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Paola Cortellesi über ihren Rekord-Film «C’è ancora domani»: «Die Menschen reagieren sehr emotional»

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Paola Cortellesi über ihren Rekord-Film «C’è ancora domani»: «Die Menschen reagieren sehr emotional»

«C'è ancora domani» gehört jetzt schon zu den 10 meistgesehenen italienischen Filmen der Geschichte – und hat eine breite Diskussion über häusliche Gewalt ausgelöst. Wir haben mit Schauspielerin und Regisseurin Paola Cortellesi gesprochen.

annabelle: Sie sind in den letzten Monaten in einen regelrechten Hurricane geraten. Alle wollen mit Ihnen reden. Der Erfolg Ihres Filmes sprengt alle Rekorde. Er gehört zu den 10 meistgesehenen italienischen Filmen der Geschichte und hat jetzt sogar «La vita è bella» von Roberto Benigni überholt.
Paola Cortellesi: Überwältigend tatsächlich – und vor allem wunderschön, weil es mehr ist als nur ein Erfolg an den Kassen, viel mehr. Der Film hat eine grosse Wirkung auf die Menschen. Er löst in ihnen etwas aus, berührt sie.

Als ich ihn im Kino sah, gab es viel spontanen Applaus im Publikum, auch Tränen.
Die Menschen reagieren sehr emotional. Wenn ich manchmal nach Vorführungen in den Saal gehe, um die Leute zu begrüssen, werde ich regelrecht überrollt mit Geschichten aus der Vergangenheit. Jeder und jede hat eine Grossmutter, eine Tante und Bekannte, die Ähnliches erlebt hat wie Delia, die Hauptfigur im Film. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Menschen öffnen, von sich zu sprechen beginnen und Geschichten austauschen.

Es ist ein bisschen wie in der Parabel «Des Kaisers neue Kleider». Alle wissen, wie stark verbreitet die häusliche Gewalt war und noch immer ist. Doch erst durch Ihren Film ist sie ins öffentliche Bewusstsein gekommen.
Ja, der Kaiser ist nackt – Geschichten können eben sehr viel bewirken. Sie zu erzählen, gehört in meine Kernkompetenz. Durch sie kann das Gewissen wachgerüttelt werden.

Wohltuend ist, dass Sie in Ihrem Film nie moralisch werden.
Das habe ich nie gemacht und werde es hoffentlich auch nie tun.

Sie spielen die Hauptfigur Delia selbst. Sie ist Mutter von zwei Kindern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit vielen kleinen Arbeiten die Familie über Wasser hält. Sie gehört zu jener Generation Frauen, die massgeblich dazu beigetragen haben, dass das italienische Wirtschaftswunder geschehen konnte. Und niemand hat ihnen jemals Danke gesagt.
Genau darum wollte ich diese Geschichte erzählen. Es gab auch Frauen, die Herausragendes in der Politik und der Gesellschaft geleistet haben. Frauen wie Delia aber haben keine Geschichte geschrieben, und doch bildeten sie das Fundament des sozialen Gefüges der damaligen Zeit. Es waren Frauen, die Unglaubliches getan und erlebt haben, in totaler Anonymität. Diese Frauen, deren Geschichten mir meine Grossmutter erzählt hat, sie wollte ich mit dem Film feiern.

Sie zeigen die Gewalt in ihrem Film nicht. Sie wird in saloppen Sprüchen sichtbar, in den Gesichtern der Nachbarn oder als groteske Tanzszene dargestellt. Warum?
Das ist nicht meine Sprache. In Nuancen des Alltags kann man sie ebenso gut darstellen, vielleicht noch besser. Häusliche Gewalt war damals das, was die Frauen von ihren Begegnungen im Hinterhof kannten. Die Fenster standen offen, alles waren zu hören. Es gab keine Geheimnisse; man wusste die schönen Dinge der anderen und man wusste um die hässlichen. Niemandem kam in den Sinn, einen Übeltäter zu verklagen oder einzugreifen. Es gehörte einfach zum Alltag. Vielleicht wurde die eine als etwas bedauernswerter als die anderen betrachtet. Aber das wars dann schon.

Das Erschreckende am Film ist, dass er zwar in einer weit vergangenen Zeit spielt, aber sehr aktuell ist.
Ja, leider wiederholt sich diese Geschichte der toxischen Beziehungen. Der Täter erniedrigt das Opfer, er isoliert es, behandelt es, als wäre es nichts, eine Null.

