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Künstler Christine and the Queens: «Ich dachte sogar darüber nach, Priester zu werden»

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Künstler Christine and the Queens: «Ich dachte sogar darüber nach, Priester zu werden»

Christine and the Queens war schon fast im Pop-Olymp, als ihn ein Schicksalsschlag zu Spiritualität, Rock’n’Roll und sich selber führte.

Momente wie diese passieren im Leben nur selten: ein Saal voll fremder Menschen. Alle blicken gebannt zur Bühne. Kein Mucks, keine Bewegung, alles, was man spürt, ist kollektive Gänsehaut. Es ist ein euphorisches Gefühl, fast magisch, wie ein warmer Schleier, der sich über den Körper legt und das Herz durchleuchtet. Als die Musik ausklingt, entlädt sich dieses Gefühl in schallendem Applaus.

Es ist der 18. Juni 2023. Christine and the Queens performt sein neues Album «Paranoïa, Angels, True Love», das gerade erschien. Es ist der zweite Abend der Live-Premiere, gleichzeitig der Abschluss des zehntägigen Meltdown Festival am Londoner Southbank Centre. Der französische Künstler kuratierte in diesem Jahr das Programm, vor ihm taten das etwa Grace Jones oder Nick Cave.

Als wir drei Wochen zuvor telefonieren, klingt der 35-Jährige, der 1988 als Héloïse Letissier, als Tochter einer Lehrerin und eines Englischprofessors in Nantes geboren wurde, dann auch fast wie ein altehrwürdiger Künstler, der gern reflektiert, aber kaum neuen Ruhm erwartet. «Ich bin nicht sicher, ob ich heute noch den selben Impact habe wie früher», sagt er und scheint darüber weder böse noch enttäuscht: «Ich kann nicht klagen. Die Reaktionen auf das, was ich in letzter Zeit veröffentlichte, sind in der Regel nett.»

Musikalisches Chameleon

Spulen wir zurück ins Jahr 2016. Nach Erfolgen in Frankreich und Grossbritannien erreichte Christine and the Queens mit der englischen Neuauflage des Debütalbums «Chaleur humaine» weltweite Chartplatzierungen, landete als «Next Generation Leader» auf dem Cover des «Time»- Magazins und ein Jahr später in der «Forbes»-Liste der herausragendsten Entertainer:innen unter Dreissig. Inter nationale Tourneen waren ausverkauft, die Weichen für eine globale Pop-Karriere gestellt.

Irgendwie rechnete damals niemand mit diesem schmissigen Eighties-Sound; kompromissloser Pop, gespickt mit Bezügen zu Klassik, House bis Kendrick Lamar – leichtfüssig, aber deep. Dazu belebte Christine and the Queens auf Bühnen und in Musikvideos den Geist gefeierter Pop-Performer von Michael Jackson oder Madonna neu, gleichzeitig ganz anders, als man es sich im Jahr 2016 gewohnt war: androgyn statt hyper-sexualisiert, intellektuell und trotzdem zugänglich, fast auf altmodische Art europäisch.

Alles sehr erfrischend, aber natürlich gibt es Gründe, warum man so etwas im hart umkämpften Pop-Markt so selten sieht und hört. Die grossen Stars von heute sind Marken mit Wiedererkennungswert: Taylor Swift ist das toughe Girl-Next-Door. Lizzo verkörpert Body Positivity. Beyoncé gilt als unantastbare Überfrau. Harry Styles? Woker Mick Jagger. Christine and the Queens ist seit den Anfängen vor knapp zehn Jahren vor allem eines: im steten Wandel.

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«Könnt ihr mich denn nicht einfach in Würde einen aufrichtigen Mann sein lassen?»

2018 wurde der Künstler mit dem gleichnamigen Album zu «Chris». Im August 2022 erklärte er via Tiktok, seit einem Jahr männliche Pronomen zu nutzen. Drei Monate später präsentierte er mit dem Album «Redcar les adorables étoiles» das neue Alter Ego Redcar. Die Welt, allen voran Presse und Musikindustrie, tut sich schwer damit, diesen Popstar einzuordnen. Manchmal mit tragikomischen Folgen.

«Nun wissen sie nicht, was sie mit mir anfangen sollen»

Zur Promotion von «Chris» diskutierte der Sänger mit der britischen Journalistin Miranda Sawyer etwa Reaktionen aus Frankreich, wo Medien ihren neuen Pop-Export anfangs als «gute Feministin» feierten, «die Anzug trägt; nicht obszön ist». «Nun wissen sie nicht, was sie mit mir anfangen sollen, also labeln sie mich als drogenabhängig», erzählt er heute – erst lachend, dann hält er inne: «Ich scherze nur halb. Ich weiss, dass Hass ein Ort der Projektion ist, aber manchmal schmerzt es mich trotzdem, wenn Menschen mich so reduzieren.»

