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Bye Bye Marie Kondō: Vom Minimalismus zu Lebensfreude

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Bye Bye Marie Kondō: Vom Minimalismus zu Lebensfreude

Marie Kondō hat über Jahre Ordnung gepredigt und Glück und Freiheit durch das richtige Ausmisten versprochen. Millionen Menschen sind ihr gefolgt. Aber macht Minimalismus überhaupt glücklich?

Lia glaubt an keinen Gott; keinen Christus, keinen Allah, keinen Jehova. Jahrelang aber glaubte Lia an Marie Kondō. An die japanische Prophetin des Aufräumens, Bestseller-Autorin mit Millionenauflage und bekannt aus der Netflix-Serie «Aufräumen mit Marie Kondō».

Immer und immer wieder las sie Kondōs Buch, eine Anleitung zum richtigen Ausmisten über 224 Seiten. Sie las es von vorne bis hinten und wieder von vorne. Lia, deren Nachname hier nicht stehen soll, las Kondōs Buch wie eine Bibel. Sie glaubte an Kondōs Versprechen, dass zwischen ihr und ihrem persönlichen Glück nur jede Menge Kram stand, den es loszuwerden galt.

Dass, wer noch nicht ganz zufrieden sei, einfach noch mehr ausmisten müsse. Müllsack um Müllsack nähere man sich der eigenen Befreiung. Verkürzt man diesen Vorgang, dann passt er in einen Glaubenssatz: Je weniger, desto glücklicher.

Der Anfang

Vor etwa acht Jahren war Lia auf Kondōs Buch gestossen. Den Begriff Minimalismus hörte sie kurz zuvor das erste Mal in einem Youtube-Video. Kurz darauf verschwand ein grosser Teil ihres Zeugs aus ihrem Jugendzimmer.

Lia erzählt ihre Geschichte in einem Videogespräch: Damals, mit zwanzig Jahren, sei sie nach der Matura aus der Schweiz nach München gezogen. Sie beschloss, dass sie so wenig besitzen wollte, dass sie mit wenigen Handgriffen all ihr Hab und Gut zusammenklauben, in einen Rucksack stopfen und das Weite suchen konnte.

Ohne Gepäck in den Urlaub

Seitdem hat Lia nur noch drei T-Shirts, drei Pullover, drei Hosen. Seitdem faltet sie Kleidung, Unterwäsche und Socken in kleine rechteckige Päckchen, die sie horizontal in Schubladen stellt, wie Marie Kondō es vorgezeigt hat. Seitdem hat Lia sich die Haare zu einem «Minimalist Buzzcut» abrasiert, neun Millimeter.

Seitdem reist Lia ohne Gepäck in den Urlaub. Und sie liegt seitdem manchmal abends lange wach und fragt sich: «Brauche ich die drei Paar Jeans wirklich, oder würde auch nur eine reichen?» Auf den ersten Blick ist nichts einzuwenden gegen Ordnung und gegen Anleitungen, die Menschen beim Ausmisten helfen – und ihnen noch dazu Glück und Freiheit bringen sollen. Aber auf den zweiten?

Ein grosses Business

13 Millionen Mal wurde Kondōs Buch «Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert» verkauft, schreibt sie auf ihrer Homepage. Es wurde in 44 Sprachen übersetzt, unter anderem ins Englische, Chinesische, Deutsche, Russische und Italienische. In den Industrieländern der Welt kramten Menschen in ihren Kleiderschränken, Kellern und unter ihren Betten und fragten sich bei jedem Stück, getreu der Kon-Mari-Methode, so der Übername, den ihr ihre Gefolgschaft gab: «Does it spark joy?» – «Macht es mir Freude?» Verneinte man, flogen die Teile raus.

Kondō bekam im japanischen Fernsehen eine Show, ab 2019 auch auf Netflix, sie hatte unzählige TV-Auftritte, in ihrem Onlineshop verkauft sie Wohnaccessoires, insbesondere natürlich Ordnungssysteme. Und in den USA bietet sie Seminare an, in denen man sich zum zertifizierten «Kon-Mari Consultant» ausbilden lassen kann.

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«Marie Kondō hat profanes Aufräumen in eine Religion verwandelt»

Schon mit fünf Jahren habe sie durch Wohnmagazine und Frauenzeitschriften geblättert und von einer geordneten, einer aufgeräumten Welt geträumt, so beschreibt Kondō es in ihrem Buch. Heute zählt das «Time Magazine» sie zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt.

