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Lebenswandel – Die Party ist vorbei

Stil

Lebenswandel – Die Party ist vorbei

  • Text: Franziska K. MüllerIllustration: Silke Werzinger

Die Party ist vorbei aber von Katerstimmung keine Spur! Zwei exzessive Partygänger und ein dauergestresster Workaholic berichten, wie sie zu einem neuen, gesünderen Leben gekommen sind.

Früher jettete Oliver Scotoni (45) als Paradiesvogel durch die Welt. Heute mag es der ehemalige Star-DJ gut organisiert.

Mein Styling sorgte für Aufsehen. Es waren die Achtzigerjahre, das Experimentieren mit dem Äusseren war an einen Lebensstil gebunden, den man durchaus als antibürgerlich bezeichnen konnte. Es war ein kleiner, elitärer Kreis, der den Anspruch hatte, in der Subkultur wegweisend zu sein. Und anders als die heutige Züri-West-Generation wollten wir uns vom Mainstream abgrenzen. Die Aufmerksamkeit der anderen war das Schmiermittel in einem System, das mir den Lebensunterhalt als DJ sicherte. Zu meinen auffälligsten Kleidungsstücken gehörte ein bodenlanges Cape mit einem riesigen Pelzkragen. Geschminkt sah ich darin aus wie ein androgyn-archaisches Glamourwesen aus einer anderen Welt. Einmal stieg ich so gekleidet aus dem Taxi in Paris. Vor dem damals angesagtesten Club der Stadt warteten viele Leute. Als sie mich sahen, riefen sie: «Le roi vient!» – der König kommt –, und die Menge teilte sich, um mich durchzulassen. Ich lebte damals auf einem Planeten, der nach eigenen Regeln funktionierte.

Aber zum Glück wird man älter. Die definitive Wende brachte schliesslich die Geburt meines Sohnes. Der Schlüsselmoment: Ich kam in den frühen Morgenstunden nachhause und nahm mein schlafendes Baby in den Arm. Ich stank nach Alkohol und Rauch. In diesem Augenblick wusste ich: Das wars. Die Zeit für etwas Neues ist gekommen. Ich begann mich in jeder Hinsicht zu mässigen, und obwohl mein Kleiderstil noch immer auffällt, hat das für mich keine zentrale Bedeutung mehr.

Rückblickend ebneten mir die wilden Jahre den Weg für eine aufregende berufliche Karriere, in der ich all meine Erfahrungen kanalisieren und verwerten kann. Mein Tagesablauf ist heute klar strukturiert. Um 9 Uhr stehe ich geduscht und ausgeschlafen in meiner Firma. War früher mein gesellschaftliches Auftreten spektakulär, so verkörpert heute meine Arbeit Glamour. Meine Firma plant und realisiert Konzepte und Events im kulturellen Bereich. Soeben habe ich die musikalische Identität für ein Fünfsternehotel in Spanien kreiert, und ab Anfang Dezember werden wir mit Rundfunk.fm täglich das Nachtprogramm auf Radio 1 gestalten. Meine Frau und ich arbeiten interdisziplinär, organisieren auch das internationale Yoga-Festival Zürich und garantiert katerfreie Wellness-Wochenenden.

Früher ging ich sorglos mit meinen körperlichen Ressourcen um. Als ich mich entschied, ziemlich alt werden zu wollen, begann ich auch meine Ernährung anzupassen. Ich glaube an die aufbauende Wirkung gewisser Lebensmittel der japanischen und mediterranen Küche und daran, dass die Kondition und das Wohlbefinden von der Ernährung abhängen. Mein Cape lagert heute in einer Schachtel auf dem Estrich. Mein heute zehnjähriger Sohn findet es gruselig, er will es nicht vererbt bekommen. Ich verstehe das.

Journalist Sandro Brotz (42) wog hundert Kilo und war Kettenraucher. Heute rennt er ohne Probleme einen Marathon.

stress hat heute jeder. Es ist deshalb zu einfach, die Ursache für den ungesunden Lebenswandel bloss auf den Job zu schieben. Mir liegt auch eine gewisse Masslosigkeit im Blut. Gehe ich etwas an, dann meist voller Leidenschaft und mit sehr viel Engagement. Arbeiten bis zum Umfallen war für mich lange Zeit völlig normal, abschalten ging irgendwann nicht mehr. Die Grenzen zwischen Beruf und Privatem lösten sich auf, Zeitmangel war ein Dauerthema. Ich ernährte mich von Junkfood, bewegte mich nicht und rauchte drei Päckli Zigaretten pro Tag. Die körperlichen Symptome – von Herzrasen über Völlegefühl bis zur Schlaflosigkeit – verdrängte ich. Dass es mir schlecht ging, realisierte ich erst, als es beinahe zu spät war. «Herr Brotz, wollen Sie vierzig oder achtzig Jahre alt werden?», fragte mich der Arzt, als ich mit einer verschleppten Lungenentzündung im Spital lag. Ich hatte eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht und konnte nicht antworten. In der Folge gab ich mir einen Ruck. Ich rauchte nicht mehr, veränderte meine Essgewohnheiten, nahm dreissig Kilo ab. Sportlich wieder in die Gänge zu kommen, war hart. Anfänglich konnte ich keine drei Minuten am Stück laufen, es dauerte quälende Monate, bis ich echte Fortschritte erzielte.

