, dass die wahr­scheinlich gerade zum ersten Mal in ihrem Leben einen BH trug, der richtig passte, stützte, wo sie es brauchte, und die Schultern nicht belastete.»

Das habe sich auf die Körperhaltung der Frau ausgewirkt und am Ende auch auf ihr Selbstbewusstsein. «Diese Metamorphose der Kundin durch den richtigen BH miterleben zu können, macht mich bei meiner Arbeit so glücklich.»

Wörner Dessous hat etwas von dem Zauberstabladen in «Harry Potter». Die Wände sind vollgestellt mit Regalen, die Schubladen gross angeschrieben mit 65 G, 90 F, 110 E. Frauen jeden Alters laufen in BHs die Regale ab, die Verkäuferinnen eilen mit Messbändern hinterher, wühlen nach dem richtigen Körbchen, dem richtigen Schnitt, dem richtigen Träger.

Im hinteren Teil des Ladens steht sogar eine kleine Näh-Ecke. Unpassende BHs können passend gemacht, gebrochene Bügel ersetzt, gerissene Träger geflickt werden. Frischgebackene Mütter können sich ihre Lieblings-BHs zu Still-BHs umnähen lassen.

Vor ein paar Jahren hat Brucklacher mit ihrem Team sogar ihren eigenen Sport-BH entworfen, den inzwischen überregional bekannten Mela Meloni.

«Als sich die Tennisspielerin Simona Halep ihre Brüste verkleinern liess, stieg sie auf der Weltrangliste um 450 Plätze auf»

Sport-BHs seien wiederum ein Thema für sich, erklärt sie. Brüste sind ziemlicher Ballast und haben einen grossen Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit. Als sich die rumänische Tennisspielerin Simona Halep 2008 ihre Brüste von Grösse 75 E auf 75 C verkleinern liess, stieg sie auf der Weltrangliste um 450 Plätze auf.

Womöglich war die Brustverkleinerung nicht der einzige Grund für den sportlichen Erfolg. Aber geholfen hat sie allemal. «Mich störte das Gewicht», sagte sie damals. «Meine Brüste machen mich unruhig, wenn ich spiele.»

Der Mela Meloni soll gleichzeitig dem Busen Form geben und Schultern und Wirbelsäule entlasten. Mikrofasern im Stoffgewebe leiten die Feuchtigkeit nach aussen. Zudem sind die Unterbrustbügel so angeordnet, dass die Brüste angehoben werden, sodass der Schweiss abgeführt werden kann.

Einen BH zu designen und herzustellen, ist keine leichte Aufgabe. Oder wie es Claudia Wigge, Head of Design beim Wäschehersteller Mey im süddeutschen Albstadt-Lautlingen, ausdrückt: «Ein riesiger logistischer Aufwand.»

Für das Design muss eine ganze Reihe ergonomischer Faktoren beachtet werden: Zugkraft, Druck, Dehnung des Materials, Biegung des Bügels. Ebenso komplex ist seine Umsetzung: «BHs können aus über vierzig Einzelteilen bestehen, die alle zusammengenäht werden müssen. Selbst die Spitze wird nicht willkürlich draufgesetzt, sondern genau platziert und zugeschnitten.»

«Für einen einzigen BH braucht die Näherin ungefähr eine Viertelstunde»

Die Marke Mey wurde 1928 gegründet und ist heute einer der ältesten Wäscheproduzenten der Region. Motorensummen füllt die Halle. Rund 150 Nähmaschinen stehen hier, das gleichmässige Klick-klack der Nadeln wird nur durch das metallische Zirpen des Spulenmechanismus unterbrochen. Ein sanftes «pssst», wenn der Stoff über die Maschine gleitet, das Klicken der Einstellräder, als jemand die Sticheinstellung ändert.

