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Die Schlummermutter

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Die Schlummermutter

  • Text: Brigitte ZauggFotos: Rita PeterErstellt: 12. März 2010

Win-Win-Wohnen: annabelle-Produzentin Brigitte Zaugg teilt ihre Zürcher Stadtwohnung mit einer ETH-Studentin.

In ihrer Stadtzürcher Dachwohnung hat annabelle-Produzentin Brigitte Zaugg neuerdings eine Studentin als Untermieterin. Wie lebt es sich mit kinderlosen 55 Jahren, wenn plötzlich eine 20-Jährige mitwohnt?

Der Tarif war schnell durchgegeben, als Giulia letzten September bei mir einzog, um an der ETH Zürich ihr Bauingenieurstudium zu beginnen: Filzfinken tragen (lärmsensible Nachbarin). Küche und Bad sauber halten (allgemeine Sorgfaltspflicht). Miete monatlich bezahlen (500 Fr. inkl.). An der Einrichtung ausserhalb ihres Zimmerchens wird nichts geändert (der Boss bin ich). Dafür ist sie fortan für den Mineralwassernachschub verantwortlich (fünfter Stock, kein Lift). Tönt streng, was? Muss aber sein, wenn Schlummermutter und Untermieterin einvernehmlich zusammenwohnen wollen. Schlummermütter haben kein gutes Image.
Hartnäckig hält sich offenbar das Bild von der spiessigen alten Schachtel, die dauernd was zu meckern und auszuspionieren hat. Schon in den Fünfzigern, als noch die Mehrzahl der Studenten bei Zimmerwirtinnen unterkam, schrieb der Zürcher Publizist Niklaus Flüeler über das universitäre Wohnelend: «Es beginnt bei den Schlummermüttern, die von Schlummer wenig und von Müttern schon gar nichts an sich haben.»

Heute wohnt nur gerade ein Prozent der insgesamt 40 000 jungen Leute aus aller Welt, die in Zürich studieren, bei Schlummereltern. Und das möglichst kurz, wie eine Studie der Studentischen Wohngenossenschaft Woko zeigt – trotz meist «günstigerer Unterkunft» als in einer WG oder gar einer eigenen Wohnung. Dabei ist die Wohnungsnot in der Hochburg der schweizerischen Hochschulen erdrückend. Gerade für Studenten, die ja ihrerseits bei Vermietern auch nicht den besten Ruf geniessen. Jeder fünfte Studierende in Zürich sucht «dringend» eine neue Bleibe, besagt die Woko-Studie. Und kommt zum Schluss: «Ein Zimmer zu finden, das ein Monatsbudget von durchschnittlich 1000 bis 1300 Franken nicht sprengt, ist ohne gute Vernetzung vor Ort kaum noch zu meistern.»

Vor Ort vernetzt ist Giulia insofern, als ich mit ihren Eltern locker befreundet bin: Sie sind meine Olivenölproduzenten, ein Zürcher Aussteigerpaar, das seit den frühen Achtzigern auf Sizilien lebt. Die Anfrage kam vor einem Jahr: Liesse sich ihre Tochter womöglich bei mir unterbringen? Nur kurz natürlich, nur bis sie was Passendes fände.
Keine Frage: Als Startrampe ins ETH-Leben ist das Gästezimmer in meiner Dreieinhalb-Zimmer-Dachwohnung mitten im Zürcher Hochschulviertel geradezu prädestiniert. Das Wochenende verbringe ich ohnehin meist bei meinem Liebsten, wir würden also gut aneinander vorbeikommen. Meine Gäste könnten auch auf den beiden Liegen im Wohnzimmer übernachten. Und die Kleine würde, wenn sie sich erst einmal eingelebt hätte, sicher rasch ein WG-Zimmer finden.

