Werbung
Moby Klick im Mittelmeer

Stil

Moby Klick im Mittelmeer

  • Text: Anne-Sophie SchollFotos: Anne Gabriel-Jürgens

Den Walen lauschen - als Gast auf einem Forschungsschiff vor der Côte d'Azur.

Als Touristin auf einem Forschungsschiff wollte unsere Autorin vor der Côte d’Azur Wale beobachten. Die aber schienen tief unten tagelang die Luft anzuhalten. Macht nichts: Viel packender als das Klicken der Kameras tönte nämlich das der Meeresriesen selbst.

Ein letzter Zug an den Leinen, dann sitzt das Vorsegel. Der Wind bläst kräftig hinein, und mit einem Ruck verschiebt sich der Horizont nach oben. Linkerhand schwappen die Wellen beinahe aufs Deck, steuerbord reckt sich die Kante der Jacht in den Himmel. Besorgt fällt der Blick zurück zum Heck. Doch dort steht der Skipper fest auf beiden Beinen, die kräftigen Arme auf dem Steuerrad, die Augen in die Ferne gerichtet. Es ist der erste Tag an Bord der «Johya». Weisse Schaumkrönchen zieren die Wellen, der Wind bläst mit drei bis vier Beaufort. «Gut zum Segeln. Für die Forschung hingegen schon fast zu stark», meint Sylvia Frey, die Wissenschafterin auf der Jacht. Wir hissen eine Flagge am Grossmast, und bald flattert der Schriftzug von Ocean Care im Wind. Die «Johya» segelt diese Woche im Auftrag der schweizerischen Meeresschutzorganisation vor der Côte d’Azur. Hier, in einem Dreieck, das sich von Toulon zur ligurischen Küste und hinab zur nördlichen Spitze von Sardinien spannt, befindet sich das Walschutzgebiet Pelagos. 2002 wurde es eingerichtet. Wir sind unterwegs, um Daten über die Meeressäuger zu sammeln.

Wale im Mittelmeer? Ja, die gibt es. Und nicht nur jene, die der Atlantik bei Gibraltar in das Binnenmeer spült. 21 Wal- und Delfinarten haben Forscher im Mittelmeer nachgewiesen, acht von ihnen sind vor der südfranzösischen Küste häufig anzutreffen. Der mächtigste wird bis 25 Meter lang. Es ist der Finnwal – nach dem Blauwal das grösste Säugetier überhaupt. «Letzte Hochrechnungen von 1992 gehen von 3000 bis 4000 Finnwalen im westlichen Mittelmeer aus», sagt Sylvia. «Pottwale soll es nur noch einige Hundert geben.» Sie werden 18 Meter lang und sind damit immer noch deutlich grösser als unsere 14 Meter kurze Jacht.

Seit mehr als zehn Jahren betreut Sylvia Frey bei Ocean Care die Forschungsreisen im Mittelmeer, an denen auch Touristen ohne entsprechende Ausbildung aktiv teilnehmen können. Während vier bis fünf Wochen im Frühsommer und drei Wochen im Herbst ist eine Hochseejacht mit sechs Volunteers (Freiwilligen) vor der südfranzösischen Küste unterwegs. Voraussetzungen, um dabei zu sein: Interesse an der Sache, Abenteuerlust, Teamgeist. Lässt es das Wetter zu, fährt das Boot sogenannte Linientransekte (zufällig ausgewählte Strecken) ab. Die Wale und Delfine, die dabei beobachtet werden, lassen Hochrechnungen über ihre Zahl, Gruppengrösse und Verhalten zu. «Solche Forschung kann nur mit Freiwilligen finanziert werden», sagt Sylvia. «Die geschulten Augen der Wissenschafter sehen zwar mehr als Laien, gleichzeitig entdecken die Volunteers eine neue Welt und tragen ihr Wissen weiter.» Denn viel zu wenig sei über Wale und Delfine im Mittelmeer bekannt – und viel zu wenig darüber, wie diese in ihrem überbeanspruchten Lebensraum geschützt werden können.