Eine Näherin näht den Träger an das eine Körbchen, wendet es und prüft ihre Arbeit blitzschnell auf Fehler, dann schiebt sie auch schon das zweite Körbchen unter die Maschine. Für einen einzigen BH braucht sie ungefähr eine Viertelstunde. Zwanzig Minuten, wenn das Design aufwändiger ist. Cup, Träger, Unterband, Verschluss. Alles mit millimetergenauer Präzision.

Der langwierige Teil der Arbeit liegt jedoch nicht im Nähen, sondern in der Entwicklung des BHs. Zwei Jahre dauert es, bis ein neues Modell auf den Markt kann. «Das muss genau ausgetüftelt werden», sagt Claudia Wigge. «Jedes Material verhält sich anders und muss je nach Grösse des BHs angepasst werden.» Besonders stolz ist sie auf den Spacer-BH, den Mey seit 2015 produziert. Sie nennt ihn den «perfekten BH, um Halt zu geben, ohne einengend zu wirken.»

Spacer ist ein dreidimensionales Gewebe, bei dem zwei Stofflagen durch feine Kunststofffäden miteinander verbunden werden. Das feine Material ist elastisch und macht die Spacer-Schale leicht und gleichzeitig besonders formstabil.
Beim «Spacer» handelt es sich um einen Schalen- BH. Im Gegensatz zu Triangel-BHs oder Bustiers werden hier die Cups über einem Kunststoffkolben unter grosser Hitze in die richtige Form gebracht.

Die schwarze Schale des Spacer-BHs unter der Nähmaschine ist kaum verziert. Nur an den oberen Rändern und an den Trägern bringt die Näherin etwas Spitze an. Zu viel zusätzliches Material, erklärt sie, würde nur mehr Spannung auf das Spacer-Material bringen und seine Form verzerren. Die Cups sind ein wichtiger Teil der BH-Herstellung, meist unterliegt ihre genaue Art der Herstellung einem streng gehüteten Geschäftsgeheimnis.

«Was ist besser? BHs oder Bustiers?», frage ich, während meine Augen unter den flinken Bewegungen der Näherin zu schielen anfangen. «Eine Schale macht die Brüste runder», sagt Claudia Wigge. «Sie hat keine Nähte, deswegen sieht man sie unter einem T-Shirt auch weniger gut. Viele Frauen mögen das.» Die Näherin hält den BH in die Luft, prüft, ob beide Körbchen gleichmässig aneinandergenäht sind.

«Triangel-BHs oder Bustiers», erklärt Claudia Wigge weiter, «werden aus verschiedenen Stoffstücken gemacht. Das gibt dem BH eine andere Form, der passt sich dann etwas natürlicher der Brustform an.» Je nachdem, wo man die Nähte setze, könne das die Brust mehr zusammenbringen oder stärker anheben. Der Schnitt gibt optisch eine symmetrische Mitte vor, die in der natürlichen Form nicht vorhanden wäre.

«Erschwerend hinzu kommt, dass es keinen internationalen Standard für BH-Grössen gibt»

Deutsche Frauen mögen oft lieber dezente BHs, führt die Designspezialistin weiter aus. Solche, die man unter dem T-Shirt nicht durchschimmern sieht. Französinnen wiederum bevorzugten BHs, bei denen die Brustwarze erkennbar bleibt. Und sie hat einen Tipp: Wer nicht will, dass man den BH unter einem weissen T-Shirt sieht, sollte nicht den Fehler machen und sich für ein hautfarbenes oder – noch schlimmer – weisses Modell entscheiden.

Es mag seltsam klingen, aber ausgerechnet ein roter BH wird unter dem weissen Stoff unsichtbar bleiben! Das liegt daran, dass unsere Haut ebenfalls einen natürlichen Rotstich hat, was den BH im zum Hauttyp passenden Rotton – von Blassrosa bis Burgunder – unter dem weissen Shirt am ehesten verschwinden lässt.

