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Ex-Eiskunstläuferin Sarah van Berkel über Druck im Profisport: «Simone Biles zeigte Stärke»

Zeitgeist

Ex-Eiskunstläuferin Sarah van Berkel über Druck im Profisport: «Simone Biles zeigte Stärke»

US-Kunstturnerin Simone Biles tritt heute bei den Olympischen Spielen in Tokio am Schwebebalken-Final an. Dies, nachdem sie mit ihrem Rückzug vergangene Woche für Schlagzeilen sorgte. Die ehemalige Eiskunstläuferin Sarah van Berkel kennt den Druck, der auf Profisportler:innen lastet. In ihrem Essay für annabelle erzählt sie, wie sie selbst damit umging.

Vor vier Jahren war Simone Biles mit vier Goldmedaillen der Superstar der Olympischen Spiele. Diesmal schreibt die US-Kunstturnerin in Tokio weltweit wieder Schlagzeilen. Ganz ohne Medaille. Dafür mit Rückzügen aus bisher fünf von sechs ihrer Finals. Entscheide, die sie wahrscheinlich noch viel mehr Mut kosteten als ihre schwierigsten Tricks. Für mich hat sie damit unglaubliche Stärke gezeigt.

Ich hatte nie annähernd das Können, die Erfolge oder die Bekanntheit und somit den grossen Druck von Simone Biles. Ich glaube, niemand kann ganz genau nachvollziehen, wie sie sich fühlt. Das kann nur sie. Aber ich kann mir anhand meiner Erfahrung aus den Jahren als Eiskunstläuferin wenigstens annähernd vorstellen, was sie durchmacht. Zudem hatte ich durch meine Arbeit als Sportjournalistin schon oft die Möglichkeit, mit Spitzensportler:innen über ihre Karriere, über Schwierigkeiten, Höhepunkte und auch Tiefs zu sprechen. Oft fällt es Sportler:innen in jungen Jahren leichter, mit Druck umzugehen. Auch ich habe das so erlebt.

Eine sportliche Niederlage kann einem vorkommen wie ein Weltuntergang

In der Phase der jugendlichen Unbeschwertheit, wie man sie oft nennt, bin ich mit 16 Jahren an Europa- und Weltmeisterschaften angetreten. Danach kamen die ersten Verletzungen, das Wachstum, die Pubertät – und negative Gedanken, die sich festsetzten. Gleichzeitig fing ich an, immer mehr zu investieren, auf mehr zu verzichten für den Sport. Man bewegt sich als Profisportler:in so sehr in einer Blase – da kann einem eine sportliche Niederlage im ersten Moment schon vorkommen wie ein Weltuntergang. In der Retrospektive kann ich das nicht mehr wirklich nachvollziehen.

Mit 17 Jahren fing ich an, mit dem renommierten Sportpsychologen Hanspeter Gubelmann zu arbeiten. Ich möchte vorausschicken, dass ich – zum Glück – nie an einer Depression oder einer anderen psychischen Erkrankung litt. Mit dem Sportpsychologen arbeitete ich primär, um eine Leistungssteigerung zu erzielen. Ich glaube dennoch, dass diese langjährige Arbeit für mich ein wichtiger Anker war, um mich selber nicht zu verlieren.

«Wenn du dich nicht zusammenreisst, wirst du es bereuen»

Ich lernte Techniken, mich zu konzentrieren, mich zu beruhigen. Oder, mich aggressiver zu machen, wenn ich durch die Nervosität wieder todmüde wurde und sich meine Beine in wichtigen Momenten wie Gummi anfühlten. Und wenn das auch nichts mehr nützte, zog meine Trainerin am gleichen Strick. Ich weiss noch, was sie mir vor meiner Olympiakür in Turin sagte: «Wenn die Beine nicht wollen, dann machst du es mit dem Kopf. Du hast nicht so viele Jahre für diesen Moment trainiert, um nun müde zu sein. Wenn du dich nicht zusammenreisst, wirst du es bereuen.» Es funktionierte – weil sie wusste, wie ich ticke. Ich brauchte jemanden, der mich wachrüttelte. Ich lernte auch, Schlüsselgedanken zu setzen. Ich eignete mir Methoden an, um während Drucksituationen bewusst zu funktionieren, immer im Moment zu bleiben – und dennoch das Vertrauen zu haben in Kopf und Körper, um das Muskelgedächtnis seine Arbeit machen zu lassen.