Schwarzblau türmen sich die Wellenberge auf hoher See. Schier unmöglich, etwas zwischen den Wellen zu entdecken. Eine Schwanzflosse? Eine Delfinfinne? Den Blas eines Wals? Nichts dergleichen. «Achtet auf Unregelmässigkeiten im Muster», mahnt Sylvia. Sie hat Feldstecher, GPS und Beobachtungsprotokolle hervorgeholt. Yvonne stellt sich an die Bugspitze, Maria und Michele beziehen rechts und links davon Stellung, die Augen aufs Wasser gerichtet. Sollte ein Wal auftauchen, berechnen wir mit GPS, Kompass und Raster im Feldstecher seine exakte Position. Doch nur der Horizont tanzt in den Gläsern, bis einem schwindlig wird. Skipper Samuel, der Käpten an Bord, dreht die Jacht durch den Wind, das Vorsegel schlägt herum, und die «Johya» nimmt Kurs auf den Hafen. Der erste Tag bot wenig Gelegenheit, Forschergeist zu beweisen. Nur unsere Seetauglichkeit. Apropos: Kann eine solche Jacht eigentlich kentern? «Nein», versichert Samuel, «Gewichte im Kiel halten das Boot im Lot.» Dennoch bin ich froh, auf der Hafenmole wieder festen Grund unter den Füssen zu spüren.

Nahezu windstill bricht der nächste Tag an. Mit 5 Knoten (etwa 10 Stundenkilometern) tuckert die «Johya» hinaus aufs offene Meer. Wie Quecksilber dehnt sich die Wasserfläche zum Horizont. Sobald die Jacht die Motorbootschneise zwischen St-Tropez und Nizza verlassen hat, senkt Sylvia das Hydrofon ins Wasser — ein Stereomikrofon, das die Laute der Wale unter Wasser aufzeichnet. Wir sind zuversichtlich: Heute werden wir einen Pottwal sehen! Und wir werden – wie auf den Fotos von Ocean Care – den magischen Moment mit unseren Kameras festhalten, wenn er seine gewaltige zweiteilige Schwanzflosse stäubend aus dem Wasser hebt, bevor er in der Tiefe verschwindet. Yvonne setzt sich an ihren Lieblingsplatz in den Korb am Bug hoch über den Wellen, Maria und Michele richten sich auf dem Beiboot vorn auf dem Deck ein. Die erste Beobachtungsschicht ist bereit. Gleichförmig plätschern die Wellen gegen das Schiff. Die Augen scannen den Horizont, dann die Weite vor der Jacht, dann wieder den Horizont. Eine leere PET-Flasche treibt vorbei, eine braune Kompassqualle, noch eine, und noch eine, ein Plastikeimer und ein vom Boot gefegtes Plastiktablett. Sonst nichts. Nach einer Stunde ist Schichtwechsel.
Sylvia nimmt inzwischen Daten auf: Wassertemperatur, Salzgehalt, Wasserproben und Sichttiefe. Ganze dreissig Meter lassen wir eine weisse Metallscheibe an einem Seil ins Wasser hinab, bis der helle Fleck nicht mehr zu erkennenist. Leider passt das zu unseren Wasserproben: In den kleinen Fläschchen schwimmt kaum Plankton. Und wo kein Plankton ist, da sind auch kaum Fische. Denn die Mikrolebewesen stehen am Anfang der marinen Nahrungskette – und zuoberst auf der Speiseliste vieler Meeressäuger. Dabei ist das Wasser vor der südfranzösischen Küste normalerweise gut durchmischt. «Das funktioniert wie eine riesige Walze», sagt Sylvia: «Kühlt der Mistral die Meeresoberfläche ab, wird das Wasser schwer, und es sinkt. Die nährstoffreichen Schichten, die in gewaltigen Canyons im Meer vor der Küste lagern, steigen nach oben. Das ist gut fürs Ökosystem und gut für die Fische und Wale.» Doch heute ist das Wasser viel zu klar, um hungrige Riesen anzulocken. Der Skipper wirft eine Boje über Bord, wir springen mutig hinterher.

