
Warum viele Männer so einsam sind – Männerberater Christoph Gosteli erklärt
Männerberater Christoph Gosteli spricht über die "Male Loneliness Epidemic" – und darüber, was gesellschaftlich nötig wäre, um der Einsamkeit vieler Männer entgegenzuwirken.
- Von: Miriam Suter
- Bild: Stocksy
Inhaltshinweis: Depressionen, Suizid, geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid
Sie lachen mit Kollegen beim Feierabendbier, schicken im Familienchat witzige Emojis, geben im Büro den Macher – und doch fühlen sich viele Männer oft einsam. Christoph Gosteli kennt diese Fälle: Er ist Präsident des Fachverbands Gewaltberatung Schweiz (FVGS) und arbeitet als Männerberater. In seinem Berufsalltag trifft er immer wieder auf das, was Fachleute inzwischen eine stille Epidemie nennen: männliche Einsamkeit.
Die Zahlen hinter der «Male Loneliness Epidemic» sprechen eine deutliche Sprache: Laut Bundesamt für Statistik fühlte sich 2022 mehr als jeder dritte Mann zwischen 15 und 55 Jahren mindestens gelegentlich einsam, bei den Frauen ist es jede vierte.
Männer nehmen sich viel häufiger das Leben als Frauen
Einsamkeit kann schwerwiegende psychische Folgen haben, darunter Depressionen, Angststörungen – und sie führt zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für Suizid. Davon sind Männer besonders stark betroffen: 700 Männer nahmen sich 2023 in der Schweiz das Leben, bei den Frauen waren es rund 200.
Nicht selten endet der männliche Frust auch in Gewalt gegen Frauen: Die Rate von sogenannten Femiziden – also Tötungen aufgrund ihres Geschlechts – steigt in der Schweiz, wie aktuelle Polizeiberichte und Statistiken zeigen.
Im Gespräch mit annabelle erklärt Christoph Gosteli, wie diese Einsamkeit entstehen kann, weshalb Männer meist erst Hilfe suchen, wenn alles zusammenbricht – und warum emotionale Offenheit unter Männern ein Schlüssel für echte Veränderung sein könnte.
annabelle: Herr Gosteli, viele Leser:innen haben den Begriff «Male Loneliness Epidemic» vermutlich noch nie gehört. Wie würden Sie ihn erklären?
Christoph Gosteli: Im Kern geht es darum, dass viele Männer – besonders heterosexuelle – wenige enge Freundschaften haben und sich dadurch einsam fühlen. Männer haben oft keine Beziehungen, in denen sie sich verletzlich zeigen können. Wenn doch, dann meist nur in der Beziehung mit der Partnerin.
Weshalb tritt dieses Phänomen gerade jetzt auf?
Weil sich der gesamtgesellschaftliche Kontext verändert hat. Frauen sind heute viel unabhängiger und «brauchen» keinen Mann mehr zum Überleben. Und viele Männer haben nur gelernt, einer klassischen Vorstellung von Männlichkeit zu entsprechen: Stärke, Unabhängigkeit, Kontrolle. Diese Werte passen jedoch nicht mehr in die heutige Realität, im Gegenteil, sie isolieren. Aber ein neues, tragfähiges Bild gibts für viele noch nicht.
Was meinen Sie damit?
Männer stehen oft zwischen den Erwartungen: Sie sollen sensibel und reflektiert sein – weil das die Ansprüche vieler Frauen sind –, aber gleichzeitig auch durchsetzungsfähig und leistungsorientiert – weil etwa der Arbeitsmarkt das noch immer von ihnen verlangt. Und wenn man nie gelernt hat, über Gefühle zu sprechen oder Nähe ausserhalb einer Beziehung zuzulassen, wird es schwierig. Viele Männer stecken im patriarchalen System fest, das sie zwar nicht selbst gestaltet haben, das sie aber trotzdem reproduzieren, weil sie auch davon profitieren.
Warum haben Männer so wenig tiefe Freundschaften?
Weil Freundschaft für Männer oft an Leistung gekoppelt ist: Was bringt mir das? Was habe ich von dieser Beziehung? Viele haben nie gelernt, sich wirklich zu öffnen. Gespräche bleiben oberflächlich, Gefühle gelten als Schwäche oder als langweilig. Daher drehen sich die Gespräche oft um Fussball, Politik oder Technik.
