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True-Crime-Podcasts: Warum uns Verbrechen faszinieren

Zeitgeist

True-Crime-Podcasts: Warum uns Verbrechen faszinieren

Mord geht immer. True-Crime-Podcasts erzählen meist von Gewalt gegen Frauen – und werden vor allem von Frauen gehört. Warum?

Wäre dieser Text ein True-Crime-Podcast, müsste an seinem Anfang eine sogenannte Triggerwarnung stehen. «Die folgenden Seiten», hiesse es darin, «nehmen Bezug auf explizite Gewaltdarstellungen, die Rekonstruktion von Morden, die Beschreibung von Stich- und Schusswunden sowie Vergewaltigungen. Für Leser:innen könnte die Geschichte eine traumatisierende Wirkung entfalten. Passt auf euch auf. Und jetzt viel Spass!»

Hunderte Podcasts beschäftigen sich allein im deutschsprachigen Raum mit Verbrechen, die wirklich passiert sind. Viele beginnen beinahe wörtlich mit solchen Triggerwarnungen im oben beschriebenen Stil. True Crime ist der Nervenkitzel der Stunde.

Veritables Geschäftsmodell statt Schmuddelimage

Die Aufarbeitung und Ausweidung echter Kriminalfälle hat sich vom Schmuddelimage einschlägiger Schundblätter und Internetforen befreit und zu einem veritablen Geschäftsmodell entwickelt.

 

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«Häufig handeln die erzählten Geschichten von Morden an Frauen. Frauen sind es ausserdem, die am häufigsten zuhören»

Öffentlich-rechtliche Radiosender und grosse Zeitungsverlage produzieren und vermarkten ebenso eigene Formate wie Start-up-Studios und Amateur-Detektiv:innen. Häufig handeln die erzählten Geschichten von Mord, häufiger noch von Morden an Frauen. Frauen sind es ausserdem, die am häufigsten zuhören.

Das Phänomen True Crime beschränkt sich nicht auf Podcasts. In den letzten Jahren hat es eigene Zeitschriften, Fernsehkanäle und sogar Messen hervorgebracht, ausserdem zahllose Sachbücher, Dokumentarfilme und -serien.

Mit «Tiger King» und «Making a Murderer» haben zwei davon erheblich zur Etablierung von Netflix beigetragen. Dessen Konkurrentin Disney+ hat mit «Only Murders Left in the Building» gerade erst eine Comedyserie veröffentlicht, in der sich Schauspieler:innen wie Steve Martin und Selena Gomez an einer True-Crime-Parodie versuchen.

Hunderte Millionen Downloads

Podcasts aber sind die am schnellsten wachsende Sparte des Genres: leicht zu produzieren, ebenso leicht zu konsumieren. Ein Podcast war es ausserdem, der den jüngsten Boom um wahre kriminelle Begebenheiten überhaupt erst ausgelöst hat.

Hunderte Millionen Mal wurden die bisherigen 32 Folgen von «Serial» seit 2014 heruntergeladen und gestreamt. Gefühlt ebenso viele Kopien folgten auf das Format der New Yorker Journalistin Sarah Konig. Vor allem die erste Staffel des Podcasts zeigte mit ihrer Dokumentation eines umstrittenen Mordes neue Wege des Storytellings und Möglichkeiten der Verbindung zwischen Erzählenden und Zuhörenden auf.

Teile des Publikums lauschten nicht nur gebannt, sondern liessen sich als Hobby-Ermittelnde in den dargestellten Fall hineinziehen. Fast hätten neue Erkenntnisse einen zweiten Prozess für den verurteilten Mörder nach sich gezogen. In buchstäblich letzter Instanz schob das US-Supreme-Court diesem Ansinnen einen Riegel vor.

Offenherzige Parteinahme und Ausführlichkeit

Viele True-Crime-Podcasts widmen sich seitdem vermeintlichen Skandalurteilen oder rollen sogenannte Cold Cases neu auf: Verbrechen also, die niemals aufgeklärt wurden. Andere beschränken sich auf die Nacherzählung historischer Fälle. Oberstes Gebot ist ungeachtet des Formats die Ausführlichkeit, häufig kombiniert mit offenherziger Parteinahme.

Fälle und ihre Protagonist:innen werden beschrieben und bewertet, Motive durchleuchtet und infrage gestellt. Opfer, Angehörige, Täter:innen: alles und alle kommen zur Sprache. Vorausgesetzt, sie sind noch am Leben und bereit, sich mit Journalist:innen, Prominenten, Quereinsteiger:innen und anderen Podcast-Hosts zu unterhalten.

Die vorhin erwähnte Triggerwarnung erfüllt dabei eine dreifache Funktion. Sie weist darauf hin, dass es gleich ans Eingemachte geht, eröffnet den Spannungsbogen der Geschichte und dient obendrein als Freifahrtticket, das sich die Macher:innen von True-Crime-Podcasts selbst ausstellen.

