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Autorin Zeruya Shalev: «Ich kann verstehen, warum mein Debüt so schlecht aufgenommen wurde»

Literatur & Musik

Autorin Zeruya Shalev: «Ich kann verstehen, warum mein Debüt so schlecht aufgenommen wurde»

  • Text: Elena Lynch
  • Bild: Jonathan Bloom / Piper Verlag

Vor 30 Jahren hat Zeruya Shalev in «Nicht ich» geschrieben, worüber heute viele Frauen schreiben. Die Kritiken damals waren vernichtend. Im Gespräch erzählt die israelische Autorin, was diese Ablehnung mit ihr gemacht hat und warum ihr feministisches Debüt erst jetzt auf Deutsch erschienen ist.

annabelle: Zeruya Shalev, Ihr erster Roman «Nicht ich» ist soeben auf Deutsch erschienen. In Israel wurde er bereits 1993 publiziert, erhielt aber ausschliesslich kühle Kritiken. Kam das Buch 30 Jahre zu früh?
Zeruya Shalev: Eine junge Frau, die ihren Mann und ihre Tochter für einen Geliebten verlässt und alles ausspricht, was währenddessen in ihr vorgeht, das war man sich zu der Zeit nicht gewohnt. Die Kritiker empfanden es als provokativ. In ihren Rezensionen verurteilten sie die Heldin, und damit im Grunde auch mich als Autorin, moralisch. Wie unpassend für die Literatur! Auch die Art, wie ich die Geschichte damals erzählte, war bruchstückhafter, surrealistischer, widersprüchlicher als das, was man damals sonst zu lesen bekam. Ich kann verstehen, warum mein Debüt so schlecht aufgenommen wurde. Doch das hat es damals nicht einfacher gemacht.

Sie konnten über zwei Jahre nicht mehr schreiben.
Ich fürchtete, von den Autoren des Verlags, bei dem ich angestellt war, abgelehnt zu werden und meinen Job als Lektorin zu verlieren. Mein Selbstvertrauen und mein Selbstwert waren weg, auch als Autorin. Ich habe damals einige Kurzgeschichten angefangen, aber konnte keine zu Ende schreiben. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Es war nicht so, dass ich dachte, ich würde nie wieder schreiben, aber vielleicht nicht mehr veröffentlichen, weil ich das nicht nochmal durchmachen wollte.

Doch dann schrieben Sie Ihren zweiten Roman «Liebesleben» und wurden damit weltberühmt. Wie fanden Sie zu den Worten zurück?
Schreiben war noch nie eine Sache, die ich planen konnte. Plötzlich war das Jucken in den Fingern wieder da und ich nahm ein leeres Heft aus der Schultasche meiner Tochter, beschriftete es mit «Liebesleben» und schrieb Satz um Satz. Es war wie ein Wunder! Es hatte etwas Befreiendes, weil ich beim Schreiben keine Minute an die Rezeption dessen, was gerade am Entstehen war, dachte.

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«Ich hatte das Gefühl, dass ich dem Buch ein weiteres Leben schuldig bin und jetzt vielleicht eine gute Zeit für eine Wiedergeburt wäre»

Mit Ihrem ersten Roman war es ähnlich: Während Sie auf einen Autor, dessen Buch Sie lektoriert hatten, warteten, fingen Sie an, auf der Rückseite seines Manuskripts Wörter aufzuschreiben, fast zwanghaft. Nach einer Stunde hatten Sie bereits zehn Seiten beschrieben. Es sollten die ersten Sätze von «Nicht ich» werden.
Auch da war es ein unerwarteter Ausbruch von Inspiration! Als ich die Wörter aneinanderreihte, dachte ich, das würde wieder ein Gedicht werden, weil ich bis zu diesem Moment ja nur Gedichte geschrieben hatte, aber die Zeilen hörten nicht auf, wurden immer länger und hatten einen ganz anderen Rhythmus. Erst später verstand ich, dass es Prosa war.