«Delfine», ruft plötzlich Samuel, kaum sind wir wieder an Deck. Tatsächlich, gut fünfzig Meter vor der Jacht platscht es aufgeregt in den Wellen, Rückenfinnen blitzen auf. «Sie jagen», sagt Sylvia. Das klingt zwar interessant, bedeutet aber lediglich, dass wir im Moment nicht auf ein Wettrennen mit den ansonsten so verspielten Tieren hoffen können. Zu beschäftigt sind sie mit der Jagd. An der Côte d’Azur soll es Schulen mit bis zu hundert Individuen geben. Kommerzielle Veranstalter von Beobachtungstouren stehen per Funk in stetem Kontakt mit Fischern oder benutzen Helikopter, um die Delfine zu orten. Oft verletzen sich die Tiere an den Schiffsschrauben der Boote, welche bis acht Stunden täglich im Einsatz sind, um möglichst viele Touristen zu bedienen. «Whale Watching wäre eine gute Sache, wenn man es schonend betreibt», sagt Sylvia. Seit Jahren bemüht sie sich darum, verbindliche Richtlinien für Anbieter von Touren durchzusetzen. Auch wenn das zur Folge hätte, dass nicht auf jeder Fahrt mit einer Sichtung gerechnet werden kann. Yvonne ist bereits zum siebten Mal auf dem Forschungsboot, Michele das zweite Mal. Beide waren dabei, als im letzten Jahr ein Pottwal nur wenige Meter vor dem Boot aufgetaucht ist. Gross ist also die Aufregung, als Yvonne das Klicken eines Pottwals im Hydrofon meldet. Wie Zungenschnalzen oder Fingerschnippen klingt es, wenn der Wal die Tiefe wie mit einem Echolot nach Beute oder vorspringenden Klippen sondiert. Die Klicks in den Kopfhörern sind laut und deutlich. Doch plötzlich verstummen sie. Gebannt schauen wir aufs Meer hinaus und versuchen, die berühmte Wasserfontäne zu erspähen – den Blas, mit dem der Wal die verbrauchte Luft auspustet, um Blut und Muskelzellen mit frischem Sauerstoff aufzupumpen. Im Schnitt taucht ein Pottwal alle 45 Minuten auf, bleibt etwa zehn Minuten an der Oberfläche, bevor er wieder verschwindet. 16 Augen scannen die Meeresfläche gegen die tief stehende Nachmittagssonne, die den Wellen tausend funkelnde Lichter entlockt. Nach einigen Minuten setzt das Klicken wieder ein. Wir haben keinen Blas und keine Schwanzflosse gesehen. Nur ein grosses Kreuzfahrtschiff, das über den Horizont zieht. «Vielleicht ist der Wal gar nicht aufgetaucht», mutmasst Sylvia – was uns nicht wirklich tröstet. Neben dem Klicken dröhnt in den Kopfhörern nun auch das Kreuzfahrtschiff am Horizont. Und wenn zwischen St-Tropez und Nizza eines der vielen Motorboote hin und her flitzt, klingt das schon fast wie ein Düsenflieger. «Lärm unter Wasser ist ein riesiges Problem», sagt Sylvia, «Wasser transportiert den Schall viermal besser als Luft. Die Tiere orientieren sich über ihre Laute. Bei grossem Lärm verstummen sie.» Nicht nur Touristenboote und Transportfrachter setzen ihnen zu, sondern auch Sondierungen nach Rohstoffen und geheime militärische Tests. Auf die Spur gekommen ist man Letzteren erst, als 1996 sechs der seltenen Schnabelwale mit inneren Blutungen in Griechenland an Land gespült wurden.

