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Politik

Mord an Sarah Everard: Warum werden Frauen nicht besser geschützt?

Kerstin Hasse
Kerstin Hasse

Stellvertretende Chefredaktorin und Head of Digital

In England führt der Fall einer jungen Frau, die auf dem Nachhauseweg verschwunden ist – und vermutlich von einem Polizisten ermordet wurde – zu einer Welle der Solidarität unter Frauen. Es ist eine traurige Solidarität, schreibt unsere stellvertretende Chefredaktorin Kerstin Hasse. Weil sie auf der Angst von Millionen von Frauen basiert.

Am 3. März verlässt die 33-jährige Sarah Everard die Wohnung ihrer Freundin im Südwesten Londons. Sie will nachhause spazieren, etwa fünfzig Minuten würde ihr Weg bis nach Brixton dauern. Sie telefoniert eine Viertelstunde mit ihrem Freund bis um exakt 21:28 Uhr. Um 21:30 wird sie zuletzt von Überwachungskameras gesichtet, danach verliert sich ihre Spur. Gestern dann wird eine Leiche gefunden, am Freitagnachmittag wird bestätigt, dass es sich um Everard handelt. Verhaftet wird ein 48-jähriger Mann. Er ist Polizist bei der  Metropolitan Police, der Polizeibehörde von London.

Dieser neuste Femizid löste auf Social Media eine Welle der Solidarität aus. Es ist eine unglaublich traurige Solidarität. Eine verstörende Solidarität. Denn sie basiert auf den Erlebnissen von Millionen Frauen, die auf ihrem Heimweg belästigt, bedrängt oder bedroht wurden.

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«Wie lang dauert es noch, bis wir verstehen, dass diese Angst strukturell bedingt ist?»

Seit gestern werden fleissig Tipps geteilt, etwa, wie man beim iPhone einen Notfall auslöst (fünf Mal kurz nacheinander auf den Sperrknopf drücken – dann werden deine Notfallkontakte kontaktiert, mehr Informationen findest du hier oder in den Einstellungen deines iPhones unter «Notfall»). Und wieder einmal frage ich mich, wie lang es noch dauert, bis wir verstehen, dass diese Angst strukturell bedingt ist. Dass sie das Resultat einer patriarchalen Gesellschaft ist – die (potenzielle) Täter schützt und (potenzielle) Opfer als hysterisch abtut. Anstatt darüber zu reden, wie wir Frauen besser schützen können, müssen wir uns gegenseitig mit Selbstverteidigungstipps versorgen – #textmewhenyougethome. Irgendwas läuft hier doch gründlich schief.

Sind wir allein?

So auch im Fall aus Grossbritannien. Der verhaftete Officer hat sich nur fünf Tage vor dem Verschwinden von Sarah Everard an einem Take-away-Stand entblösst. Der Fall wurde laut britischen Medien von Kameras aufgezeichnet – und der Polizei gemeldet. Passiert ist jedoch nichts. Der vermutliche Täter – es gilt die Unschuldsvermutung –  ist Polizeibeamter und lief als solcher weiter bewaffnet durch London. Am 3. März, am Tag des Verschwindens Everards, kam er gerade von seiner Schicht in der amerikanischen Botschaft.

Als Frau ist es brutal zu lesen, dass ausgerechnet ein Polizist der Täter ist. Weil es die Angst nährt, dass man allein ist. Dass man nicht geschützt wird von der Politik, von der Gesellschaft. Nicht mal von deinem Freund und Helfer, wie es so schön heisst.

Femizide passieren auch in der Schweiz

Immer wieder höre ich – vor allem seit dem #MeToo-Movement –, dass Männer sich in eine Täterrolle geschoben fühlen. Nicht alle Männer, die einem nachts auf der Strasse begegnen, wollen einem etwas Böses, das ist klar. Doch für mich ist, so traurig es klingen mag trotzdem jeder Mann, dem ich nachts begegne, eine potenzielle Gefahr. Das klingt krass, aber so ist es. Nicht weil ich Männer an sich misstraue, sondern weil ich schlicht Angst habe. Und diese Angst ist nicht unbegründet.

Laut dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Frau und Mann wird durchschnittlich alle zwei Wochen eine Person ermordet. Drei Viertel dieser Opfer sind Frauen. Hinzu kommt durchschnittlich ein Mordversuch an einer Frau pro Woche.  In der annajetzt-Studie, die annabelle mit Sotomo durchgeführt hat, gaben 31 Prozent der Frauen an, schon mal sexuelle Gewalt erlebt zu haben.

Wir lernen Strategien

Wird dagegen genug getan? Leisten wir genügend Präventivarbeit? Sind Bahnhöfe und öffentliche Plätze genug überwacht? Und im Zuge der Tat in London muss man auch fragen – von wem werden sie überwacht? Warum wird so vielen Opfern nicht geglaubt, warum werden Übergriffe noch immer so oft banalisiert?

Diese Zahlen und Fragen, verbunden mit all den Momenten, die man selbst oder die Freundinnen, Mütter und Schwestern erlebt haben, führen dazu, dass wir uns bereits als Teenagerinnen präventive Strategien zulegenStrategien, die wir befolgen, wenn wir allein unterwegs sind. Egal ob beim Spaziergang im Wald oder nachts auf dem Heimweg. Strategien, die für Frauen Normalität sind: 

Wir umklammern unsere Schlüssel, um uns im Notfall wehren zu können.

 

Wir geben vor, am Telefon zu sein.

 

Wir wechseln die Strassenseite mehrmals, um herauszufinden, ob uns der Mann weiter hinten verfolgt.

 

Wir eilen um eine Strassenecke und rennen bis nachhause.

 

Wir vereinbaren Notfallwörter mit unseren Freundinnen.

 

Wir bitten einander, sich sofort zu melden, wenn man zu Hause angekommen ist.

 

Wir meiden dunkle Strassenabschnitte und wählen lieber den längeren, gut beleuchteten Weg.

 

Wir tauschen iPhone-Notfall-Hacks auf Instagram.

 

Und dennoch. Dennoch hat ein Fremder vor der Haustüre einer Freundin ejakuliert, nachdem er sie bis nachhause verfolgte. Dennoch hat mich ein Taxifahrer mehrmals an der Strasse abgepasst, um mir anzubieten, mich «überall hinzufahren, wo ich es möchte», obwohl ich immer wieder Nein sagte. Dennoch pfeifen Männergruppen einem in der Nacht nach, bellen und jaulen, weil sie wissen, dass man Angst hat – und sie diese Macht geniessen. Dennoch werden Frauen im ÖV  begrapscht, während sie schlafenUnd dennoch wurde Sarah Everard ermordet.  

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