Marie Kondō hat profanes Aufräumen in eine Religion verwandelt. Sie verspricht: Wer ihr folge, werde «ein glücklicher, zufriedener und ausgeglichener Mensch». Und dann sind da jene, die wissen, dass Kondō damit direkt zu ihnen spricht. Sie nennen sich «Konverts», Konvertierte, und sagen, dass sich ihr Leben durch die Kon-Mari-Methode grundlegend verändert habe: «Unsere Ehe hat enorm von der neuen Ordnung im Haus profitiert. Endlich verstehen wir uns wieder und lieben uns wie am ersten Tag», zitiert Kondō eine ihrer Anhängerinnen im Vorwort ihres Buches.

Eine weitere: «Ich bin Freiberuflerin. Seit ich meine Wohnung aufgeräumt habe, bekomme ich viel mehr Aufträge. Das macht mich richtig glücklich.» Die oscarprämierte Schauspielerin Jamie Lee Curtis sagte dem «Time Magazine» sogar: «Wenn ich mir jemals ein Tattoo stechen lasse, wird darauf stehen: Spark Joy!» Um zu zeigen, wie gross ihr Respekt für Kondō sei.

Die Inventur des Lebens

Will man verstehen, was in den Köpfen dieser Menschen vor sich geht, wieso ein Buch übers Aufräumen 148 Wochen auf der «New York Times»- Bestsellerliste blieb, muss man dahin, wo die Menschen praktizieren, was Kondō predigt: in ihr Zuhause. Zahlen dazu, wie viel Zeug jeder Mensch im Durchschnitt in seinen vier Wänden hortet, gibt es etliche. Je nachdem, wen man fragt und auf welchen Teil der Welt man blickt, schwanken sie enorm – zwischen 10 000 und 300 000 Teilen.

So genau scheint es niemand zu wissen. Wie soll denn eine Inventur unserer Leben auch aussehen? Zählt man jede einzelne Socke oder in Paaren? Gehören die Lebensmittel im Kühlschrank auch dazu? Und was ist mit Büroklammern, zählt man die einzeln?

Als der Begriff Minimalismus und mit ihm Kondō gross wurde – ihr Buch «Magic Cleaning» erschien 2013 auf Deutsch – war die Welt längst ins Zeitalter des Hyperkonsums eingetreten: zwischen Glitzer-Toilettenpapier, Rentiergeweihen für Autos und Wurst-Toastern nahm die Einkaufslust absurde Auswüchse an.

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«Doch unter allen Aufräumikonen, die die Welt ordnen wollten, war Kondō mit Abstand die grösste»

Überall poppten also Podcasts, Blogs, Youtube-Videos und Ratgeberbücher auf, die erklärten, wie man das ganze Zeug wieder loswird. Doch unter allen Aufräumikonen, die die Welt ordnen wollten, war Kondō mit Abstand die grösste. Ihr Name ist nicht nur zu einem englischen Verb fürs Ausmisten geworden (to kondo), ihr Spitzname Kon-Mari ist mittlerweile auch als Marke geschützt.

«Konverts» tragen Kondōs Botschaft in die Welt hinaus. Sie zeigen ihre leergeräumten Wohnungen in Youtube-Videos und auf Inneneinrichtungsblogs, erzählen von ihren glücklichen Leben mit nur hundert Dingen und bekommen dafür begeisterte Kommentare.

Auch Lia hat sich dazu entschieden, neben dem Studium im Netz für Minimalismus zu missionieren, später machte sie es zu ihrem Hauptberuf. Auf Instagram nennt sie sich «Eco Minimalist», nachhaltige Minimalistin. Auch unter ihren Videos und Beiträgen stehen Kommentare wie: «Es freut mich zu sehen, dass du mit Minimalismus dein bestes Leben lebst.» Oder: «Kannst du auch ein Video von deiner minimalistischen Küche machen?»

Die Wegsortierwut

Aber was, wenn man die Freude, die einem Gegenstände bereiten, masslos unterschätzt? Und vor allem: Macht Ausmisten wirklich glücklich? «Alle Gegenstände, die ich jetzt aufzähle», sagt Tiffany Wisniewski im Videointerview, «wurden Opfer der Wegsortierwut.» Es sind braune Birkenstock-Sandalen, ein Stabmixer-Set von Lidl, ein gestreifter Bademantel, eine Playstation vier, ein Seitenschläferkissen.

Und das sei natürlich nicht alles. Wisniewski bereut noch weitaus mehr. Es sind grösstenteils belanglose Alltagsgegenstände, doch Wisniewski treiben sie noch immer das Bedauern in ihr gerötetes Gesicht. «Ich war so im Weg-weg-weg-Modus, alles musste raus.» Die 34-Jährige trägt die klassische Marie-Kondō-Frisur: schulterlange Haare, gerader Pony.