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«Also lässt sich das Publikum in den Schlaf töten von Formaten, die ‹Mordlust›, ‹Mord auf Ex› oder ‹Crime Junkie› heissen»

Ihre Botschaft lautet: «Wir haben euch gewarnt. Wer jetzt noch weiterhört, tut das auf eigene Gefahr.» Zwei Sätze, die in der Popkultur schon viele Menschen verführt und nur selten jemanden abgeschreckt haben.

Joggen, Bügeln und Zahnpflege mit besonderem Thrill

Also lässt sich das Publikum in den Schlaf töten von Formaten, die «Mordlust», «Mord auf Ex» oder «Crime Junkie» heissen. Mit journalistisch seriöser wirkenden Sendungen wie «Zeit Verbrechen» schlagen zahllose Zuhörer:innen die Zeit tot. Dem Joggen, Bügeln und Reinigen der Zahnzwischenräume verleihen «Zeichen des Todes», «Stimmen im Kopf» oder «Reich, schön, tot» einen besonderen Thrill.

«Crimes of Passion» und «Love Kills» heissen hingegen Podcasts, die sich an einer Romantisierung des Morbiden und Gewalttätigen versuchen. Hier soll Mord nicht zuletzt sexy sein – was häufig Erzählweisen nach sich zieht, die sexistische Klischees bedienen. Eher grobschlächtig, aber umso pointierter fragt ein Format aus Österreich: «Darf ’s ein bisserl Mord sein?» Aber sicher doch. Mord geht immer.

Spannungsaufbau durch Pausen und Musik

«Man kann mit Podcasts ganz anders Spannung aufbauen als in Texten», sagt Janne Knödler. «Durch Pausen, Musik oder veränderte Stimmlagen.» Die Hamburger Journalistin ist Redaktorin beim Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» und zeichnete zuvor für den Podcast «Wild Wild Web» über den exzentrischen Internet-Millionär Kim Dotcom verantwortlich.

Der ehemalige Hacker erlangte seinen Reichtum vor allem durch den Betrieb eines Onlineportals, das einmal als erste Anlaufstelle für illegale Film- und Musikdownloads galt. Während das FBI wegen mutmasslicher Copyright-Verletzungen gegen Dotcom ermittelt, inszeniert dieser sich als Vorkämpfer des freien Internets. Gern auch an der Seite von Edward Snowden oder Julian Assange.

«Kim war immer da, wenn sich das Internet grundlegend verändert hat», sagt Knödler. «Früher war dort alles für alle frei verfügbar. Heute zahlen wir für Netflix, Spotify und Amazon. Wie kam es dazu?» Auch solchen Fragen geht «Wild Wild Web» nach.

Der Podcast erzählt vom Werdegang seiner Hauptfigur, aber ebenso vom Hacker- und Start-up-Milieu, dem sie entstammt. Es geht um den Onlineboom der frühen Nullerjahre und den Crash, der wenig später folgte, um geistiges Eigentum, neureiches Geprotze und die Helikopter, mit denen die Polizei einst auf Dotcoms Anwesen landete.

Der Reiz des Echten

Nicht «das Leid einzelner Leute» soll das Publikum laut Knödler abholen, sondern eine kleine Kulturgeschichte des Internets. Obwohl die Autorin ihr Projekt eher in der Tradition «grosser amerikanischer Storytelling-Podcasts» wie «Serial» sieht, vereint es doch vieles auf sich, was True Crime im Idealfall ausmacht.

 

«Gefängnis, lebenslang. Diese Aussicht ist nicht lustig oder unterhaltsam»

«Wild Wild Web» ist schnell und spannend erzählt, ausführlich, aber nicht ausschweifend, interessiert immer auch an den grossen Ungerechtigkeiten und Allgemeingültigkeiten, die sich aus der Story ableiten lassen. Ein skurriler Krimi, ganz ohne Mord.

Und natürlich profitiert dieser Krimi vom Reiz des Echten, davon, dass die Geschichte wirklich passiert ist und immer noch passiert. «Wir mussten uns häufig bewusst machen, was für Kim auf dem Spiel steht», sagt Knödler. «Eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Diese Aussicht ist nicht lustig oder unterhaltsam.»

Je grösser das Leid, desto unterhaltsamer der Podcast

Hört man sich durch die Schweizer True-Crime-Charts von Anbietern wie Spotify, könnte man jedoch einen ganz anderen Eindruck gewinnen. Je grösser das Leid der Opfer, desto lustiger und unterhaltsamer die Podcasts.

Ausgesprochen gut gelaunt kommt etwa «Mordlust» daher, in dem die Moderatorinnen Paulina Krasa und Laura Wohlers einander mit Schauergeschichten überraschen. In flapsigem Tonfall streuen sie auch persönliche Anekdoten ein.