«Tu sei mio», du bist mein. Diesen Satz bekommt Delias Tochter von ihrem Verlobten zu hören.
Ja, es geht um Besitz. Früher war er offen deklariert: Der Vater übergab die Tochter in die Hände des neuen Patrons, also den Ehemann. Die Wahl konnte glücklich sein oder weniger, aber so war eben das Schicksal. Heute ist diese Kultur des Besitztums weniger offensichtlich. Das heisst aber nicht, dass es sie nicht gibt. Leider bekommen wir die Folgen davon fast täglich in den Medien vorgesetzt. Eine Frau entscheidet sich, ihren Partner zu verlassen. Er kann damit nicht umgehen und reagiert mit Gewalt.

Genau das ist beim Mord an der 22-jährigen Giulia Cecchettin geschehen. Der 106. Femizid im Jahr 2023 in Italien geschah fast zeitgleich mit der vertieften Auseinandersetzung mit Ihrem Film. Giulias Schicksal hat die Menschen stark aufgerüttelt. «Basta! Nie wieder!», hiess es. Und doch geht es fast täglich weiter. Was können wir dagegen tun?
Durchschnittlich alle 72 Stunden ereignet sich ein Femizid in Italien. Das ist leider ein Fakt. Es ist unsere Gesellschaft, die der nachfolgenden Generation die falschen Werte weitergibt. Von irgendwoher müssen es die Jungen ja abschauen. Ansetzen sollte man darum so früh wie möglich in den Schulen. Ich finde, auch das Gefühlsleben sollte zum Pflichtstoff gehören. Es braucht ein eigenes Fach, in dem die Kinder soziale Kompetenzen lernen. Wie gehe ich mit einer Zurückweisung um? Was kann ich tun, wenn Zorn und Ärger in mir aufsteigt? Was sind die Bedingungen, dass eine Beziehung funktioniert? Je nach Stufe kann man unterschiedlich mit solchen Fragen umgehen. Die Schule hat eine wichtige Rolle, weil sie den Alltag der Jungen bestimmt, Tag für Tag, und sie durch die Zeit des Heranwachsens begleitet.

Haben sie mit Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gesprochen? Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist eine Frau an der Macht. Sie könnte etwas bewirken.
Ja, das hoffen wir alle. Direkt mit ihr gesprochen habe ich nicht. Doch dank des Erfolgs meines Films hat meine Stimme etwas Gewicht erhalten. Mit Elly Schlein ist zudem auch eine Frau führend in der Opposition. Ich wünsche mir von beiden, dass sie alle politischen Divergenzen fallen lassen und sich gemeinsam um das Thema kümmern.

Ende November wurde ein Gesetz verabschiedet, das höhere Strafen für Stalking sowie andere Formen von Gewalt an Frauen vorsieht.
Es mag gewiss Sinn machen, härtere Bestrafungen durchzusetzen. Doch um ein so tiefgreifendes Problem zu lösen, braucht es viel mehr. Und es braucht sehr viel Zeit, um an die Wurzeln zu gelangen.

Was ist die Wurzel dieses Übels?
Es ist diese toxische Mentalität des Ausgrenzens, die dazu führt, dass sich jemand über andere setzt. Auf der materiellen Ebene haben wir seit den Jahren, in denen der Film spielt, viele neue Gesetze erhalten, die sich der Gleichstellung annehmen. Aber die alte Mentalität widersetzt sich dem Fortschritt. Und sie findet immer wieder Wege, die nächste Generation zu beeinflussen. Wie sonst kann es weiterhin Femizide geben, gerade unter den Jungen? Sie sollten doch die Kinder des Fortschritts sein.

Kann es sein, dass es sich um die letzte grosse Schlacht handelt? In Politik, Arbeit, selbst im Militär hat die männliche Vormacht in den westlichen Gesellschaften nachgelassen. Nur im Privaten, in der Familie nicht.
Vielleicht ist es die letzte Schlacht und sicher wird es auch die grösste sein. Es wird Jahrzehnte brauchen, um die neuen Generationen von diesem Alptraum zu erlösen.

Das macht nicht gerade zuversichtlich und passt zur allgemeinen Stimmung im Land: 80 Prozent der Bevölkerung glaubt, dass sich Italien unwiderrufbar im Untergang befindet.
Vielleicht gehört das einfach nur zu unserem Charakter. Wir denken gerne etwas pessimistisch, was die Zukunft betrifft. Ich habe aber auch zuletzt viele junge Leute getroffen, die mich sehr optimistisch stimmen. Bei der grossen Demonstration in Rom gegen die Männergewalt am 25. November zum Beispiel. Da waren alle Generationen versammelt, aber besonders die Jungen beeindruckten mich: Sie sind fest entschlossen, gegen die Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Auch bei Veranstaltungen in Schulen, an denen ich teilnehme, sehe ich, dass die Stimmung gekippt ist.

Woran machen Sie das fest?
Bei einer Veranstaltung war da zum Beispiel ein Junge. Er fühle sich nicht schuldig, nur weil er zum männlichen Geschlecht gehörte, sagte er. Zu schaffen mache ihm aber, dass er in gewissen Situationen schweige. Wenn zum Beispiel Kollegen dumme Sprüche über Frauen machen. Er werde von jetzt an solche Entgleisungen nicht mehr tolerieren und aufstehen, sich dagegen wehren. Es mag nach einer kleinen Sache klingen. Tatsächlich ist es gigantisch, was dieser Junge gesagt hat. Es zeigt, dass sich das Bewusstsein geändert hat. Nur so kann die Veränderung geschehen.

Ich habe früher als Kellner in Italien gearbeitet. Da gehörte es zum Alltag, dass meine Kollegen in der bekannten Manier über Frauen sprachen. Ich hielt nicht dagegen, spielte aber auch nicht mit. Mir fehlt das Vokabular.
Das ist sehr wichtig, was Sie da sagen. Genau hierhin müssen wir kommen: Unsere Jungen müssen diese Sprache verlernen. Es braucht eine neue Generation, die diesen Virus nicht mehr in sich trägt, weil sie wie Sie in einer ganz anderen Weise erzogen wurde.

Nicht, dass Sie meinen, die Schweiz sei eine Insel. Auch hier gibt es Femizide. Die Zahlen sind zwar viel tiefer, aber umgerechnet auf die Bevölkerung sind sie nicht viel weniger als in Italien.
Oh, das habe ich nicht gewusst! Ich dachte immer, das sei allein unser Problem. Ich war der Meinung, im Norden Europas sei die Situation besser, die Mentalität anders. Tatsächlich bekomme ich nun durch den internationalen Verleih des Films nach und nach auch viel zu hören, was in anderen Ländern so geschieht. Das überrascht mich sehr.

Obwohl es in Ihrem Film um ein Thema geht, bei dem einem das Lachen vergeht, bringt er die Menschen auf überraschende Weise zum Lachen. Hatten Sie keine Angst, dass das falsch verstanden werden kann?
Humor gehört eben zu meiner Sprache. Ich kann nur machen, womit ich mich auskenne.

Ein Grossteil der Lacher geht auf das Konto der beiden Patriarchen im Haus: Ivano – Delias Mann – und seinen kranken Vater, um den sich Delia kümmern muss.
Eigentlich sind es erschreckende Gestalten; vor allem Ivano, weil er ein gewalttätiger Mann ist. Aber ich wollte die beiden nicht als Monster darstellen. Sie sollten durch und durch lächerlich sein.

Weshalb?
Es sollte nicht geschehen, was zum Beispiel bei Gangsterfilmen passiert. Auch dort gibt es die Bösewichte. Obwohl sie eigentlich negative Gestalten sind, können sie eine gewisse Faszination ausüben und die Zuschauenden zur Nachahmung einladen. Ich wollte diese beiden Männer zwar als böse und brutal darstellen, aber vor allem als dumm. Sie mussten Idioten sein, damit es niemanden gibt, der sie faszinierend finden könnte. Ich wollte, dass Gewalt mit Dummheit gleichgesetzt wird.

«C’è ancora domani» ist ab 4. April im Kino zu sehen. Der Film feiert am 8. März Vorpremiere, eine Übersicht zu allen Kinos findet ihr hier.

Paola Cortellesi (50) hat als Schauspielerin in über 30 Filmen mitgewirkt, die meisten davon sind Komödien. Sie moderierte Fernseh- und Radioshows und schrieb Drehbücher. «Ancora c’è domani» ist ihr erster Film als Regisseurin; weitere sollen folgen. Cortellesi ist mit dem italienischen Regisseur Riccardo Milani verheiratet und lebt in Rom.

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