Vielleicht der letzte Hauch Kondō in ihrem Leben. Hinter ihr sieht man auf mehreren Regalbrettern winzige Aquarellgemälde auf kleinen Staffeleien, einen Kuscheltierhasen mit Schlappohren, eine Wimpelkette. Von einem Holzbalken schweben Origami-Vögel an dünnen Fäden. «Unnützer sentimentaler Kram», sagt Wisniewski: «Aber er erfüllt mein Herz.» Nichts an dem Raum, in dem Wisniewski sitzt, ist minimalistisch. Das war einmal anders.

«Ich hatte mir erhofft, dass sich mein Leben durch das Ausmisten mehr verändern würde»

Tiffany Wisniewski

Als Wisniewski 2016 das erste Mal vom Konzept des Minimalismus hörte, sei ihr der Begriff «direkt ins Gehirn gewandert», sagt die 34-Jährige. Damals hatte Wisniewski sich gerade von ihrem Freund getrennt. Alles sollte weg, was sie an ihren Partner erinnerte. Und dann war da diese Minimalismus-Bewegung, die ihr versprach, wenn sie die Dinge aus ihrem Leben entfernt, sich vom Zeug befreit, wird sie sich auch selbst freier fühlen. «Das hat einen Nerv bei mir getroffen.»

«Du hast ja wenig», haben ihre Freunde und ihre Familie irgendwann gesagt, als sie ihre Wohnung sahen. Doch Wisniewski sagt, sie habe damals nur gedacht: «Macht mal die Augen auf, die ganze Bude ist vollgestopft.» Sie sagt, sie hatte den Blick dafür verloren, wie viel sie bereits ausgemistet hatte. Bis schliesslich die Reue kam. «Ich hatte mir erhofft, dass sich mein Leben durch das Ausmisten mehr verändern würde», sagt sie heute.

Stattdessen haben einige Dinge, die sie weggegeben hat, eine Leere hinterlassen. Einiges versuchte sie nachzukaufen, lange sei es dann ein Wechselspiel zwischen Ausmisten, Einkaufen, Ausmisten gewesen. «Nachhaltig war das nicht», sagt Wisniewski und: «In den Foren ging es einigen so, es sprach nur niemand gern darüber.»

Der Drang aufzuräumen

«Langfristiges Glück wird durch Ausmisten allein nicht zustande kommen», sagt auch Lukas Erpen. Er ist Psychotherapeut und Psychologe im oberwalliserischen Visp. In seiner Praxis erlebt er Menschen, die zwanghaft ihre Wohnung ordentlich halten wollen, jeden Tag saugen und wischen müssen und darin ihr Glück suchen. «Es kann durchaus dazu beitragen, dass es uns kurzfristig besser geht, wenn wir aufgeräumt haben», sagt er.

Sehr schnell komme dadurch Befriedigung auf: «Jetzt habe ich was geleistet, das gibt mir ein gutes Gefühl.» Eine aufgeräumte Wohnung mache jedoch nur einen sehr kleinen Teil eines Lebens aus. Wer in einer unglücklichen Beziehung stecke oder in einem stressigen Job, wer einsam sei, die oder der werde auch durch eine aufgeräumte Wohnung nicht glücklicher.

«Aufräumen sollte nur einen kleinen Teil im Leben ausmachen»

Aber mit diesem Versprechen vom Glück durchs Ausmisten machten die Aufräum-Ratgeberbücher ihr Geld. Erpen betont: «Aufräumen sollte nur einen kleinen Teil in unserem Leben ausmachen. Wenn ich mich die ganze Zeit damit beschäftige, tut das nicht gut.»

Wie dieses Ausmisten am besten angegangen wird, dazu gibt es viele Anweisungen und Regeln. «Da das ‹In-einem-Rutsch-Aufräumen› offensichtlich nicht funktioniert, sollte man Stück für Stück aufräumen», schreibt Kondō . Wer nicht kategorisch nach der Kon-Mari-Methode vorgehe – erst Kleidung, dann Bücher, dann Papierkram und am Ende sentimentale Gegenstände –, werde scheitern.

Doch Kondō ist nicht die Einzige, die behauptet, die eine wahre, die einzig richtige Methode zum Ausmisten parat zu haben. Das Netz bietet unzählige weitere, um Ordnung zu halten: «Die 147 Tipps für effizientes Aussortieren – für Menschen mit wenig Zeit». Bei der Haufen-Methode kommt alles Unnütze auf einen Berg: «Schau dir den Berg mit überflüssigen Sachen an – in Zukunft wirst du mit weniger glücklicher sein», heisst es hier.