«Bedauern der Mutterschaft» von der israelischen Soziologin Orna Donath erschien 2015. Überhaupt ist es für Frauen inzwischen üblicher geworden, über ihr Innenleben zu schreiben und Ambivalenz gegenüber dem Frau- und Muttersein zu äussern, nicht nur in Israel. Ist das der Grund, warum Sie «Nicht ich» nun auf Deutsch veröffentlicht haben, weil das Buch im Jetzt besser aufgehoben ist?
Nachdem ich 2021 meinen siebten Roman «Schicksal» fertigstellte, dachte ich, vielleicht ist es an der Zeit, nach dieser grossen Anstrengung des Schreibens wieder an den Anfang zu gehen, einfach, um zu erkennen, wie weit ich gekommen bin. Nach 28 Jahren las ich zum ersten Mal wieder mein Debüt und hatte direkt das Gefühl, dass ich dem Buch ein weiteres Leben schuldig bin und jetzt vielleicht eine gute Zeit für eine Wiedergeburt wäre. Aber mit Büchern weiss man nie, ihr Weg ist so geheimnisvoll.

Was hat Sie an Ihrem ersten Roman besonders beeindruckt?
Die Tapferkeit der Protagonistin, um nicht zu sagen der Autorin. Ich habe ihren gebrochenen Monolog gelesen und seine Authentizität und Kraft gespürt. «Nicht ich» wurde mit einer enormen Dringlichkeit geschrieben, so könnte ich heute nicht mehr schreiben. Auch mein Stil und mein Prozess sind heute anders. Natürlich habe ich den Text damals überarbeitet, aber heute bin ich viel eher bereit, jeden Satz wieder und wieder zu schreiben. Und dem Surrealismus, der den Stil meines ersten Romans so sehr prägt, dem fühle ich mich auch weniger nahe. Ich habe inzwischen Interesse am Realen gefunden.

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«Das Buch ist sehr stark von den ersten Jahren meiner Mutterschaft beeinflusst»

Ihr Debüt ist von der Entscheidung einer Nachbarin inspiriert, die ihre Kinder ihrem Mann überliess, um mit ihrem Geliebten zu sein.
Die Geschichte meiner Nachbarin kannte ich schon eine Weile, bevor ich sie in meinem Buch verarbeitete. Ich erinnerte mich an sie, als ich mit 28 selbst Mutter wurde, und sie vermischte sich mit meinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Das Buch ist sehr stark von den ersten Jahren meiner Mutterschaft beeinflusst und dem Zwiespalt darüber, plötzlich für einen anderen Menschen verantwortlich zu sein, während das eigene Leben immer noch irgendwie im Argen liegt.

Der Titel weist zwar deutlich darauf hin, dass Sie in «Nicht ich» nicht über sich selbst geschrieben haben, doch nachdem Sie das Buch beendet hatten, brach auch Ihre Familie auseinander.
So ist es manchmal in der Literatur: Man schreibt über etwas und dann wird es wahr.

Spielen Sie damit auf die Passage im Buch an, bei der die Protagonistin ihren Mann vor unterirdischen Gängen, die zum Kindergarten ihrer Tochter führen sollen, warnt?
Ja, mit dem 7. Oktober (Terrorangriff der Hamas auf Israel, Anm. d. Red.) wurde diese Stelle in eine grausame Aktualität getunkt. Dabei war es eine Metapher! Es gibt aber auch die Szene im Buch, bei der sie vor dem Haus ihrer Eltern ein Grab für die Spielsachen ihrer Tochter aushebt. 2004 wurde ich vor dem Haus meiner Eltern bei einem Terroranschlag verletzt. Ich erinnere mich, dort gelegen und gedacht zu haben: «Wow, das ist der Ort, an dem sie im Buch das Spielzeug begraben hat, und jetzt liege ich selbst hier.»

Sie sollten vorsichtig sein, was sie schreiben …
In «Schicksal» habe ich den Ehemann umgebracht. Mal schauen, wohin das führt. (lacht)

«Nicht ich» (33.90 Fr.) ist ab sofort im Handel erhältlich. Am 6. Februar liest Zeruya Shalev im Kunstmuseum Basel und am 7. Februar im Völkerkundemuseum in Zürich. 

Zeruya Shalev ist 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa in Israel. Ihre Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde mehrfach ausgezeichnet und in über 20 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» und «Schicksal». Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

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