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Neuropsychologin über Sammelfieber: «Oft besinnt man sich auf die Kindheit»

Zeitgeist

Neuropsychologin über Sammelfieber: «Oft besinnt man sich auf die Kindheit»

Shirley M. Mueller kennt die neuropsychologischen Kräfte, die hinter dem Sammeln von Dingen stecken: Der Kitzel besteht nicht darin, etwas zu bekommen – sondern darin, sich danach zu sehnen.

annabelle: Shirley Mueller, wie kam es, dass Sie sich als Neuropsychologin dem Sammelfieber widmen?
Shirley M. Mueller: Weil ich selbst eine Sammlerin bin! Seit 1989 horte ich chinesisches Porzellan und habe bemerkt, dass ich in diesem Zusammenhang manchmal für mich untypisch irrationale Entscheidungen treffe. Damals schrieb ich für eine Investmentpublikation und stellte fest, dass auch Menschen, die sozusagen Geld sammeln, immer wieder überraschend irrational entscheiden – mein Interesse war geweckt. Ich wollte wissen, welche neuropsychologischen Kräfte im Spiel sind.

Die Motive, weshalb wir sammeln, sind ganz verschieden, wie die Ausstellung «Collectomania – Universen des Sammelns» zeigt, die derzeit im Museum für Gestaltung in Zürich läuft. Woran entscheidet sich denn, ob wir uns chinesischem Porzellan, Kafirahmdeckeli oder Pokémonkarten verschreiben?
Oft besinnt man sich unbewusst oder bewusst auf die Kindheit. Vielleicht erinnert Sie die Briefmarkensammlung an Ihren Vater. In meinem Fall schaute ich den Film «Die Herberge der Glückseligkeit» und wollte fortan als Missionarin nach China. Da ich mein Kind jedoch nicht in einem kommunistischen Staat aufwachsen lassen wollte, zerschlug sich das Ganze und ich kompensierte meine Sehnsucht mit dem Sammeln chinesischen Porzellans. So bin ich meinem Traumland doch nahegekommen.

Warum handeln Sammler:innen oft irrational?
Weil das Sammeln unser Lustzentrum anregt. Wenn die Grundbedürfnisse gedeckt sind, wenden wir uns gehirntechnisch Bereichen zu, die unsere Fantasie anregen und uns glücklich machen. Für die einen kann das Bergsteigen sein. Von den Amerikaner:innen aber, das kann ich sagen, findet ein Drittel dieses Glück im Sammeln.

Rührt das aus Urzeiten her, sind wir schlicht die ewig Jagenden und Sammelnden?
Absolut. Der Nervenkitzel der Jagd und die Befriedigung, ein besonders seltenes oder kostbares Objekt zu ergattern, ist unvergleichlich. Dabei ist es spannend, dass bei Erhalt zwar unser Lustzentrum stimuliert wird, aber der eigentliche Thrill im Davor liegt. Ein wenig ist es wie bei der Vorfreude auf die Familienferien: Bei der Planung sind alle Feuer und Flamme, der Beginn der Ferien dann ist mit dem Erhalt eines Objektes zu vergleichen: alles toll, aber oft nicht ganz so hundertprozentig wie in unserer Fantasie. Das Hotelzimmer hat nicht den versprochenen Meerblick und die Freude ist vergleichsweise rasch getrübt.

Wie reagieren wir, wenn ein begehrtes Stück nicht in unseren Besitz übergeht?
Studien zeigen, dass der Verlust-Frust sogar noch stärker ausgeprägt sein kann als die Freude, wenn wir etwas ergattern. Auch deshalb ist der Jagdinstinkt so ausgeprägt. Es gibt die Anekdote eines Londoner Auktionators: Zwei Bietende treiben den Preis um ein Objekt verbissen in die Höhe. Derjenige, der den Zuschlag erhält, dreht sich zu seinem Konkurrenten um und sagt: «Klar, habe ich zu viel bezahlt, aber wenigstens habe ich gewonnen.» Im Rausch über das eigentlich gesetzte Limit zu gehen, passiert vielen – der Fluch, der mit dem Siegen einhergeht.

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«Männer haben meist mehr Ressourcen, wenn es ums Sammeln geht.»

Tönt recht kindisch …
Da haben Sie recht. Und ich wette mit Ihnen, dass dem Mann sein Ausspruch schon abends bitterpeinlich war. Die Freude am Sammeln zeigt sich übrigens schon bei Drei- bis Vierjährigen. Zu dem Zeitpunkt sind es eben schöne Herbstblätter, Käfer und Steine. Spannend wäre es mal zu untersuchen, inwieweit Einzelkinder mehr sammeln als Geschwisterkinder.

Wieso?
Weil Sammeln uns Geborgenheit schenkt, es beruhigt, und man kann es wunderbar im Alleingang tun. Eine äusserst gesunde Beschäftigung.

Wann ist ein guter Zeitpunkt, um aufzuhören?
Wichtiger ist die Frage, was nach dem Tod mit dem Angesammelten passieren soll. Insofern hat dieses freudvolle Hobby auch seine Nachteile. Es ist ja schrecklich traurig, dass in den seltensten Fällen die Menschen, welche die jahrzehntelang angelegten Sammlungen am Ende erben, etwas mit dem ganzen Zeug anfangen können. Ganz zu schweigen vom Platz, den viele Sammlungen erfordern. Die Devise heisst: Planen und frühzeitig Interessent:innen suchen.

Sammeln Frauen eigentlich anders als Männer?
Ja. Männer haben meist mehr Ressourcen und sind eindeutig vorn, wenn es ums Sammeln geht. Frauen haben nicht nur früher den Haushalt und die Care-Arbeit übernommen, sie tun es bis heute. Mit dem Unterschied, dass sie inzwischen obendrein noch erwärbstätig sind, im Vergleich aber meist weniger verdienen als Männer. Frauen haben also schlicht seltener die Musse, Briefmarken einzusortieren oder stundenlang online nach einer Puppe zu suchen. Die Horror-Sparte ist der einzige mir bekannte Sammlerbereich, in dem zumindest amerikanische Männer und Frauen ausgeglichen angefressen sind.

Besteht beim Sammeln Suchtgefahr?
95 Prozent der Sammelnden tun dies aus Spass. Der Rest entwickelt ein ungesundes Suchtverhalten, das etwa zu Verschuldung führt, oder sie horten so lang, bis ihre Wohnung völlig verstellt ist.

Ausstellung: Collectomania – Universen des Sammelns. Museum für Gestaltung, Zürich. Noch bis 8. Januar

Shirley M. Mueller ist Neuropsychologin und Autorin von «Inside the Head of a Collector», Verlag Marquand Books Inc., Seattle 2019, 192 Seiten, ca. 57 Fr.

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