Und dann ist da noch die «Eat the Frog First – das Schlimmste kommt zuerst»-Methode, man mistet zuerst in dem Raum aus, wo es einem am schwersten fällt. Oder das Ausmisten nach der Harmonielehre von Feng Shui – «für ein erfolgreicheres Leben».

«Irgendwann habe ich gemerkt: Eigentlich wäre mein Leben schöner, angenehmer, hätte ich ein paar Dinge mehr»

Lia

Minimalismus-Influencerin Lia veröffentlicht mindestens einmal die Woche ein neues Video. Ein Filmchen, das sie kürzlich hochlud, hat besonders viele Aufrufe bekommen. 50 000 Menschen haben es sich angesehen. «Ich habe genug vom extremen Minimalismus», lautet der Titel. «Irgendwann habe ich gemerkt: Eigentlich wäre mein Leben schöner, angenehmer, hätte ich ein paar Dinge mehr. Und müsste ich mir weniger Gedanken machen», sagt sie.

Sie habe bemerkt, wie sie ständig darüber nachdachte, wann sie eines ihrer drei T-Shirts waschen kann, damit sie am nächsten Tag ein frisches hat, ob diese oder jene Entscheidung jetzt «minimalistisch» war. Lia hat nun mehr Kleidung in ihrem Schrank. Und Farben: einen orangen Rollkragenpullover, ein gelbes Sweatshirt, ein gestreiftes T-Shirt.

In ihrer Wohnung stehen jetzt Blumen und wieder ein Schreibtisch. «Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert» von Marie Kondō hat Lia irgendwo in München in ein öffentliches Bücherregal gestellt. Sie hat Kondō ausgemistet.

Chaotisch und kreativ

Neben all den Studien, die beweisen, wie viel besser wir denken können, wie viel effizienter wir arbeiten, wenn unsere Umgebung aufgeräumt ist, gibt es auch einige Studien, die sich die Gegenseite an­ schauen: das Chaos und seine Vorteile. So haben Forschende der Universität von Minnesota heraus­ gefunden, dass eine chaotische Umgebung Menschen kreativer machen kann, wer hingegen immer viel Ordnung um sich herum habe, passe sich eher an traditionelle Erwartungen an.

Laut dem deutschen Hirnforscher und Psychologen Ernst Pöppel hilft ein unaufgeräumter Schreibtisch sogar beim Denken. Wer die Arbeit, die man zu tun hat, vor Augen behalte, statt sie ständig wegzuräumen und den Schreib­tisch sauber zu halten, lege sich selbst Fährten, die es leichter machen würden, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Auch Eric Abrahamson, Management­ experte an der New Yorker Columbia­Universität, befragte für eine Studie Menschen zu der Ordnung auf ihrem Schreibtisch und fand heraus: Erschre­ckende neun Minuten verbringen Büroangestellte täglich im Schnitt damit, verlegte Dinge auf ihrem Schreibtisch zu suchen.

«Ordnung spart also nicht mal Zeit. Im Gegenteil»

Doch Menschen, die an­gaben, einen sehr ordentlichen Schreibtisch zu ha­ben, verbrauchten demnach durchschnittlich sogar 36 Prozent mehr Zeit mit der Suche im Vergleich zu Personen, die angaben, einen ziemlich unordentli­chen Schreibtisch zu haben. Ordnung spart also nicht mal Zeit. Im Gegenteil.

Und dann ist schliesslich etwas passiert, das wohl so einige Ordnungsfanatische vom Glauben abfallen liess: Es ist Januar 2023 und Marie Kondō hat seit Tagen nicht mehr aufgeräumt. Mit der Zeit habe sie ihre Ansprüche an sich selbst zurückgeschraubt, sagt sie in einem Interview mit der «Washington Post».

Spätestens seit der Geburt ihres dritten Kindes 2021 sei das Aufräumen für sie in den Hintergrund ge­rückt: «Mein Zuhause ist jetzt chaotisch, aber jetzt gerade gefällt mir diese Art und Weise, wie ich meine Zeit verbringe.»

Marie Kondō scheint selbst gemerkt zu haben, dass die kon­marische Art zu leben kaum mit einem normalen Alltag vereinbar ist. Und dass so viel ins Aufräumen investierte Lebenszeit auch ein bisschen verschwendete Lebenszeit ist.

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