Die «Johya» segelt weiter vor der Küste zwischen St-Tropez und Nizza. Im Norden zeichnet sich das karge Hinterland der Seealpen mit den südlichsten Alpengletschern in den Himmel. Bald wachsen dunkelgrüne Pinienhaine auf den tiefroten Ausläufern des vulkanischen Massif de l’Esterel. Nie präsentiert sich die Côte d’Azur schöner als bei der Zufahrt vom Meer. Wir gehen in den Häfen von Antibes, Fréjus, Cannes und Golfe-Juan vor Anker. An Land spaziert man direkt durch die mittelalterlichen Mauern der Altstädte. Stunden später sind wir wieder an Bord auf offenem Meer. Gleichförmig plätschert das Wasser gegen den Bug, die Sonne sengt, und das Glitzern der Wellen spiegelt sich in unseren Sonnenbrillen. Auf dem Beobachtungsposten richten wir uns immer häuslicher ein. «Es ist wie Badeferien, nur schöner», schwärmt Maria, schon einige Jahre pensioniert und bereits zum zweiten Mal auf der «Johya». Zuweilen schnorcheln wir in einer Bucht, setzen mit dem Beiboot an Land und nippen in einem verschlafenen Strandcafé an einem Cappuccino. Noch zweimal beobachten wir, wie die Finnen von Delfinen am Boot vorbeiziehen, hören ihre Pfiffe im Hydrofon. Doch einen Pottwal, nein, den sehen wir nicht. Trotzdem schwindet unsere anfängliche Enttäuschung mit jedem Tag: Unser wachsendes Wissen über die Welt unter Wasser erfüllt uns mit Respekt, und zu ihrem Schutz beizutragen, betrachten wir als Mission. Mehr Glück, so erfahren wir später, hatte das Team, das in der folgenden Woche mit der  «Johya» in See stach: Kurz vor dem Hafen von Fréjus sprangen Tümmler über die Meeresoberfläche. Später ritten Streifendelfine in der Bugwelle mit. Und plötzlich seien auch ein paar der Wale, die sich auf unserem Törn so pressescheu gezeigt hatten, neben dem Schiff aufgetaucht – als hätten sie nur auf dieses Boot gewartet.


Ein Törn für Wissbegierige
Seit 1997 führt Ocean Care vor der französischen Mittelmeerküste Walforschungsprojekte durch. Die Organisation bietet die Möglichkeit, Wale und Delfine in freier Natur zu beobachten, Einblick in die Forschungsarbeit zu erhalten und selbst einen Beitrag dazu zu leisten. Pro Woche stehen auf dem Forschungsschiff sechs Plätze für Volunteers zur Verfügung. Man übernachtet in Zweierkajüten und hilft beim Kochen an Bord. Über Nacht geht die Jacht in Häfen oder Buchten vor Anker. Eine gute Gesundheit und Lust an der Mitarbeit sind die einzige Voraussetzung für die Teilnahme. Die Törns werden in Zusammenarbeit mit Ananea, dem Programm für nachhaltiges Reisen von Kuoni, angeboten. Sie finden von Anfang Juni bis Mitte September statt.

Reisedaten: 18. 6. bis 15. 7. (Segelschiff) oder 27. 8. bis 16. 9. (Katamaran).
Crew: Skipper, Kursleitung, sechs Forschungsteilnehmende (Volunteers).
Kosten pro Woche und Person (ohne Anreise nach Antibes bzw. St-Raphaël): Sommer ab 1600 Fr., Herbst ab 1750 Fr.
Buchungen über Kuoni: Tel. 044 277 41 51 oder www.ananea.ch
Weitere Infos: www.oceancare.org

Werbung

1.

An Bord der «Johya» immer griffbereit: Das Buch zur Bestimmung von Walen und Delfinen

2.

Die «Johya» verlässt den Hafen – bald werden die Segel gesetzt

3.

Messdaten festhalten…

4.

…und immer wieder den Horizont absuchen: Walforscherin Sylvia Frey

5.

We are sailing! Der steife Wind bläht das Vorsegel, im Dunst erheben sich die Ausläufer der Seealpen

6.

Such! annabelle-Reporterin Anne-Sophie Scholl hat Fernglas-Dienst

7.

8.

Kurs auf ungewohnte Muster in der Wasseroberfläche: Sylvia Frey mit Skipper Samuel

9.

Ein Wal? Oder wieder nur der Schatten der Jacht? Das Azurblau gibt sich unergründlich

10.

Das Beiboot auf dem Vorschiff – Volunteer Marias Beobachtungsposten für jeweils eine Stunde

11.

Skipper Samuel am Steuer der «Johya»

12.

Wasserdaten eintragen: Das wissenschaftliche Logbuch

13.

Samuel bei der abendlichen Planungssitzung

14.

Volunteer Maria lernt: Die Aufbereitung der Wasserproben erfordert Präzision und Konzentration

15.

16.

Sylvia Frey erkennt die Klicklaute eines Pottwals

17.

Der Volunteer als Kombüsenjunge: Michele bereitet einen knackigen Salat zu

18.

Feines aus der Bordküche: Ein Gourmetbuffet

19.

Sylvia Frey richtet das Hydrofon ein

20.

Keinen Wal gesehen – viel über ihn erfahren: Unsere Freiwillige an Bord der «Johya»