Also sagte ich frohgemut Ja zu meiner neuen Rolle als Schlummermutter. Um mich schon anderntags zu hintersinnen: Kann ich das? Wo ich doch selbst nie Kinder haben wollte? Bohrende Fragen zuhauf: Was erwartet Giulia von mir? Worüber unterhalte ich mich mit einer Frau, die nicht mal halb so alt ist wie ich? Muss ich mich sorgen, wenn sie nachts vielleicht nicht heimkommt? Klar ist sie zwanzig, aber was werden ihre Eltern sagen, sollte sie mal krank sein? Kann ich dann, wenn ich morgens zum Kaffee den Tagi lese, noch rauchen? Werden meine delikaten Villeroy-&-Boch-Tassen und meine Wedgwood-Schüsseln studentische Gelage überleben?

Huch, wie kriegte ich da jäh den Bammel vor der Schlummertochter! Aber ein Ja, ermahnte ich mich grummelnd, ist nun mal ein Ja.  Also machte ich mich ans Räumen des Gästezimmers. Weil ich dieses nie als Abstellraum benutzt hatte, gab es hier bloss einen grossen Einbauschrank zu leeren. Eine gute Gelegenheit, mal radikal mein überbordendes Archiv durchzukämmen. Und Schuhe und Kleider kompromisslos auszusortieren. Doch wohin mit den überlebenden? Erleichtert bemerkte ich, dass es ja in meinem eigenen Schlafzimmer unterm Bett Stauraum gab. Also kaufte ich im Warenhaus ein paar von diesen praktischen textilen Aufbewahrungsboxen. Und schon sah alles wieder ganz ordentlich aus.
Ja, je mehr ich entrümpelte und Ordnung in mein Leben brachte, umso tiefer tauchte ich in einen wundersamen Jungbrunnen. Ich stiess auf meinen ersten eigenen Mietvertrag (100 Fr. mtl. für eine Einzimmerwohnung in der Berner Altstadt), entdeckte vergilbte Fotos aus meiner WG-Zeit in Basel wieder, fand Arbeitsverträge und -zeugnisse von Semesterferienjobs, Uni-Seminararbeiten voller Tipp-Ex-Flecken (geschrieben geschrieben auf einer Hermes Baby) und meine erste bezahlte Reportage von 1983, eine «Blick»-Serie über die damals heftig bewegte Jugend. Wow, so eine toughe junge Frau war ich mal!

Ganz leicht wurde mir da ums Herz, alle Bedenken verflogen, und ich wusste: Ich werde das Schlummerkind schon schaukeln – weil es nämlich ganz und gar erwachsen und für sich selbst verantwortlich ist.

So kam mir das Wort «Herrenbesuch» aus dem Vokabular der Schlummermütter gar nicht erst in den Sinn, als Giulia ein paar Tage vor Semesterbeginn mit einem Koffer und einem Rucksack vor meiner Tür stand – im Schlepptau ihren sizilianischen Schatz Massimiliano, Filmstudent in Mailand. Es war doch nichts als logisch, dass Massimiliano wissen wollte, wo «seine Giulietta» im fremden Zürich unterkam. Ich stellte erfreut fest, dass heutige junge Männer – sogar Sizilianer – stolz sind, wenn ihre Freundin die Berufskarriere selbst in die Hand nimmt. Und ich sah, wie die beiden mit Feuereifer die Köpfe zusammensteckten und Giulias brandneues MacBook Pro und den Drucker einrichteten.
Richtig gerührt aber war ich, als ich später Massimilianos Blogeintrag über Giulias neue Bleibe las. Der «Traum vieler Studierenden» habe sich für sie erfüllt. Nämlich «nur wenige Minuten vom Zentrum entfernt» zu wohnen. Und weiter: «Die Wohnung selbst trägt ihren Teil dazu bei. Blickt man aus einem der vielen Dachfenster, so kann man die Aussicht auf den Zürichsee und die Schweizer Alpen geniessen.» Die «Signora», las ich, sei Redaktorin bei der «sehr bekannten Modezeitschrift annabelle» und eine «aussergewöhnliche Persönlichkeit». Das beschämte mich fast ein wenig – angesichts meines kleinmütigen Zauderns im Vorfeld.