Der Streitpunkt diesmal: sein offener Cannabiskonsum. «Ich war ehrlich – ein amerikanischer Rapper kann das sein, aber ich werde als wahnsinnig deklariert. Könnt ihr mich denn nicht einfach in Würde einen aufrichtigen Mann sein lassen?» Er seufzt tief, wird hörbar emotional, als er von diesen Momenten erzählt. Es triggere ihn noch immer, bei allem, was in letzter Zeit passierte.

«Kunst ist der Ort, wo ich um Asyl bitte; Schutz suche»

Man muss wissen: Vor vier Jahren, im Frühling 2019, war Christine and the Queens für zwei Sets am kalifornischen Coachella Festival gebucht. Zwischen den beiden Wochenenden erhielt er die Nachricht vom plötzlichen Tod seiner Mutter Martine. Ein Infekt am Herzen führte zum Stillstand. Er sagte das zweite Coachella Konzert ab und flog schnurstracks nach Paris.

Monate später, am 27. Februar 2020, veröffentlichte Christine and the Queens die EP «La vita nuova», die mit Songs wie «People, I’ve Been Sad» und «Je disparais dans tes bras» zum ersten Mal die Trauer reflektierten. «Ich vermisse sie sehr, sehr fest», erzählt er.

Das Verhältnis zwischen den beiden sei nicht immer einfach, aber sehr liebevoll gewesen – «eine grosse Liebe eben. Als ich jünger war, ging sie mit mir durch meine Dysphorie, durch meinen Schmerz und meine Unfähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen». Sie habe ihm Gedichte gegeben. Ein Geschenk, das nachhallt: «Kunst ist der Ort, wo ich um Asyl bitte; Schutz suche.»

«Ich dachte sogar darüber nach, Priester zu werden»

Im Frühling 2021 folgte er einer Einladung des Musikproduzenten Mike Dean nach Los Angeles, um an neuer Musik zu tüfteln. Dort intensivierte sich die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen der letzten Jahre: «Ich ging stundenlang alleine spazieren und entdeckte die Kraft des Gebets – ich dachte sogar darüber nach, Priester zu werden», sagt er und lacht.

Diese Figur manifestierte sich zwar in einer EP namens «Joseph», religiös wurde er nie – spirituell aber sehr wohl: «Das Erste, das ich während des Lockdowns tat, war, mit meiner Mutter zu sprechen und ihr zu sagen: Schau! Siehst du, wie viel Sinn es endlich macht? Ich konnte spüren, wie sie sagt: Ja, ich sehs auch!»

Er spreche noch heute regelmässig zu ihr, aber inzwischen seien es auch mal Bäume, oder Musiker:innen – Prince, Freddie Mercury oder im Geiste auch zur lebenden Madonna, die einen Gastauftritt im neuen Album hat: «Ich wende mich an sie, wenn ich mich nach Stärke sehne. Das Beten wurde zu einer Art Meditation für mich.»

Eine Praxis, um Gefühle zu verstehen

So sei das Album in Los Angeles schnell zusammengekommen. «Das Grundgerüst innert etwa drei Wochen. Ich schrieb damals jeden Morgen einen Song, so viel wie nie.» Musik sei für ihn auch eine Praxis, um Gefühle zu verstehen. «Ich liebe dieses Suchende – Kunst ist für mich das Streben nach innerer Freiheit durch Wissen.»

Sie folge letztlich auch einfach dem Leben. Rückblickend fällt es leichter, Dinge einzuordnen. Manchmal vergehen Jahre, bis etwas Sinn ergibt. Der Name Christine and The Queens etwa stammt aus der Zeit zwischen Theaterausbildung und Pop-Karriere, um 2010, die Letissier in Londons Drag-Szene führte und seine Pop-Persona formte: Christine – «ein Allerweltsname» – erhielt dort den Zusatz «and the Queens». «Eigentlich cute von mir, dass ich damals Trost in der Drag-Szene fand», erinnert er sich und lacht, diesmal herzhaft: «Ich drückte wohl ein Stück meines persönlichen Drags aus.»

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«There’s nothing we can do / To make her change her mind / She’s a man now»

Wer Christine and the Queens’ musikalischen Weg hingegen seit den Anfängen verfolgte, war kaum überrascht, als vergangenes Jahr das offizielle Statement zur Transition kam. Schon auf «Chaleur humaine» hörte man einschlägige Texte. Im Album-Opener «iT» heisst es: «She wants to be a man / But she lies», gefolgt von: «It’s a fake» und «There’s nothing we can do / To make her change her mind / She’s a man now».

