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Stau – Wir-Gefühl

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Stau – Wir-Gefühl

  • Interview: Mathias PlüssIllustration: David Doyle

Es gibt tatsächlich Menschen, die den Stau mögen. Für alle andern erklärt Forscher Michael Schreckenberg, wie man ihn vermeidet.

annabelle: Michael Schreckenberg, warum gibt es eigentlich Staus?
Michael Schreckenberg: Zwei Drittel aller Staus entstehen durch reine Überlastung. Der Rest durch Baustellen, Unfälle und widrige Wetterbedingungen.

Wann ist eine Strasse überlastet?
Ab etwa 1500 Fahrzeugen pro Stunde und Spur wird der Verkehr instabil. Dann genügt eine lokale Störung, etwa eine Steigung oder eine Einfahrt, wo sich die Dichte erhöht, und es entsteht zäh fliessender Verkehr. Im Kolonnenverkehr reicht es, dass einer bremst, und alle hinter ihm kommen auch zum Stillstand. So werden Stauwellen ausgelöst, die sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 Kilometer pro Stunde nach hinten bewegen. Der Stau kann so sogar rückwärts über Rampen auf andere Autobahnen fahren.

Auf Ameisenstrassen gibt es keine Staus, auch wenn die Dichte sehr hoch ist.
Die Ameisen arbeiten für das Kollektiv, sind nicht am eigenen Vorankommen interessiert, sondern daran, dass das gesamte System fliesst. Darum sind sie sehr diszipliniert und überholen
nicht. Das ist bei den Menschen leider ganz anders.

Warum schaffen wir es nicht, im Kolonnenverkehr einfach stur hintereinander herzufahren?

Die Menschen haben fälschlicherweise immer das Gefühl, sie seien auf der langsameren Spur. Das führt dann zu diesen unsäglichen Spurwechselmanövern. Als Gegenmassnahme fahren viele möglichst nahe an den Vordermann heran, damit keiner dazwischenkann. Und das ist das Fatale: Wenn nun der Vordermann bremst, muss ich umso stärker bremsen, und genau so werden eben Stauwellen ausgelöst. Aber Autofahrer denken immer nur nach vorne. Wenn sie nach hinten eine Stauwelle auslösen, ist es ihnen egal, sie stehen ja nicht mehr drin.

Die Ameisen haben uns in Sachen kollektive Intelligenz vielleicht wirklich etwas voraus.
Ja, im Autoverkehr muss man eher von kollektiver Dummheit sprechen!

Was kann ich als einzelner Autofahrer denn dagegen unternehmen?

Wenig. Wegen der Spurwechsler ist es gar nicht möglich, den Sicherheitsabstand einzuhalten – sonst wird man andauernd nach hinten durchgereicht.

Soll man bei Ausfahrten aus dem Stau rausfahren?
Nein. Der Stop-and-go-Verkehr ist zwar nervig, aber am Ende ist man trotzdem fast immer besser bedient, wenn man auf der Autobahn bleibt, auch wenn einem die Navigationsgeräte oft das Gegenteil empfehlen.

Sie sind kein Freund von Navigationsgeräten?
Ich fahre immer mit mehreren Navigationsgeräten und höre, was die mir so erzählen – rein wissenschaftliches Interesse. Ich fahre auch gern gezielt in Staus hinein, aber natürlich nicht, wenn die Familie dabei ist. Das Problem ist, dass viele Leute einfach dem Navi hinterherfahren. Man sollte aber immer mitdenken, sonst ergeht es einem wie einer Bekannten von mir, die mit einem Navi von Aldi in die Skiferien ins Wallis fahren wollte.

Was ist passiert?
Sie ist dem Gerät gefolgt und hat schon ein wenig gestaunt, wie wenig da am Furkapass unterwegs waren. Bis das finale Schild kam, wo es nicht mehr weiterging. Sie hatte dann einen Umweg von drei Stunden.