Simone Biles sprach nach ihrem Rückzug aus dem Teamwettkampf davon, dass sie «Twisties» hatte, mentale Blockaden. Mit dem Resultat, dass sie die Orientierung in der Luft verlor. Ich hatte auch schon solche Blockaden, glücklicherweise nie an einem Wettkampf. Man kann sich das so vorstellen: Im Eiskunstlaufen zählen wir bei Sprüngen nie die Drehungen in der Luft. Der komplexe Bewegungsablauf passiert in einem Bruchteil von Sekunden – und fast automatisch. Wir spüren, ob wir nun bei zwei oder drei Drehungen angelangt sind. Sobald ich mit bewussten Gedanken wie «Nun den Arm nach vorne, nun abspringen» eingreife und den automatisierten Ablauf störe, kann es zu Fehlern kommen.

Wieso sollten Sportler:innen nicht das Recht haben, sich zurückzuziehen?

In Sportarten wie Turnen oder Eislaufen sind deswegen viele Stunden Training, viele Repetitionen nötig, bis die Höchstschwierigkeiten im Muskelgedächtnis gespeichert sind. Bei mir kam es einige Male im Training vor, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, wo nun die zwei, zweieinhalb oder drei Drehungen sind. Die Ursachen waren bei mir Müdigkeit, Stress, aber zum Beispiel auch diffuse Lichtverhältnisse. Den Körper nicht mehr im Griff zu haben, ist ein unglaublich unangenehmes Gefühl, welches immer stärker wird, je mehr man sich dagegen wehrt.

Während Stürze auf dem Eis zwar schmerzhaft sind, zeigen meine Füsse immer in Richtung Boden. Anders bei den Turner:innen. Wenn eine Turnerin wie Simone Biles die Orientierung verliert und weiter turnt, ist es nicht übertrieben zu sagen, dass sie ihr Leben riskiert. Deswegen habe ich absolut kein Verständnis für negative Reaktionen auf ihren Rückzug. Ich finde ihn stark und mutig. Wieso sollten Sportler:innen nicht das Recht haben, sich zurückzuziehen – ich spreche bewusst nicht von aufgeben –, wenn sie sich nicht gut fühlen?

Hätte sie den Fuss gebrochen, hätte es wohl jeder verstanden

Die negativen Reaktionen zeigen auch schonungslos auf, dass psychische Erkrankungen immer noch stigmatisiert werden. Hätte sie den Fuss gebrochen, hätte es wohl jeder verstanden. Verletzungen, welche man nicht sieht, sind meist umso schlimmer. Ich denke nicht, dass wir als Aussenstehende auch nur erahnen können, welche seelischen Narben etwa der jahrelange sexuelle Missbrauch durch den Teamarzt Larry Nassar bei Biles hinterlassen hat.

Wir staunen, wenn Menschen schier Unglaubliches leisten

Teil des Problems im gesamten Sport ist auch, dass wir heldenhafte Taten sehen wollen. Und da hinterfrage ich mich als Zuschauerin und als Journalistin auch wieder selber. Ich feierte in Turin 2006 etwa eine chinesische Paarläuferin, die sich während der Kür das Knie zertrümmerte und danach nach einer kurzen medizinischen Pause noch zu Olympiasilber lief. Wir finden eine Geschichte umso besser, je grösser die Hindernisse sind, die die Protagonist:innen überwinden müssen. Wir staunen, wenn Menschen schier Unglaubliches leisten.

Deshalb wurde Simone Biles in Rio zum Superstar – wegen ihrer Unbesiegbarkeit und ihres fast unmenschlichen Könnens. Nun in Tokio zeigt sie, dass sie keine Maschine ist, sondern eben auch ein Mensch. Einer, der die Begriffe Mut und Stärke in der Sportwelt neu definiert. Und so für mich und viele andere auf einer weiteren Ebene zum Vorbild und zur Vorreiterin geworden ist.

Sarah van Berkel (geb. Meier) ist ehemalige Eiskunstläuferin. Sie wurde 2011 Europameisterin und verzeichnet acht Schweizermeistertitel, drei Olympiateilnahmen und zwei EM-Silbermedaillen. Heute arbeitet sie als Sportjournalistin und steht für Coachings und kleine Shows noch immer auf dem Eis.

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