Da der Künstler seinen Start in der Drag-Szene hatte, konnten die Zeilen damals leicht als Koketterie abgetan werden. Doch mit «Chris» wurde immer klarer: Die gestählten Muskeln, die Bewegungen im Tanz und in der Performance – es war zwar klischierte Männlichkeit, aber aus heutiger Sicht war sie zu überzeugend, um reines Spiel zu sein. Seither ist die Transformation weiter im Gang.

Heavy Karma

«Das Ding ist, ich bin ja nicht mal Chris», sagt Letissier. «Du musst ja erst alle Projektionen killen, damit du dich ausdrücken kannst – das ist heavy Karma.» Er spielt auf den Druck von aussen an, und nicht nur seitens Presse: «Das Berühmtsein hat mir nie dabei geholfen, mich selber zu finden. Wie wir wissen, geht es in unserer Gesellschaft um Dissoziation und um die Erotisierung des Screens – aber dein Abbild ist nicht dein Parfüm, richtig? Bilder reflektieren nur deinen Ruf.»

Die Transformation gleiche einem Samurai-Kampf. Der Künstler wählt nicht nur in seinen Songs gern poetische Umschreibungen, es ist manchmal schwierig, seinen Gedanken zu folgen, aber zum Glück scheut er sich nicht, die Dinge zu pointieren: «Ich thematisiere Männlichkeit, indem ich ganz einfach existiere. Wenn ihr mich als Bürger anerkennt, werde ich mich beweisen. Solange das nicht der Fall ist, fühle ich mich nicht sicher, offen über das Thema zu sprechen.»

Tiefe Paranoia

Privat nutzt er neben seinem Geburtsnamen inzwischen einen weiteren Namen für seine neue Identität, allerdings bisher nur im geschützten Raum der Therapie und unter drei engen Vertrauten. Öffentlich bevorzugt er derzeit Red – entschieden nicht Redcar wie im Titel jenes dritten Albums: «Als ich Redcar schrieb, war ich in einem Zustand tiefer Paranoia. Aber in diesem Zustand kann man nicht verharren.»

Er erklärt, dass «Redcar les adorables étoiles» ursprünglich als Prolog zu «Paranoïa, Angels, True Love» gedacht war, dass sich Letzteres inzwischen aber als Album der Engel heraus kristallisierte. «Mir wurde bewusst, dass das Kapitel ‹True Love› erst noch geschrieben werden muss.» Er habe bereits Ideen, aber es sei ein herausforderndes Thema. «Im Moment vermute ich, dass Liebe, echte Liebe, ein unsterbliches Gespräch ist.» Eine Verbindung, die nie abbricht, egal wie, in welcher Form oder ob das Gegenüber überhaupt existiert.

«Ich will Raum einnehmen und dem Rock’n’Roll in meinen Knochen Platz geben»

Auf der Bühne, während der aktuellen Tour, geht die Transformation indes weiter. In London zeigte sich bereits ein auffälliger Wandel: Die perfekten Pop-Inszenierungen und messerscharfen Gruppen-Choreografien von «Chris» sind der gleissenden Rockoper und einer Ein-Mann-Show gewichen.

«Das Album ist ein Herzöffner»

«In den letzten Tagen wurde mir bewusst, wie ich die Choreografie mit einem Hammer zerschlage – weil ich auch im Tanz ein Poet sein will. Ich will Raum einnehmen und dem Rock’n’Roll in meinen Knochen Platz geben.» Schliesslich findet er noch ein anderes Wort, um sein aktuelles Werk zu beschreiben: «Das Album ist ein Herzöffner.» So sei es für ihn gewesen und er vermute, so funktioniere es auch fürs Publikum.

Man denkt zurück an den Moment, der 2500 Menschen im Southbank Centre kollektive Gänsehaut bescherte. Es war eher früh in der Show, beim Song «Full of Life». Mitten im Gespräch erwähnt er ganz unaufgefordert: «Das Lied ist ein Ruf nach Leben. Ich fühlte mich sehr frei, als ich es schrieb, fest verankert und präsent.» Manchmal habe er das Gefühl, dass er sein Leben entschlüsseln könne in diesen Momenten, in denen sein Herz weit offen ist, denn: «Dort verbirgt sich die Wahrheit.» Tief in ihm drin.

Christine and the Queens: «Paranoïa, Angels, True Love», Because Music Live: 13.9., Unique Moments im Landesmuseum Zürich

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Susanne

Was für ein bewegendes Porträt, wie einfühlsam geschrieben! Grosses Dankeschön für diese fast poetische Beschreibung eines wundervollen Menschen! So voller Staunen, voller Objektivität und doch zutiefst berührt wiedergegeben. Ich ziehe meinen Hut vor der Autorin.