"Weil die Partnerin oft die einzige emotionale Bezugsperson ist, wird sie zur Projektionsfläche"
Sie arbeiten mit Männern, auch in der Täterarbeit. Treffen Sie in Ihrer Praxis auch auf das Thema Einsamkeit?
Ja, oft indirekt. Männer suchen die Männerberatung auf, weil Beziehungen zerbrechen oder sie Kontakt zu Freunden verlieren. Viele haben ihr Leben auf nur ein Standbein gebaut – Arbeit oder Familie – und wenn das wegbricht, fällt alles zusammen.
Was sind die Auswirkungen dieser Einsamkeit?
Viele Männer können Gefühle nicht ausdrücken – oder nur in Form von Aggression, übrigens sehr oft auch gegen sich selbst, oder durch Substanzmissbrauch. Studien zeigen: Depression bei Männern äussert sich oft nicht durch Rückzug, sondern durch Wut oder Gewalt. Auch Suizid ist oft ein Ausdruck dieser unterdrückten Emotionen.
Warum richtet sich diese Aggression oft auch gegen die Partnerin – obwohl das Problem doch beim Mann selbst liegt?
Weil die Partnerin oft die einzige emotionale Bezugsperson ist. Sie wird zur Projektionsfläche. Die Aggression richtet sich dann gegen sie, obwohl sie gar nichts «falsch» gemacht hat. Männer erleben sich in einer Art Anspruchshaltung: Du musst mich retten, verstehen, tragen. Wenn das nicht mehr klappt, schlägt es um – leider oft wortwörtlich.
Was braucht es gesellschaftlich, um dem etwas entgegenzusetzen?
Junge Männer greifen auf starke, einfache Bilder zurück, denn sie wirken greifbar und erfolgreich – Andrew Tate und Konsorten. Wir brauchen Männer, die sich öffentlich gegen diese stellen.
Wer tut das heute in Ihren Augen?
Es gibt im deutschsprachigen Raum ein paar Content Creator, die das aus meiner Sicht sehr gut machen. Dazu gehören zum Beispiel der Autor Fikri Anıl Altıntaş, der deutsche Arzt und Journalist Mertcan Usluer, der Account «Feministo Explains» oder das Schweizer Kollektiv «Nie Ok». Ich finde aber, es braucht dringend noch mehr Männer, die sich öffentlich gegen Gewalt an Frauen äussern; in der Schweiz macht das der SP-Nationalrat Cédric Wermuth immer wieder hervorragend. Ich selbst habe übrigens aus diesem Grund auch angefangen, Inhalte für Social Media zu produzieren – Männer, traut euch!
"Männer müssen lernen, sich auch untereinander emotional zu begegnen"
Was können Männer denn konkret tun – auch die, die sich vielleicht nicht direkt betroffen fühlen, aber Freunde haben, denen es nicht gut geht?
Im Kleinen anfangen. Fragen wie «Wie gehts dir – wirklich?» stellen. Zuhören. Sich trauen, den Raum zu öffnen. Es braucht Mut, aber das verändert langfristig etwas. Kultur entsteht in Freundeskreisen, im Fussballverein, in der Clique. Und sie entsteht dadurch, dass Männer anderen Männern etwas Neues, Verletzliches vorleben und sich gegenseitig die Möglichkeit geben, verletzlich sein zu können.
Warum braucht es diese selbst geschaffenen Räume spezifisch unter Männern?
Damit eben nicht alles auf die Partnerin, die beste Freundin oder die Schwester abgeladen wird. Männer müssen lernen, sich auch untereinander emotional zu begegnen. Nur so entsteht echte Nähe, Verständnis und Entlastung – ohne Abhängigkeit von der einen Person.
Warum ist es so wichtig, dass Männer diese Arbeit machen?
Weil echte Gleichstellung auch Männer entlastet. Es geht um Befreiung von einengenden Rollenbildern. Männer profitieren davon genauso – emotional, sozial, sogar gesundheitlich. Das muss man sichtbar machen.

Christoph Gosteli ist Präsident des Fachverbands Gewaltberatung Schweiz (FVGS) und arbeitet im Mannebüro Zürich als Männerberater.