Dass dabei viel gelacht wird, nimmt sogar die Triggerwarnung vorweg. Man wolle natürlich nicht despektierlich erscheinen, brauche den «comic relief» aber, um es durch die eigene blutige Sendung zu schaffen.

Nach ähnlichem Prinzip funktioniert die ebenso erfolgreiche Produktion «Mord auf Ex». Auch hier sprechen zwei Moderatorinnen über oft grausige Verbrechen, erweitert jedoch um den Twist, dass Leonie Bartsch und Linn Schütze vorgeben, sich im Verlauf ihres Podcasts ordentlich einen hinter die Binde zu giessen.

Guantanamo und Wohlfühlmatratzen

Die persönlichen Anekdoten sind dabei kaum noch von den Werbeblocks zu unterscheiden. So beginnt zum Beispiel eine Folge über das US-Gefangenenlager Guantanamo damit, dass die Journalistinnen berichten, wie gut es sich auf ihren neuen Wohlfühlmatratzen schläft. Gute Nachrichten auch für alle Interessierten: Der Hersteller erlaubt hundert Tage Probeliegen und gewährt mit dem Rabattcode «mordaufex» fünf Prozent Preisnachlass. Pröstchen!

«Mord auf Ex» macht das Gespräch über Mordserien und andere Gewalttaten zur Podcast-Erfahrung, die an das Kinokonzept der Ladies’ Night erinnert. Während dort jedoch zum lauwarmen Mini-Prosecco meist eine ebenso lauwarme Romcom gezeigt wird, schmücken sich Bartsch und Schütze mit demselben True-Crime-Prädikat, das auch ihre «Mordlust»- Kolleginnen und die Moderator:innen zahlreicher verwandter Formate für sich beanspruchen.

Voyeurismus statt Einordnung

Nicht nur die Distanz zu Mord und Täter:innen geht dabei mitunter verloren, sondern auch der respektvolle Umgang mit Opfern und Angehörigen. Ein voyeuristischer Blick verdrängt die Einordnung des Besprochenen.

Dass dabei auch die Grenzen zwischen Journalismus, Unterhaltung und Produktplatzierung aufweichen, gehört zur Geschäftspraxis. Die erwähnten Sendungen sind weniger auf ihre Inhalte als vielmehr auf ihre Moderatorinnen zugeschnitten.

«Mit dem Reiz des Echten geht auch eine Verantwortung gegenüber dem Echten einher»

Wie Popstars blicken sie von Plakaten herunter, gehen auf Podcast-Tournee und bewerben die Fanartikel aus ihren Onlineshops. Damit geben sie nicht nur der deutschsprachigen True-Crime-Szene ein Gesicht, sondern sie stehen in der Podcast-Landschaft auch für ein neues Erfolgsmodell abseits des männlich dominierten Feldes der sogenannten Laber-Podcasts.

Wo Comedians wie Felix Lobrecht und Jan Böhmermann jedoch über Nichtigkeiten plaudern, geht es in den Krimiformaten oft um Femizid, Vergewaltigung und andere Gewaltverbrechen.

Mit dem Reiz des Echten geht auch eine Verantwortung gegenüber dem Echten einher. Viele True-Crime-Podcasts werden ihr nicht gerecht. Wie US-amerikanische Forscherinnen herausgefunden haben, hören Frauen nicht allein deshalb häufiger True-Crime-Formate als Männer, weil sie grössere Empathie für die überwiegend weiblichen Opfer empfinden.

Unterhaltung statt Aufklärung

 Es geht ihnen tatsächlich auch um Informationen. Nach welchem Muster gehen Gewalttäter vor, wie finden sie ihre Opfer, und wie kann man sich schützen? Frauen, sagt die Kriminalpsychologin Amanda Vicary, suchen in True Crime nach Antworten auf solche Fragen und konfrontieren sich zugleich mit eigenen Ängsten.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Triggerwarnungen, mit denen viele True-Crime-Podcasts beginnen, eher höhnisch als hilfreich. Oft sind die darauffolgenden Gespräche und Geschichten nur oberflächlich an Aufklärung interessiert. Selten steht der sensible Umgang mit Opfern und Angehörigen über der Unterhaltung von Moderator:innen und Publikum.

Janne Knödler möchte keine pauschalen Vorwürfe aussprechen, glaubt aber an eine journalistische Verantwortung, die über die Grenzen der True Crime hinaus gilt. «Bei Beschreibungen von Leid und Gewalt sollte man sich fragen, was man damit erreichen will – und ob man damit Schaden anrichten kann. Die Antwort lautet nämlich ziemlich sicher: Ja.»

Redaktionstipps: Diese 6 True-Crime-Podcasts empfehlen wir euch

«Dr. Death»

«Something Was Wrong»

«Stolen: The Search for Jermain»

«You're Wrong About»

«Die Zeit: Verbrechen»

«Serial»

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