BH-Passformen fallen bei verschiedenen Herstellungsfirmen unterschiedlich aus. «Zu sagen, dass mir eine 70 B immer passt, würde schon innerhalb unseres Sortiments nicht stimmen», betont Claudia Wigge. Dafür hat das Unternehmen zu viele verschieden geschnittene Modelle im Angebot.

Erschwerend hinzu kommt, dass es keinen internationalen Standard für BH-Grössen gibt. Es existieren weltweit mindestens sechs verschiedene Grössensysteme. Die US-Grösse 34 C entspricht zum Beispiel der britischen Grösse 34 D und der EU-Grösse 75 D. In Frankreich aber wäre das wiederum eine 90 D und in Australien eine 12 C.

Matthias Mey, der das Unternehmen seines Grossvaters seit 2014 zusammen mit seinem Bruder und seinem Cousin in dritter Generation führt, weiss um die zwiespältige Wahrnehmung des BHs: Mal soll er funktionell, mal sexy sein. Kann und darf sich ein Mann überhaupt zu Frauenunterwäsche äussern?

«Wenn ich in Interviews sage, dass achtzig Prozent der Frauen die falsche BH-Grösse tragen und das gesundheitliche Folgen haben kann, wurde ich deswegen auch schon angegriffen», sagt Mey. Siebzig Prozent seiner Mitarbeitenden sind Frauen.

Brüste polarisieren. Als es 1978 für Frauen legal wurde, in Berner Schwimmbädern oben ohne zu baden, titelte die «Berner Zeitung»: «Ein Busen, welch ein Grusen!» Heute werden auf Instagram noch immer weibliche Nippel zensiert. Als die Schauspielerin Emma Watson 2017 bei einem Fotoshooting für «Vanity Fair» ihre Brüste zeigte, stiess sie dabei auf Kritik, keine gute Feministin zu sein.

«Eine Zeit lang, als ich zum ersten Mal einen BH besass, der mir wirklich passte, sprach ich von einem komplett neuen Lebensgefühl»

Ich muss inzwischen oft an die Freundin denken, die gerne weite Ausschnitte trägt und dafür Drinks und Komplimente entgegennimmt. Ich fand lange Zeit, dass sie sich unter ihrem Wert verkauft. Als wäre ich die bessere Feministin, weil ich mich für meine Brüste schämte und sie versteckte. Emma Watson antwortete übrigens sehr schlagfertig auf die Vorwürfe:

«Beim Feminismus geht es darum, Frauen die Wahl zu geben. Feminismus ist kein Stock, mit dem wir andere Frauen schlagen können. Es geht um Freiheit, es geht um Befreiung, es geht um Gleichberechtigung. Ich weiss wirklich nicht, was meine Titten damit zu tun haben.»

Brüste, die nicht verrutschen, die Gewissheit, dass ich nicht alle paar Minuten verschämt ein Körbchen zurück in seine Position rücken muss. Eine Zeit lang, als ich zum ersten Mal einen BH besass, der mir wirklich passte, sprach ich von einem komplett neuen Lebensgefühl. Es ist ein neues Selbstbewusstsein, das ich mit mir – und vor mir hertrage. Ich glaube, dieses Lebensgefühl kommt nicht vom BH, aber er stützt es.

Ich bin nun im Besitz eines vielgelobten Spacer-BHs und tatsächlich ziehe ich den abends auf der Couch manchmal nicht sofort aus, weil ich ihn kaum spüre. Und dann gibt es noch immer die Tage, an denen ich meinen uralten ersten Tchibo-BH aus der Schublade nehme.

Ja, ich besitze ihn noch immer: Die Träger fallen mir lose über die Schultern, das Stoffgewebe ist an vielen Stellen durchsichtig geworden, Halt gibt er schon lange keinen mehr. Trotzdem ist er ein heimliches Lieblingskleidungsstück von mir, ein Memento der Veränderungen, die mein Körper in den letzten siebzehn Jahren durchgemacht hat, und des Wieder- und Wiederentdeckens meiner eigenen Weiblichkeit.

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments