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Papa ist tot: Drei annabelle-Journalistinnen über ihre Trauer

Zeitgeist

Papa ist tot: Drei annabelle-Journalistinnen über ihre Trauer

Marie Hettich, Jacqueline Krause-Blouin und Sarah Lau haben in den letzten Jahren ihre Väter verloren. In einem langen Gespräch unterhalten sie sich über wohltuendes Weinen, den gesellschaftlichen Umgang mit Verlust – und die Frage: Ist Trauer vergleichbar?

Alkohol trinken – oder nicht? Wir sind unschlüssig. Und entscheiden uns dann dafür. Zu dritt sitzen wir in einem Zürcher Restaurant, um über die existentielle Erfahrung zu sprechen, die wir teilen: den Tod unserer Väter. Wir alle haben diesen geliebten Menschen verloren. Jacqueline Krause-Blouins Vater starb 2020, Sarah Laus 2021, 2022 meiner.

Wir sind nervös, schon seit Wochen. Immer wieder haben wir uns gefragt: Werden wirs durchziehen, auch wenn es schmerzt? Nun sind wir aber hier. Es ist schön, an einem Tisch zu sitzen mit Menschen, von denen man weiss, dass sie Ähnliches durchgemacht haben. Oder eben nicht? Wie viele Gemeinsamkeiten sind da überhaupt?

Marie Hettich: Wie unruhig wir sind! Wovor haben wir eigentlich Angst?

Sarah Lau: Ich habe Angst davor, mich wieder in die Traurigkeit zu begeben. Ich mag diesen Kontrollverlust nicht.

Jacqueline Krause-Blouin: Ich fühle mich gerade eher lustig-aufgeregt. Wie in traurigen Situationen, in denen man auf keinen Fall lachen darf. Lachen und Weinen liegen ja sehr nah beieinander.

Marie: Bleiben wir doch gleich beim Thema Lachen. Ging es euch auch so, dass ihr rund um den Tod eurer Väter manchmal eine Heiterkeit erlebt habt, die ihr nie für möglich gehalten hättet? Ich habe zum Beispiel mit meinem Papa Guetsli gegessen, während wir über seine Bestattung gesprochen haben – und wir haben dabei immer wieder gelacht.

Sarah: Ja, das kenne ich. Als mein Vater gestorben ist, standen meine Mutter und ich an seinem Bett und waren uns einen Moment lang unsicher, ob er wirklich tot ist. Dann hat er noch ein letztes Mal geatmet – und wir mussten beide, vielleicht aus dieser grossen Unsicherheit heraus, losprusten. Schlimm irgendwie, aber auch sehr wohltuend.

Marie: Wann hattet ihr eure letzte Trauerwelle?

Sarah: Heute Morgen – ganz bewusst eingeleitet. Ich habe mir, was ich selten tue, ein Foto meines Vaters genommen und geweint. Und gleichzeitig die Betten gemacht. (lacht) Das ist ein typisches Verhalten für mich: Bloss nicht zu tief rein in die Trauer und nicht für zu lange. Ich möchte auch ungern gehört werden bei diesem schlimmen Weinen. Das kennt man von sich als Erwachsene ja kaum – bei mir ist das so ein richtiges Kinderschluchzen.

Marie: Also bist du meistens allein, wenn du um deinen Papa weinst?

Sarah: Es ist mir nur so möglich, ja.

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«Meine Trauer macht, was sie will. Sie überrollt mich immer wieder»

Jacqueline Krause-Blouin

Marie: Jackie, wann hattest du deine letzte Trauerwelle?

Jacqueline: Gestern. Ich bin gerade zu Besuch bei meiner Mutter und habe entdeckt, dass sie das Ehebett weggeräumt hat, das ich sehr mit meinem Papa verbinde. Irgendwie war ich froh für sie, denn warum sollte sie immer noch in diesem Bett schlafen? Meine Eltern hatten sich lange vor dem Tod meines Vaters getrennt. Aber ich war auch empört und tieftraurig. Und dann überkam mich mitten in der Nacht eine Trauerwelle – aber wegen meiner Mutter! Plötzlich dachte ich: Auf keinen Fall darf sie auch noch sterben. Ich bin dann morgens um fünf Uhr wie ein Kind weinend zu ihr ins Zimmer gelaufen und habe gesagt: «Mama, du darfst nicht sterben!» So eine absurde Situation.

Jacqueline lacht verzweifelt. Sarah und ich lachen verzweifelt mit. Es sind die raren Momente im Leben, in denen man merkt: Die anderen sind genauso verwundbar und verletzlich wie man selbst.

Jacqueline: Generell kann ich sagen: Meine Trauer macht, was sie will. Sie überrollt mich immer wieder.

Marie: Ich konnte meine Wellen von Anfang an recht gut kontrollieren und mich meist entscheiden, ob ich die Gefühle gerade über mich hereinbrechen lassen will. Ich denke aber, das hat viel mit dem Sterben unserer Väter zu tun. Sarah und ich konnten uns ja in gewisser Weise auf den Tod einstellen.

Sarah: Ja, das denke ich auch. Bei mir ist es ähnlich. Als ob ich vor einer Tür stehen würde und die Wahl hätte: Gehe ich da jetzt rein oder nicht? Oft versuche ich, mich davor zu schützen.

Marie: Meine Trauerwellen sind momentan recht kurz. Schon während ich mich darauf einlasse, merke ich, dass es nicht so schlimm wird und bald vorbei ist. Aber man weiss in der Trauer ja leider nie, was morgen sein wird.

Jacqueline: Ist das neu, dass es bei dir so schnell vorbeigeht?

Marie: Ja. Noch vor kurzem habe ich manchmal eine ganze Stunde durchgeweint. Danach war ich immer total fertig. Vielleicht ist die Trauer derzeit weniger heftig, weil ich das erste Trauerjahr hinter mir habe. Es heisst ja: Nach dem ersten Jahr wird es besser. Eigentlich ist auch egal, warum: Was die Trauer aushaltbar macht, ist, dass sie in Wellen kommt. Wie hat sich eure Trauer im Laufe der Zeit verändert? Sarah, der Tod deines Vaters ist jetzt etwas über zwei Jahre her, richtig?

Sarah: Ja, genau. Ich denke, dass seine Krankheit in meinem Trauerprozess eine grosse Rolle spielt. Es ist über zwanzig Jahre her, dass uns das erste Mal erzählt wurde, er werde bald sterben. In all diesen Jahren hatte ich viele Schübe an Verlustängsten, immer wenn sich seine Gesundheit verschlechterte: Herzinfarkte, Nierenprobleme, Bandscheibenvorfälle, zunehmende Erblindung, starke chronische Schmerzen. Je näher der Tod meines Vaters rückte, desto grösser wurde meine Akzeptanz. Wir konnten zusehen, wie sich das Leben langsam aus ihm verabschiedete. Sein Körper war müde und mein Papa, dieser bis dahin unerschütterliche Lebensfreund, mochte nicht mehr. Was mir geholfen hat, war das Bewusstsein, die Zeit maximal genutzt zu haben. Ausserdem wurde mein Vater zunehmend sentimental und sagte uns ständig, wie sehr er uns liebte – wie in einem amerikanischen Kitschfilm. Dafür bin ich sehr dankbar. Als er starb, wussten wir, was wir einander bedeuten.

Wir weinen. Was ist das Leben doch für eine verrückte Angelegenheit: Es ist einfach immer da – bis es verschwindet. Genau in dem Moment werden wir gefragt, ob wir noch etwas bestellen möchten. Da ist sie wieder: diese Gleichzeitigkeit. Leben, Sterben. Alltag, Tod. Lachen, Weinen. Alles zusammen. Nur so ist es auszuhalten.

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«Einerseits war da die Freude darüber, dass er noch da war – und andererseits die Gewissheit, dass er sehr bald sterben würde»

Marie Hettich

Marie: Bei meinem Vater wurde unheilbarer Krebs diagnostiziert. Der Arzt sagte zu uns: Machen Sie sich noch ein paar schöne Monate. Mein Papa hat dann noch über sechs Jahre gelebt. Wunderschön und ein Wunder einerseits. Aber diese Zeit war für unsere Familie auch ein Albtraum. Meine Psychologin sagte mal zu mir: Einen solchen Ausnahmezustand kann man ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes Jahr lang aushalten. Aber kaum länger.

Jacqueline: Das glaube ich.

Marie: Für diese Zeit zwischen Leben und Tod fehlen unserer Gesellschaft auch die Worte. Wir waren alle überfordert: Einerseits war da die Freude darüber, dass er noch da war – und andererseits die Gewissheit, dass er sehr bald sterben würde. Nach guten Untersuchungsergebnissen waren wir maximal drei Tage lang erleichtert, dann kam die Angst vor der nächsten Untersuchung. Erst rückblickend habe ich verstanden, dass meine Trauer schon mit der Diagnose begonnen hat – obwohl mein Papa noch da war. Ich habe über sechs Jahre lang die Luft angehalten. Erst jetzt, nach seinem Tod, kann ich diese Zeit langsam aufarbeiten.

Jacqueline: Sarah, wie lange ging der Sterbeprozess deines Vaters? Kann man das überhaupt sagen?

Sarah: Schwierig, weil das Abschiednehmen sich über viele Jahre zog. Am ehesten würde ich die letzten drei Monate nennen, als mein Vater zwischen zuhause und Palliativstation pendelte und eine Pflegerin bei meinen Eltern eingezogen war. Trotzdem hatten wir selbst da noch viele gute und auch lustige Momente zusammen, etwa als wir ihn unerlaubt aus dem Krankenhaus entführten, um an der Elbe Fischbrötchen zu essen, oder als wir uns kleine Reime über Katheter ausdachten.

Jacqueline: Wie war das bei deinem Vater, Marie?

Marie: Ich glaube, mir wurde klar, dass er stirbt, als er ins Hospiz verlegt wurde. Es ist unbeschreiblich, zu wissen, dass der geliebte Mensch diesen Ort nicht mehr verlassen wird. Aber es war für mich auch eine magische, liebevolle Zeit, mit klarem Fokus auf das, was zählt. Ich kam meinem Vater noch einmal sehr nahe. Rückblickend ist es mir unbegreiflich, wie meine Mutter, meine Geschwister und ich das ausgehalten haben. Wir Menschen können ganz schön viel ertragen, wenn wir müssen.

Jacqueline: Ich fühle mich gerade richtig schlecht, weil ich so neidisch darauf bin, dass ihr einen Abschiedsprozess mit euren Vätern hattet. Obwohl ich natürlich weiss, dass das mindestens genauso schwierig ist. Ich war in Frankreich in den Ferien, als meine Schwester anrief und sagte: «Papa ist tot». Aus dem Nichts.

Marie: War er krank?

Jacqueline: Nein, er war 74, kerngesund. Und dann war er einfach weg. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt.

Jacqueline weint, den Kopf in den Händen. Wir alle weinen.

Jacqueline: Ich habe sofort Flüge gesucht. Ich wollte ihn unbedingt noch sehen und mich verabschieden. Doch beim nächsten Telefonat sagte mir die Partnerin meines Vaters, dass er schon kremiert wurde. Wegen Corona hätte das so schnell gehen müssen. Im Nachhinein hat sich das als Lüge herausgestellt; diese ganze Geschichte ist völlig irre und würde den Rahmen hier sprengen. Jedenfalls: Ich habe ihn nie mehr gesehen, obwohl es noch möglich gewesen wäre. Oft höre ich, das sei gut, dann würde ich ihn so lebensfroh in Erinnerung behalten …

Marie: … so ein Bullshit! Es ist schlimm, dass dir der Abschied verwehrt wurde. Diese Wahl sollte man haben.

Jacqueline: Genau. Ich wollte noch einmal seine Hand halten, auch wenn sie kalt gewesen wäre. Ich würde alles dafür geben, um noch einen Moment mit ihm zu haben. Dass er tot ist, begreife ich bis heute nicht. Natürlich will ich nicht wie ihr jahrelang mit dieser Belastung leben müssen. Aber ich stelle mir vor, dass es schöner ist, wenn man sich verabschieden kann. Und ihr denkt wahrscheinlich: Es wäre besser, wenn er einfach tot umgefallen wäre.

Sarah und ich schütteln die Köpfe. Nein, das denken wir nicht.

«Was hätte mein Kind mit seinem Opa erlebt? Vor allem dieser Gedanke bricht mir das Herz»

Marie Hettich

Sarah: Eure Väter waren jünger als meiner, das spielt auch eine Rolle. Mein Vater wurde fast achtzig und ich denke, so traurig ich auch bin: Der hatte ein gutes Leben.

Marie: Mein Vater ist mit Anfang sechzig gestorben. Wenn jemand verhältnismässig jung stirbt, ist das ein Faktor, der einen umtreibt. Ich frage mich oft: Was wäre noch alles gekommen? Wie hätte seine Rente ausgesehen? Was hätte mein Kind mit seinem Opa erlebt? Vor allem dieser Gedanke bricht mir das Herz. Wenn Grossväter mit ihren Enkeln unterwegs sind, kann ich manchmal kaum hinschauen.

Sarah: Marie, hast du deinen Vater tot gesehen?

Marie: Ja. Und du hast deinen sogar beim Sterben begleitet.

Sarah: Ich wollte weder meinen Vater noch meine Mutter allein lassen. Wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir dennoch, ich hätte das nicht erlebt. Ich fand es furchtbar, meinen Vater sterben zu sehen. Ich habe ihn nicht wiedererkannt.

Jacqueline: Wirklich?

Sarah: Er sah so anders aus. So abwesend, so dünn und die Haut war wie Pergamentpapier.

Jacqueline: Während des Sterbeprozesses verändert sich die Haut? Ich versuche oft, mir das alles detailliert vorzustellen.

Sarah: Ja, genau. Mein Vater wollte nicht mehr angefasst werden, er hat auch nichts mehr gesagt. Und er hat immer nach oben geguckt und die Hände hochgestreckt. Das ist nicht für jeden. Ich habe diese Bilder noch lange mit mir herumgetragen.

Marie: Uff.

Sarah: Als er abgeholt wurde, war ich allein zuhause – das hat mir dann komischerweise nichts ausgemacht. Meine Mutter ging in der Zwischenzeit mit einem Freund spazieren; für sie wäre das unerträglich gewesen.

Marie: Wirklich, das hat dir nichts ausgemacht? Die Vorstellung, dabei zusehen zu müssen, wie mein toter Vater abtransportiert wird, finde ich ganz schlimm.

Sarah: Es klingt komisch, aber das war einfach nicht mehr mein Vater.

Marie: Wer oder was war es dann?

Sarah: Eine tote Hülle. Ich weiss, das klingt hart. Aber ich fand das in dem Moment nicht so schlimm. Denn mein Vater ist – wie soll ich das beschreiben – übergangslos in mich reingeschlüpft. Und da ist er bis heute.

Jacqueline: Wenn ich dir so zuhöre, Sarah, ist es vielleicht ja doch gar nicht so schlimm, dass ich meinen Vater nicht mehr gesehen habe.

Marie: Ich habe das ganz anders erlebt.

Jacqueline: Erzähl!

Marie: Ich habe auch sehr lange gebraucht, um den Anblick meines toten Vaters zu verarbeiten. Mir ist immer wieder, zum Teil in den absurdesten Alltagsmomenten, dieses Bild in den Kopf geschossen. Oft verbunden mit Panik: Der Körper, wo ist der jetzt? Dann der Gedanke: Ach ja, der wurde verbrannt. Aber, stopp: Einfach verbrannt?! Mein Vater?! Meine Psychologin hat mir erklärt, dass das Gehirn immer wieder diese Bilder abspielt, um etwas Schockierendes zu verarbeiten. Was ich aber auch sagen kann: Für mich war es sehr wichtig und tatsächlich auch schön, ihn tot zu sehen.

Jacqueline: Warum?

Marie: Weil ich in seinem Gesicht gesehen habe, dass Sterben überhaupt nichts Schlimmes ist. Er hat leicht gelächelt. Das tröstet mich sehr.

Jacqueline: Wie schön! Hast du mit ihm geredet?

Marie: Ja, das kam ganz selbstverständlich aus mir heraus. Ich fand es erstaunlich, mit welcher Klarheit ich ans Totenbett gegangen bin. Ich glaube, die Situation war so gross und so existentiell, dass da gar kein Platz für irgendwelche Zweifel oder Ängste war. Am ersten Todestag meines Papas habe ich exakt um die Uhrzeit, als er gestorben ist, auf die Uhr geschaut. Ist das nicht verrückt?

Jacqueline: Das hatte ich am ersten Geburtstag meiner Tochter! Ich bin genau in der Minute, in der sie geboren wurde, aufgewacht.

Marie: Völlig verrückt!

«Es ist doch komisch, dass man in der Trauer Dinge tut, die man sonst niemals machen würde»

Jacqueline Krause-Blouin

Jacqueline: Darf ich etwas Komisches fragen? Hast du ein Foto gemacht?

Marie: Nein. Das hätte sich unheimlich angefühlt.

Jacqueline: Das verstehe ich. Ich hatte mehrmals den Albtraum, wie mein Vater verbrannt wird und dabei Angst hat vor dem Feuer. Sein Tod hat mich so überrumpelt, dass ich sogar zu einem Medium gegangen bin, obwohl ich bei solchen Dingen sonst skeptisch bin. Ich war sehr verzweifelt.

Marie: Und wie war das?

Jacqueline: Während des Rituals sagte die Frau: «Ich sehe einen Herrn, der noch sehr vital ist und mit mir flirtet.» Da wusste ich sofort: Das ist mein Vater! Das muss er sein! Er war der grösste Womanizer auf diesem Planeten. (lacht)

Marie: Unglaublich! Konnte sie dir helfen?

Jacqueline: Leider nicht. Sie meinte, mein Vater sehe ganz verschreckt aus und frage die ganze Zeit, wo er sei.

Marie: Und glaubst du das?

Jacqueline: Ich weiss es nicht. Ich glaube, dass er nicht tot sein will. Gleichzeitig denke ich: Wenn er so flirty war, ist das vielleicht ein Zeichen, dass er doch ganz gut klarkommt. (lacht) Es ist doch komisch, dass man in der Trauer Dinge tut, die man sonst niemals machen würde …

Sarah: Finde ich völlig nachvollziehbar.

Marie: Redest du mit deinem Vater?

Jacqueline: Nein. Aber immerhin habe ich noch alte Sprachnachrichten von ihm. Ich habe auch eine, in der er «Happy Birthday» für mich singt. Er ist kurz vor meinem Geburtstag gestorben und ich hatte eine grosse Hoffnung, dass noch eine Karte kommt. Dass er schon irgendwas vorbereitet hatte. Aber natürlich kam nichts.

Marie: Sarah, spürst du deinen Papa? Du hast ja vorhin so schön formuliert, er sei in dich reingeschlüpft.

Sarah: Ein Teil von mir denkt: Oh Gott, das ist so pathetisch! Aber ja: Der ist voll in mir.

Jacqueline: Jederzeit abrufbar?

Sarah: Ziemlich, ja. Am stärksten spüre ich seine Präsenz in unserem Haus in Frankreich. Das hat er über dreissig Jahre lang umgebaut. Wenn ich da bin, muss ich immer sofort weinen. In seiner kleinen Werkstatt ist alles noch an Ort und Stelle. Ich denke jedes Mal: Ach, all die Schräubchen, die er angefasst hat.

Jacqueline: Ich wünschte, ich hätte irgendetwas von meinem Vater. Einen Ort, wo ich hingehen könnte. Oder einen Teil der Asche. Bei uns zuhause in Los Angeles steht die Asche meines Schwiegervaters – in Amerika ist das ganz normal. Ich habe mir ein Armband mit Papas Handschrift machen lassen. Aber auch das half nicht.

Marie: Was ist mit Kleidung?

Jacqueline: Ich habe einen Pulli von ihm, den ich manchmal anziehe, sonst nichts. Marie, kannst du deinen Vater spüren?

Marie: In den ersten Monaten nach seinem Tod habe ich ihn sehr deutlich gespürt. Aber dann hatte ich lange keinen Zugang zu ihm. Das fand ich so schlimm, dass ich ständig verkrampft nach irgendeinem Zeichen gesucht habe. Inzwischen spüre ich ihn am ehesten in der Natur, wenn zum Beispiel die Sonne auf eine ganz bestimmte magische Art durch die Wolken bricht.

Sarah: Ja, das kenne ich.

Marie: Ich hatte auch schon einige ziemlich verrückte Erlebnisse. Im Traum zum Beispiel hat er mir mal eine riesengrosse, prächtige Ananas überreicht.

Jacqueline: Hast du gegoogelt, was das bedeutet?

Marie: Ja natürlich, sofort! Auf irgendeiner Traumdeutungsseite stand, die Ananas stehe für Leichtigkeit und Lebensfreude. Als würde er mir sagen: Genug getrauert – jetzt geniesst du wieder dein tolles Leben! Ich habe mir am nächsten Tag sofort eine Flasche Ananassaft gekauft.

«Neulich bin ich aufgewacht und dachte: Ich habe meinen Vater ewig nicht mehr angerufen!»

Sarah Lau

Sarah: Am achtzigsten Geburtstag meines Vaters sass ich in unserem Haus in Frankreich auf der Treppe – und plötzlich war da ein kleines Rotkehlchen. Bestimmt eine Viertelstunde lang hat es Stöckchen von A nach B getragen. Da dachte ich: Natürlich ist er das! Seinen Geburtstag würde er auch mit solchen Arbeiten rund ums Haus verbringen.

Jacqueline: Das mit den Vögeln habe ich auch. Immer, wenn so ein kleines Vögelchen vorbeikommt, sage ich zu meiner Tochter: Guck mal, da ist Opa! (alle lachen) An dem Tag, als mein Vater gestorben ist, habe ich eine Sternschnuppe gesehen. Natürlich war ich überzeugt: Das ist er! Gleichzeitig habe ich mich so lächerlich dabei gefühlt. Ich bin doch Journalistin.

Sarah: Stimmt, in unserem Beruf sind wir darauf konditioniert, alles zu hinterfragen. Ich schaue oft auf mich und denke: Ernsthaft?! Aber ich finde: Es tröstet mich, und das zählt.

Marie: Alles, was hilft, ist erlaubt!

Sarah: Mein letzter Traum von meinem Vater war leider schrecklich. Ich bin aufgewacht und dachte: Ich habe meinen Vater ewig nicht mehr angerufen! Und dann habe ich realisiert: Tja, das kann ich auch nicht mehr. Als er noch lebte, haben wir jeden Morgen um halb neun über Facetime einen Tee zusammen getrunken.

Marie: Diese Endgültigkeit ist brutal. Ich schrecke oft beim Einschlafen hoch und kann nicht fassen, dass mein Papa tot ist. Wie kann es sein, dass ein Mensch plötzlich weg ist? Ich glaube, so ganz begreift man das nie.

Jacqueline: Das Schlimmste finde ich, meinem Vater nicht davon erzählen zu können, wenn etwas Wichtiges passiert.

Marie: Ich erzähle es ihm einfach trotzdem. Irgendwie bin ich auch davon überzeugt, dass er eh alles mitbekommt. Aber ja: Oft ist es trotzdem niederschmetternd.

Sarah: Ja, das sind schlimme Momente. Mir tut dann lustigerweise aber eher mein Vater leid, weil ich denke, jetzt verpasst er etwas, das er super gefunden hätte.

Jacqueline: Diese Endgültigkeit macht mich so wütend. Gleichzeitig fühle ich mich so merkwürdig abgeklärt. Vor meinem eigenen Tod habe ich zum Beispiel überhaupt keine Angst mehr. Dafür umso mehr vor dem der anderen.

Sarah: Ja, ich habe auch mit Verlustängsten zu kämpfen. Angefangen hat das bei mir schon mit der Geburt meines Kindes. Immer wieder überfällt mich aus dem Nichts heraus die riesengrosse Angst, mein Sohn könnte sterben. Ich bin früher gern allein verreist – das hat sich verändert. Ich fühle mich zunehmend unwohl dabei und will schnell wieder nach Hause.

Jacqueline: Seit wir nach Los Angeles gezogen sind, habe ich noch grössere Verlustängste. Ständig rechne ich damit, dass mich ein schlimmer Anruf aus der Schweiz erreicht.

Marie: Diese Handy-Angst hatte ich auch lange. Am schlimmsten war es während der Krankheitsphase meines Vaters, da war ich ständig in Alarmbereitschaft. Seit meinem Tod ist es besser geworden.

Jacqueline: Du hast gerade «mein Tod» gesagt!

Wir halten alle inne, schauen uns schockiert an.

Marie: Ui. Aber ja: Sein Tod war tatsächlich auch ein bisschen meiner. Man sagt ja, dass, wenn eine geliebte Person stirbt, immer auch ein Teil von einem selbst mitstirbt. Ich habe mir nie vorstellen können, wie das gemeint ist, aber ein paar Monate nach dem Tod meines Papas habe ich es plötzlich verstanden: Ich bin mit keiner anderen Person so, wie ich mit meinem Papa war. Dieses Sich-Spiegeln in ihm, diese Version von mir existiert jetzt nur noch in meiner Erinnerung. Ich war immer gern die Marie, die ich mit ihm war – und die gibt es nicht mehr.

Sarah: Mir geht es da genau gleich. Mein Vater fand alles so spannend, was ich erzählt habe! Er hätte sich sogar dafür interessiert, wenn ich einen neuen Kühlschrank gekauft hätte. (alle lachen)

Marie: Bei meinem Papa habe ich immer gespürt, wie stolz er auf mich war. Ich musste nichts Besonderes leisten – er fand mich einfach gut, so wie ich bin.

Jacqueline: Mein Papa hat sogar Artikel von mir gesammelt und aufgehängt! Es klingt so doof, aber ich fand mich als Tochter von ihm megacool. Ich war so lustig mit ihm!

«Fast habe ich das Gefühl: Marie trauert viel besser als ich. Dabei ist dieses Vergleichen lächerlich»

Jacqueline Krause-Blouin

Marie: Verrückt, dieses bewusste Erinnern: Auf der reinen Gefühlsebene macht es manchmal fast keinen Unterschied, ob die Person noch lebt oder tot ist. Wenn ich zum Beispiel Fotos von meinem Papa anschaue, beruhigt mich das sehr. Erst, wenn sich der Kopf einschaltet, und mich daran erinnert, dass der Mensch tot ist, wird es schlimm.

Jacqueline: Marie, ich habe den Eindruck, dass du irgendwie professionell trauerst. Du machst es bewusst, hinterfragst und nimmst dir Zeit. Ich bewundere das. Fast habe ich das Gefühl: Marie macht es viel besser als ich. Dabei ist dieses Vergleichen lächerlich.

Sarah: Du hast von deiner Therapeutin viel mitgenommen, oder, Marie?

Marie: Ja, sehr viel. Und ich habe auch viel gelesen – das hilft mir gegen meine Ohnmacht. Ich will mich dem Ganzen nicht einfach ausliefern, sondern Wege finden, um es irgendwie erträglicher zu machen. Die Trauer ist ja eh da – und sie staut sich an, wenn ich mich ihr nicht stelle. Lieber weine ich immer wieder eine Runde und fühle mich hinterher freier. Das finde ich eh wichtig: Die Angst vor dem Heulen zu überwinden. Weinen hilft einfach.

Sarah: Mir hilft auch oft mein Sohn dabei, Zugang zu meiner Trauer zu finden. Er ist mittlerweile elf – und macht das selbst ganz intuitiv: Wenn er traurig ist, dann ist er einfach traurig, und sagt das auch. Bei «Minecraft«, seinem Lieblingscomputerspiel, hat er sogar ein Grab für meinen Vater angelegt. Völlig selbstverständlich für ihn! Er merkt es manchmal schneller als ich selbst, wenn ich um meinen Vater trauere. Kürzlich habe ich beim Mittagessen zu ihm gesagt, dass irgendwas los sei, ich aber nicht wisse, was. Und dann sagte er: «Vielleicht bist du gerade traurig, weil Opi tot ist?» Er kam zu mir rüber, nahm mich in den Arm und meinte: «Hör mal, ist doch voll okay! Das ist ja auch traurig!»

Jacqueline: Meine Tochter hat auch einen so selbstverständlichen Umgang mit allem. Sie sagt immer: «Opa ist ja im Himmel, und wenn du in den Himmel gehst, dann nimmst du meine Taschenlampe mit und dann leuchtest du runter, damit ich weiss, dass du es bist.» Mich überfordert das manchmal. Ich bin eigentlich sehr in Kontakt mit meinen Gefühlen, aber beim Tod ist es anders. Ich denke auch manchmal: Jetzt ist es über drei Jahre her, komm drüber hinweg!

Sarah: Jackie, ist dir das Grab deines Vaters wichtig?

Jacqueline: Total! Ich würde jeden Tag hinfahren, wenn ich könnte. Wenigstens habe ich sehr schöne Erinnerungen an die Beerdigung. Ich habe ein Lied gesungen, das meinen Vater und mich immer verbunden hat. Und es war erstaunlich: Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Kraft gespürt. Und du, Sarah? Gehst du oft ans Grab?

Sarah: Ich bin überhaupt kein Grab-Typ. Ich war noch kein einziges Mal dort. Auch nicht an der Bestattung. Ich war dabei, als wir den Baum im Friedwald ausgesucht haben. Aber seitdem verwehre ich mich. Ich bin trotzig und finde, mein Vater gehört nicht unter die Erde. Wahrscheinlich brauche ich noch Zeit.

Marie: Hast du deshalb deinem Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen?

Sarah: Nein, für ihn ist das sicher in Ordnung. Er weiss, dass ich mit ihm in Verbindung bin. Wir haben nach seinem Tod ein Abschiedsfest im Garten meiner Eltern gefeiert – ich finde, das hat ihm sehr entsprochen. Wie ist das bei dir mit dem Grab, Marie?

Marie: Von meinem Elternhaus in Deutschland fährt man rund eine halbe Stunde Auto bis zum Friedwald. Wenn ich zu Besuch bei meiner Familie bin, habe ich oft keine Lust, mich direkt wieder ins Auto zu setzen. Aber ich glaube, das ist oft auch eine Ausrede. Ich drücke mich schon davor.

Jacqueline: Du hast also nicht das Gefühl, du musst da jedes Mal vorbeigehen?

Marie: Nein. Aber ich überlege mir jedes einzelne Mal, ob ich fahren soll. Manchmal frage ich mich, ob es nicht wichtig für mich und meinen Trauerprozess wäre, öfter ans Grab zu gehen. Ich war noch nie alleine dort. Das steht bald an, denke ich.

Jacqueline: Darf ich euch noch etwas fragen? Hat sich durch den Tod eures Vaters die Beziehung zu eurem Partner verändert?

Jacqueline spricht mittlerweile sehr leise. Sie nuschelt fast. Wir fühlen uns abgekämpft. Die Trauer der anderen vermischt sich mit der eigenen. Sie wird grösser. Sagt man nicht, geteiltes Leid sei halbes Leid?

Sarah: Ich fühle mich meinem Mann verbundener, weil wir so viel zusammen durchstehen. Und gleichzeitig hat der Partner natürlich seinen ganz eigenen Umgang mit dem Tod, und gegebenenfalls sein eigenes Päckchen. Das passt nicht immer gut zusammen.

Marie: Ich wünsche meinem Freund natürlich nicht, dass er eine geliebte Person verliert. Aber manchmal denke ich, alles wäre einfacher, wenn er so eine grosse Trauer auch schon erlebt hätte. Ich habe ihm oft vorgeworfen, dass er mich zu selten nach meiner Trauer fragt. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, er könnte vergessen haben, was ich gerade durchmache.

Jacqueline: Ich glaube nicht, dass ein geteiltes Schicksal die Beziehung einfacher macht. Der Vater meines Mannes ist kurz vor der Geburt unserer Tochter gestorben – mein Mann hatte überhaupt keine Zeit zu trauern. Manchmal glaube ich, es tut ihm weh, dass ich meiner Trauer mehr Raum geben konnte. Gleichzeitig bin auch ich manchmal eifersüchtig auf ihn, weil er zwanzig Jahre älter ist als ich – und mit seinem Vater zwanzig Jahre mehr Zeit hatte. So kontraproduktiv.

Sarah: Ich kenne es auch umgekehrt: Man findet die Geschichten von anderen noch viel schlimmer und relativiert die eigene. Man sollte das Vergleichen einfach bleiben lassen.

Marie: Mein Freund hat mir nach dem Tod meines Papas den Rücken freigehalten und den grössten Teil der Betreuungsarbeit übernommen. Erst rückblickend habe ich gemerkt, dass ich gar nicht so viel allein sein wollte und ihn mehr gebraucht hätte. Aber wie hätte das gehen sollen – einer musste sich schliesslich um unser Baby kümmern. Gleichzeitig kam mein Freund selbst viel zu kurz: hier der Säugling, da die trauernde Partnerin. Es ist irre komplex, als Paar mit Trauer umzugehen.

Jacqueline: Total. Eine Zeit lang habe ich sehr viel geweint. Mein Mann hat mich dann immer leise gefragt: «Your dad?» Ich dachte sofort: Ist das nicht okay? Heule ich zu viel? Dabei hat er nur gefragt, worum es gerade ging. Für mich war alles ein Angriff.

Sarah: Mein Mann sagt immer wieder, wenn wir zusammensitzen: So, und jetzt trinken wir auf deinen Vater! Das ist so schön, wenn Menschen in guten Momenten die verstorbene Person erwähnen.

Marie: Das ist wirklich das Allerschönste!

Jacqueline: Sagt mal, seid ihr langsam auch komplett k. o.? Ich fühle mich wie nach einem richtig schlimmen Streit.

Marie: Ich habe mal gelesen, dass Trauern für den Körper so anstrengend sei wie eine schwere Krankheit.

Jacqueline: Das glaube ich sofort. Ich fühle mich immer so bleiern.

Sarah: Bleiern – genau das ist es.

Marie: So ganz schwere Gliedmassen. Schwerfällig und schwach.

Sarah: Auch das Gesicht!

Jacqueline: Ich habe immer in meiner Mitte so ein Loch.

«Meine Psychologin riet mir zu einer Teil-Krankschreibung. Das hat mich gerettet»

Marie Hettich

Marie: Noch eine ganz konkrete Frage: Wenn alles möglich gewesen wäre – wie hättet ihr nach dem Tod eures Vaters am liebsten gearbeitet?

Jacqueline: Um ehrlich zu sein, hätte ich gern ein halbes Jahr überhaupt nicht gearbeitet und wäre irgendwo hingegangen, um aktiv zu trauern. Ich wollte niemanden sehen und auch nicht von allen hören, dass es ihnen leidtut.

Marie: Du warst damals annabelle-Chefredaktorin. Und deine Tochter war nicht einmal anderthalb.

Jacqueline: Ich kann mich kaum mehr an alles erinnern. Aber ich weiss noch, dass ich unsere Redaktionsassistentin darum bat, mir alles vom Leib zu halten. Ich wollte mich rausnehmen, hatte aber das Gefühl: Mein Team braucht mich. Deshalb arbeitete ich ziemlich nahtlos weiter. Nach der Beerdigung fuhren wir immerhin für zwei Wochen in die Ferien.

Marie: Meine Psychologin riet mir zu einer Teil-Krankschreibung, um nicht in ein Burnout zu schlittern. Das hat mich gerettet. Unser Kind wurde zu der Zeit nachts noch zig Mal wach und ich stillte noch – mein Energietank war also sowieso schon ziemlich leer.

Sarah: Ich hätte mir eine Teil-Krankschreibung niemals zugestanden. Dabei ist das absolut angemessen.

Jacqueline: Diese drei Trauertage, die man im Job bekommt, sind ein Witz! Drei Tage – und dann hast du bitte wieder zu funktionieren. Das schwingt ja implizit mit.

Sarah: Stellt euch vor: Ich habe diese Tage nicht einmal genommen, weil ich dachte, ich arbeite doch eh schon Teilzeit. Ich wollte auch auf keinen Fall, dass jemand denkt: Ah, da kommt Sarah, die Traurige.

Jacqueline: Ja, ich kenne das. Aber dann ist man pikiert, wenn niemand etwas sagt.

Sarah: Natürlich war ich deswegen auch ab und zu beleidigt.

Marie: Man tut so, als wäre nichts – ist dann aber beleidigt, wenn alle anderen auch so tun. (alle lachen)

«Es ist so schön, wenn jemand ganz selbstverständlich immer mal wieder fragt: Wie gehts dir denn mit allem?»

Sarah Lau

Sarah: Mich hat es oft traurig gemacht, dass alles wie gehabt weitergeht.

Jacqueline: Ja, das ist furchtbar. Die Welt interessiert es halt nicht. Es interessiert niemanden! Und irgendwann geht es dann wirklich weiter.

Marie: Hin und wieder denke ich: Schon krass, wie wenig noch nachgefragt wird. Als wäre das Thema irgendwann vom Tisch. Ich bin davon überzeugt: Die Trauer wird nie ganz aufhören. Das Vermissen bleibt – bis wir irgendwann selbst tot sind.

Sarah: Ich finde, unserer Gesellschaft fehlt da die Sensibilität. Es ist so schön, wenn jemand ganz selbstverständlich immer mal wieder fragt: Wie gehts dir denn mit allem? Rückblickend erkenne ich, dass ich selbst das auch zu wenig auf dem Schirm hatte, wenn Menschen aus meinem Umfeld Angehörige verloren haben.

Marie: Ja, ich auch. Man versteht eben erst, wie es ist, wenn es einen selbst trifft. Etwas möchte ich von euch noch wissen: Hat der Tod eures Vaters eure Leben grundsätzlich verändert? Hat er irgendetwas ausgelöst?

Sarah: Mir ist dieses Egozeugs wie Macht und Karriere nicht mehr wichtig. Ich habe mich vor ein paar Jahren dazu entschieden, dass ich in keiner Leitungsfunktion mehr sein möchte und mehr Zeit zum Schreiben und für mich selbst haben will. Schon mit der Krankheit meines Vaters hat sich da eine Prioritätenverschiebung abgezeichnet.

Jacqueline: Der Tod meines Vaters hat bei der Entscheidung, als Chefredaktorin zurückzutreten, sicher eine Rolle gespielt. Mir wurde meine Erschöpfung dadurch sehr deutlich aufgezeigt. Marie, wie alt war dein Kind, als dein Vater gestorben ist?

Marie: Als wir erfahren haben, dass der Tumor zurück ist und man nichts mehr machen kann, war unser Kind vier Monate alt. Ein halbes Jahr später ist er gestorben.

Jacqueline: Jemand sagte mal zu mir, es sei hilfreich, Kinder zu haben, wenn man trauert. Denn sie würden einen dazu zwingen, weiterzumachen. Ich finde, genau das Gegenteil ist der Fall. Für mich ging schwer zusammen, in einem Moment die Mutter und im anderen die trauernde Tochter zu sein. Natürlich hat es mich auch immer wieder getröstet, mit meiner Tochter Zeit zu verbringen, aber ich hatte auch Schuldgefühle, weil ich so oft vor ihr geweint habe.

Marie: Ich habe vor meinem Kind komischerweise ganz selten geweint. An meinen Betreuungstagen war ich im Mama-funktionier-Modus. Die Trauerwellen kamen eher an meinen Job-Tagen. Wahrscheinlich hatte ich das Gefühl, dort hätte ich mehr Luft. Aber ich war damals auch in keiner Leitungsfunktion.

Jacqueline: Ja, das macht sicher einen Unterschied. Bei mir war es genau umgekehrt.

«Immer wieder gibt es Momente, in denen ich denke: Hat das alles gar nichts gebracht? Auf einmal bin ich wieder ganz fragil»

Sarah Lau

Marie: Ich merke erst jetzt, dass mein Kind und ich viel aufzuholen haben. Die tiefe Liebe zu ihm spüre ich eigentlich erst, seit ich nicht mehr Tag und Nacht an meinen Papa denken muss. In der Zeit um seinen Tod herum haben mich meine Betreuungstage extrem herausgefordert. Ich habe immer die Stunden gezählt, bis mein Freund nach Hause kam. Ich hatte oft Angst, dass ich plötzlich zusammensacke und unser Baby nicht mehr versorgen kann. Sarah, hattest du auch ab und zu das Gefühl, dass alles zu viel wird?

Sarah: Unser Sohn war neun, als mein Vater gestorben ist. Er war also längst nicht mehr so bedürftig wie eure Kinder. Aber ja, die Ansprüche an sich selbst bleiben ja oft dieselben – man will immer für alle da sein, weiterhin eine gute Freundin sein und so weiter. Aber irgendwann war ich am Ende meiner Kräfte. Zu der Zeit bin ich auch mal allein in das Haus nach Frankreich gefahren, ohne meine Familie. Ich musste erstarken.

Marie: Bist du erstarkt?

Sarah: Ja. Ich bin ganz gut bei mir, finde ich. Und trotzdem gibt es immer wieder überraschend Momente, in denen ich denke: Hat das alles gar nichts gebracht? Auf einmal bin ich wieder ganz fragil.

Marie: Diese schrecklichen Wieder-alles-auf-null-Momente. Was machst du dann?

Sarah: Ich muss rausgehen. Einfach allein an die frische Luft. Ich gönne mir mittlerweile allgemein mehr Ruhe und stehe mehr zu meinen Bedürfnissen. Ich bin schneller erschöpft. Aber das ist okay.

Marie: Ich habe damals oft gedacht: Mein Papa liegt im Sterben, ich habe ein kleines Baby – und all das soll neben dem Job herlaufen? Das ist doch das Leben! Also sollte es auch im Zentrum stehen dürfen. Unser Gesellschaftssystem macht mich manchmal fertig. Überall dieser Fokus auf Produktivität.

Jacqueline: Ich kenne das Gefühl. Aber ich bin auch hin- und hergerissen, weil ich denke: So viele Menschen kriegen Kinder, so viele verlieren irgendwann Angehörige – also nimm dich nicht so wichtig.

Marie: Man nimmt ja nicht sich selbst wichtig, sondern die Liebe zu den Mitmenschen. Diese Zeit fehlt uns: Zeit, damit wir uns alle gut umeinander kümmern können. Und ja, auch um uns selbst.

Sarah: Eine Kapitalismuskritik – zu Recht!

Marie: Meine letzte Frage: Wo steht ihr am heutigen Tag mit eurer Trauer?

Sarah: Ich glaube, ich kann die Frage gar nicht wirklich beantworten, weil ich nicht weiss, was noch kommt. Mein Schmerz hat sich auf jeden Fall beruhigt, so viel kann ich sagen.

Jacqueline: Bei mir hat sich der Schmerz gar nicht beruhigt. Er kommt einfach seltener. Aber wenn er kommt, ist er so gross wie am Tag des Todes.

Im Bus nach Hause fühle ich mich durchgeschüttelt. Ich bin verspannt, mein Herz ist schwer. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als hätte ich einen schlimmen Muskelkater. Drei Stunden habe ich darauf gewartet, dass sich im Gespräch eine Leichtigkeit einstellt, irgendetwas Versöhnliches. Aber nein. Nichts dergleichen. 

Am nächsten Tag sehe ich Jacqueline im Büro und wir halten uns beim Hallosagen kurz an den Händen. Und da passiert es dann doch für einen kleinen Moment: Ich spüre Trost.

Hier gibts den Kontakt zu vielen verschiedenen Schweizer Selbsthilfegruppen rund um die Themen Tod und Trauer. Auf sanasearch.ch findet ihr krankenkassenanerkannte Therapeut:innen – es kann auch explizit nach Schlagworten wie «Trauerbegleitung» gesucht werden.

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