Seit zehn Jahren machen Sie Stauprognosen für die Autobahnen von Nordrhein-Westfalen. Wie funktioniert das?

Wir messen den aktuellen Verkehr und simulieren dann im Computer den weiteren Fortgang. Für die nächsten sechzig Minuten haben wir eine Vorhersagegenauigkeit von achtzig bis neunzig Prozent. Für längerfristige Prognosen benutzen wir Datenbanken.

Werden die Prognosen genutzt?

Wir haben grossen Erfolg. Unsere Website autobahn.nrw.de hat mehr als 100 000 Nutzer pro Tag.

Wie beeinflussen Prognosen das Verhalten?
Es gibt verschiedene Typen. 44 Prozent der Menschen sind laut unseren Untersuchungen sensibel: Sie meiden eine Autobahn, wenn dort Stau prognostiziert wird. 14 Prozent sind Taktierer – sie fahren absichtlich in den Stau hinein. Sie denken, dass alle andern der Vorhersage folgen, und darum sei der Stau dann schon wieder weg. 42 Prozent schliesslich sind konservativ. Sie halten sich selber für die grösseren Experten und kümmern sich daher nicht um Verkehrsmeldungen.

Und wer hat am meisten Erfolg?
Am meisten Erfolg hat eine kleine Untergruppe der Konservativen, nämlich die stoisch Konservativen: Die fahren stur immer die gleiche Strecke, egal was gemeldet wird. Mit dieser Taktik kommen sie erstaunlicherweise schneller voran als alle anderen.

Ich habe vorhin auf Ihre Website geschaut. Für heute Nachmittag sind sehr viele Staus vorhergesagt.
Der Freitagnachmittag hat bei Weitem das grösste Verkehrsaufkommen. Da wollen alle nachhause, auch die Wochenaufenthalter. Am schlimmsten ist der Freitag vor Pfingsten, wo gleichzeitig der Feiertagsverkehr losgeht. Im Jahr 2004 hatten wir am Freitag vor Pfingsten insgesamt 435 Kilometer Stau auf den Autobahnen von Nordrhein-Westfalen – das ist der höchste Wert, den wir je gemessen haben.

Es gibt immer mehr Verkehr. Wird es irgendeinmal zu einem Kollaps kommen?
Nein. In der Schweiz wird wie in Deutschland die Einwohnerzahl mittelfristig abnehmen. Der Autoverkehr nimmt jetzt schon kaum mehr zu.

Und der Lastwagenverkehr?
Der wird zunehmen, abhängig vom Wirtschaftswachstum. Die Konjunktur schlägt sofort auf die Strasse durch. In der Krise Anfang 2009 hatten wir nur zwei Prozent weniger Autos, aber elf Prozent weniger Lastwagen. Am Pfingstfreitag 2009 gab es praktisch keinen Stau.

Was erwarten Sie für Pfingsten 2011?
Es wird wieder Staus geben. Die Wirtschaft hat sich erholt.

Stimmt es, dass es Leute gibt, die Staus mögen?
Ja. Als täglicher Pendler weiss man genau, wann Stau ist, und man kann sich darauf einstellen. Für manche ist das der einzige Ort, wo sie entspannen können: Sie sind weg von der nervigen Familie, und sie sind noch nicht bei den nervigen Arbeitskollegen. Viele hören im Stau Hörbücher, da ist ja mittlerweile eine richtige Hörbuchkultur entstanden. Manche machen extra einen Umweg, um ihr Hörbuch zu Ende zu hören.

Und der Ferienstau?
Für viele ist er wie ein Event. Er erzeugt ein Wir-Gefühl. Abends sieht man im Fernsehen, dass hundert Kilometer Stau war, und kann sagen: Schau mal, da waren wir auch dabei. Wenn es keinen Stau gibt, fragt man sich hingegen manchmal schon, ob man an den falschen Ort gefahren ist.

Michael Schreckenberg (54) ist Professor für die Physik von Transport und Verkehr an der Universität Duisburg-Essen und führender Stauforscher Europas