In der Zwischenzeit bin ich ein passionierter Marathonläufer. Einer von denen, die ich früher als Spinner verspottete. Ähnlich wie früher meinen Sack Pommes Chips brauche ich heute täglich meine Portion Sport. Ich bereite mich dabei auf den Arbeitstag vor oder verarbeite das Erlebte. Beim Laufen findet fast zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen statt, wodurch ich buchstäblich eine Ausdauer für die schwierigen Momente im Leben entwickelt habe. Mein Leben wurde dadurch nicht langweiliger, ganz im Gegenteil: Anders als bei einem schnellen Nikotin- oder Alkoholflash hält das Runner’s High – das durch das Ausschütten von Endorphinen erzeugte Hochgefühl – viel länger an. Allerdings kommt es nicht immer, und wenn, dann erst nach einer einstündigen Laufzeit.

Am Anfang übertrieb ich, wie bei allem, ein wenig. Verschiedene Verletzungen waren die Folge. Man kann im Sport nichts forcieren, jeder noch so kleine Erfolg und auch die mentale Stärke müssen ehrlich erarbeitet werden. Heute bin ich physisch und psychisch in Topform. Manche Kollegen erkennen mich nicht wieder, und wenn ich beim Bier über die beim Laufen erfahrene Schönheit der wechselnden Jahreszeiten philosophiere, dann nicken jene, die das auch erleben – und die anderen grinsen. Und ja, ich höre auch oft, dass ich besser aussehe. Aber das ist nur der kleinste Vorteil meines neuen Lebensgefühls. Es bringt mir vor allem etwas: Gesundheit und die Nähe zu mir.

Maya Müller (34) tanzte früher die Nächte durch. Heute ist sie Yogalehrerin und bäckt sogar ihr Brot selbst.

Die Sehnsucht nach Intensität und Abenteuer verspüre ich seit meiner Kindheit. Mit 14 begann meine wilde Partyzeit. Von Donnerstagabend bis Sonntagnachmittag feierte ich jeweils mit meiner Clique in den verschiedenen Clubs und Bars. Der Kick kam beim Tanzen, die Verbindung zu den anderen und zum Universum war spürbar. Tranceähnliche Zustände erfüllten mich. Das Partyleben war ein Leben jenseits gesellschaftlicher Normen. Ich war jung, frei von Angst und erlebte das Unbekannte mit einer unglaublichen Intensität. Man fühlt sich unbesiegbar, hat Lust auf Experimente, der Glaube an die eigenen Kräfte ist grenzenlos. In dieser Naivität tat ich verrückte Dinge. Etwa Autostopp in Hotpants, um möglichst schnell an mein Ziel zu gelangen: die nächste Party. Der blosse Gedanke an solche Episoden lässt mich heute – da ich selbst drei Töchter habe – erschaudern.

Dass ich ruhiger wurde, hatte mit meiner Sehnsucht nach einer verbindlichen Liebesbeziehung zu tun, die man in den Clubs nicht findet. Musik und Bewegung blieben in meinem neuen Leben jedoch zentral. Als Yogalehrerin praktiziere und lehre ich heute Vinyasa-Yoga, eine besonders dynamische Bewegungsform. Für meine Klassen bin ich dauernd auf der Suche nach dem richtigen Sound. Denn zusammen mit der körperlichen Bewegung und der Atmung ist die Musik ein Schlüssel, der das Tor zu neuen Welten öffnet und uns dem Leben sehr nahe bringt: Diese Momente stärken mich.

Aufgrund der bewegten Jugendjahre ahnte ich früh, dass die grundlegende Zufriedenheit die Voraussetzung dafür ist, dass die Sehnsucht nach aussergewöhnlichen Momenten nicht zu einer Sucht wird. Zudem veränderte das Yoga meine Sicht auf den Alltag, so schaffe ich es heute problemlos, ausgeglichen zu bleiben, wenn sich vieles wiederholt und sich die Routine einschleichen könnte. Statt in höheren Sphären zu schweben, bin ich heute erdverbunden und setze mich für eine nachhaltige Nutzung jener Ressourcen ein, die uns die Erde liefert: Ich koche biologisch und vollwertig, backe sogar das Brot selbst und unterhalte meinen Garten. Die Nächte verbringe ich seit Jahren schlafend. Partys besuche ich nur noch selten, aber ich pflege noch heute Kontakt mit zwei Freundinnen aus jenen wilden Tagen. Manchmal plaudern wir über die Partys und unsere Untaten. Ohne diese beiden käme es mir vor, als hätten diese Erlebnisse in einem anderen Leben stattgefunden.