Gewiss, als im Bad Bruno Banani, Naomi Campbell und Moschino Cheap and Chic junge, bunte Schockakzente zwischen meine schneeweisse Rosenthal-Schale und mein schlichtes Burberry-Flacon setzten, da schluckte ich leer. Und gut, die Garderobe sieht jetzt dauernd aus, als hätte ich grad Besuch. Aber die Nachbarin ist glücklich über unsere Filzfinken. Auch um mein Geschirr habe ich umsonst gezittert: Eine Party gabs noch nie, und Giulia gehört offenkundig nicht zur Gattung Elefant im Porzellanladen.

Sie gehört auch nicht zu den gesprächigsten Menschen. Von selber sagt sie kaum je was. Ist das, fragte ich mich lange Zeit, ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Ich entschied mich für das gute. So sehr hatte ich mich in Kürze an die streb- und schweigsame Studentin unter meinem Dach gewöhnt, dass ich mir insgeheim wünschte, sie möge dableiben. Als sich das Semester dem Ende zuneigte, wollte ich es wissen.
Unser Dialog – wir sassen gerade bei einem unserer seltenen gemeinsamen Abendessen – hörte sich ungefähr wie folgt an. Ich: «Giulia, wir müssen mal reden.» Sie (stirnrunzelnd): «Okay …?» Ich: «Gefällts dir hier eigentlich?» Sie: «Ja, sicher.» Ich: «Hast du schon ein WG-Zimmer in Aussicht?» Sie: «Öhm … nein.» Ich: «Möchtest du denn gar nicht in eine WG?» Sie: «Eigentlich lieber nicht.» Pause. Ich: «Heisst das, du möchtest hier bleiben?» Sie: «Äh … gern. Also natürlich nur, wenn das für dich okay ist!»

Und ob es okay war! Das Win-Win-Potenzial unseres Wohnmodells ist gar nicht zu übersehen: Ich profitiere von ihr genauso wie sie von mir. Zum Beispiel weiss ich jetzt, dass Skypen so was wie Telefonieren mit Sichtkontakt ist. Nebenbei frische ich gelegentlich mein Italienisch auf. Und in unserer Küche finden sich mehr denn je Köstlichkeiten aus dem elterlichen Aussteigerparadies. Übrigens rauche ich nur noch am offenen Fenster. Sogar Giulias Hauptbeschäftigung zu Hause – büffeln für die ETH – wirkt ansteckend. Nicht dass ich mich nun für Statik oder geodätische Messtechnik interessiere. Dafür besuche ich neuerdings an der Migros-Klubschule einen Hindi-Sprachkurs.

Ansonsten ist mein Zuhause eigentlich ganz das alte. Jedenfalls sind Giulias Plüschbären bisher brav in ihrem Zimmer geblieben. Ein einziges Objekt steht neu auf dem Cheminéesims: die gerahmte Farbkopie einer verpixelten Bilddatei aus Giulias virtuellem Album. Das Foto stammt aus den Achtzigerjahren. Es zeigt mich und ein paar Freunde zu Besuch bei ihren Eltern. Wir bauen gerade, ganz ohne geodätische Messtechnik, das Häuschen, in dem später die Wiege meiner Schlummertochter steht.
Win-Win-Wohnen

Ein neues generationenübergreifendes Wohnmodell hat die Zürcher Sektion der Seniorenorganisation Pro Senectute entwickelt: «Wohnen für Hilfe». Die Idee: Ältere Menschen bieten Studierenden Wohnraum an, der indes nicht mit Geld, sondern mit Dienstleistungen bezahlt wird. Zum Beispiel mit Einkaufen, Internetstunden oder Gartenarbeit. Ausgenommen sind pflegerische Leistungen. Es gilt: Ein Quadratmeter Wohnraum ist eine Monatsstunde Arbeit wert. Die Wohnpartnerschaften werden von Pro Senectute vermittelt und bei Bedarf begleitet.

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