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Liebe Charlotte Roche

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Liebe Charlotte Roche

  • Text: Jessica Prinz; Foto: Getty Images

Ibiza, Sommer 2011. Gerade hatte ich die Matura in der Tasche, zum ersten Mal ging ich mit einer Freundin allein in die Ferien. Allein, ohne Mami. Ohne Aufsicht. Ohne Regeln. Die Welt, so schien es, gehörte uns. Was wir beide im Gepäck hatten: Bunte Bikinis, Sonnencreme mit viel zu wenig Sonnenschutzfaktor (SPF 15 – bei meinem Hauttyp hat das verheerende Folgen!), eine batteriebetriebene Digitalkamera mit 2GB Speicherkarte – und Ihren Bestseller: Feuchtgebiete.

Damit lagen wir dann täglich in der brütenden Sonne, am Strand oder nahe der Poolbar unseres – wenn man das so nennen kann – Hotels, umgeben von anderen, ständig leicht angesäuselten jungen Menschen, und lasen parallel ihr Buch. Die Szenen des deutschlandweit meistbesprochenen und meistverkauften Buches des Jahres 2008 brannten sich in unsere Köpfe ein. Wie die Ich-Erzählerin Helen als junges Teeniemädchen zum ersten Mal von einem Mann eine Intimrasur erhielt, die Beschreibung, wie sie sich später jeweils vornüber beugt, um sich selbst anal zu rasieren und auch ja kein Härchen stehen zu lassen, und die herausgeschnittenen Hämorrhoiden (der «Blumenkohl»), die im Spital als Topping auf der Pizza landen – schliesslich waren die ja schon mal in Helens Körper, wieso sollten sie da also nicht wieder hin? All diese Bilder erheiterten uns nicht nur, sie führten auch zu intensiven, spannenden Gesprächen über vermeintliche Tabuthemen. Besonders natürlich in Bezug auf Sex. 

Es war damals, mit 19, natürlich spannend, uns mit diesen Themen zu beschäftigen. Mal unzensiert zu erfahren, was theoretisch mit menschlichen Körpern und deren Flüssigkeiten so alles möglich sein könnte – und was das menschliche Hirn sich alles ausdenken kann. Ich merkte damals schon, dass ich weniger schockiert über Ihre Beschreibungen und Vorstellungen war, als beispielsweise meine Freundin. Ich selbst mag es, Menschen mit Ehrlichkeit zu schockieren. Und sie dann im nächsten Moment dazu zu bringen, darüber nachzudenken, wieso genau sie eigentlich schockiert sind. Denn was ist schon normal, was abnormal? Und wieso sollte etwas, dass «man» nicht für normal hält, automatisch abnormal sein? Solche Gedankenspiele gefallen mir, solche Fragen aufzuwerfen macht Spass. Und Sie können das so gut!

Sie kokettieren mit ungewöhnlichen und schamlosen Gedankengängen – manchmal wirken Sie dabei fast ein wenig rotzig. Wo andere ein Tabu sehen, da wirkt für Sie halt einfach das Leben. Gleichzeitig ist da diese Unschuld in Ihrer Art. Was für eine spannende Mischung. Eine, die für Gesprächspartner wohl ganz schön herausfordernd sein kann. Denn es ist Ihnen ein Anliegen, Leute dazu zu bringen, die eigenen Gedanken und Moralvorstellungen zu reflektieren. Das finde ich nicht nur logisch sondern sehr wichtig. Und ich finde, Sie haben dafür genau die richtige Art. Ihre unschuldige Attitüde gepaart mit Ihren kindlich-naiven und hemmungslosen Fragen – das macht Sie so sympathisch und entwaffnend. Man kann gar nicht anders, als das eigene Denken zu hinterfragen und sich einzugestehen, dass es oft wohl gar nicht so richtig ist.

Ich mag es, mit welcher Natürlichkeit Sie über das Leben und alles, was es mit sich bringt, denken und sprechen. Und mit welcher Ruhe. Sie geben einem das Gefühl, dass alles, was man denken und tun möchte, und alles, was eben im Leben passiert, natürlich ist. Nicht nur, was den Sex betrifft, sondern auch was Krankheiten, Drogen und den Tod angeht. Grad was die letzten beiden Punkte betrifft, haben Sie selbst genug eigene Erfahrungen gesammelt. Ich bewundere Sie dafür, wie Sie von diesen Erlebnissen erzählen, wie Sie über Ihre Drogeneskapaden berichten und wie Sie in Ihrem Buch den Tod Ihrer Brüder verarbeiten. Irgendwie leichtfüssig, nie aus der Rolle des Opfers heraus. Sondern immer als starke Frau und Kämpferin. Hört man Ihnen zu, hat man das Gefühl, Ihnen nie Ihre Überzeugung nehmen zu können, dass trotz allem Schlechten, das passiert, die Welt dennoch ein schöner Ort ist, die Menschen im Kern gut sind. Und das Leben sich lohnt.

Lange ists her, seit ich damals in Ibiza Ihr Buch las. Und seither ist viel passiert. Sowohl bei mir, als auch bei Ihnen. Ihre Themen sind aber noch die gleichen. Sie sind immer noch diese unglaublich aufrichtige und ehrliche Person von damals. Das beweisen Sie in Ihrem neuen Podcast, den sie zusammen mit Ihrem Ehemann führen und in dem Sie beide schamlos und in aller Öffentlichkeit über Ihre Beziehung sprechen, über die Höhen und Tiefen. Und über juicy Details aus ihrem Privatleben. Von Ihrer Unerschrockenheit, über vermeintliche Tabus und unmoralische Dinge zu sprechen, sollten sich viele Menschen eine Scheibe abschneiden. Und viel mehr Menschen sollten Ihre Fähigkeit besitzen, in der Wunde zu bohren, da hin zu schauen, wo es weh tut. Darüber zu reflektieren, zu relativieren – und am Ende herzlich darüber zu lachen.

Ich geh jetzt Ihre Bücher nochmal lesen, Tschüss!

Jessica Prinz