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Wie ist es eigentlich, sich eine Querschnittlähmung zu wünschen?

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Wie ist es eigentlich, sich eine Querschnittlähmung zu wünschen?

  • Aufgezeichnet von Bettina ZanniBild: SXC

Ute Schmitt* (28) aus München erzählt.

Ich hasse es, meine Schritte zu hören. Stiefel zu tragen, ist für mich unerträglich. Bei hohen Schuhen den Schaft oder das Heraufziehen des Reissverschlusses an der Wade zu spüren, lässt mich erschaudern. Wenn ich am Bahnhof stehe, piksen mich meine Beine. Und besonders schlimm ist es vor dem Einschlafen. Dann liegt die Bettdecke jeweils schwer auf meinen Beinen, und ich spüre jede Falte meiner Pyjamahose.

Für andere Menschen ist es das Normalste der Welt, die eigenen Beine zu spüren. Für mich nicht. Ich empfinde es als ähnlich eklig, wie wenn eine Spinne über meine Beine krabbelt. Ich mag meine Beine und will sie nicht weghaben, aber spüren will ich sie nicht mehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meiner Taille herumdrücke. Etwas stimmt da nicht. Vom Bauchnabel abwärts darf einfach kein Gefühl mehr sein. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Querschnittlähmung.

Ein völlig kranker Wunsch, ich weiss. Aber ich bin ihm hilflos ausgeliefert. Ich fühle mich im falschen Körper geboren. Gedanklich sehe ich mich längst als Gelähmte im Rollstuhl. Wo immer ich hinkomme, prüfe ich die Verhältnisse auf ihre Rollstuhltauglichkeit. Auf der Strasse: Rollstuhl und sandiger Boden? Nicht so gut. Im Restaurant: Wie komme ich als Rollstuhlfahrerin diese beiden Stufen zur Toilette hinauf? Im Supermarkt: Wie erreiche ich im Rollstuhl das Joghurt im obersten Regal? Automatisch bezahle ich an der Kasse mit dem breitesten Durchgang. Möchte ich mein Auto parkieren, zieht es mich zum Behindertenparkplatz.

Als kleines Kind mochte ich es besonders gern, wenn mich mein Bruder auf dem Bürostuhl herumschob. Dass ich mir ein Leben im Rollstuhl wünsche, wurde mir erstmals bewusst, als ich sechs Jahre alt war. Meine Lehrerin hatte sich ein Bein gebrochen und war für eine Weile an den Rollstuhl gebunden. Als ich sie darin sitzen sah, spürte ich ganz tief in mir drin ein beruhigendes Gefühl und hatte ein eigenartiges Bauchkribbeln.

Einige Jahre später dann ein Schulausflug, bei dem ein gelähmter Junge dabei war. Alle anderen tollten auf der Wiese herum – ich setzte mich zu ihm in den Sandkasten, kümmerte mich um ihn und beobachtete neugierig, wie er sich im Sandkasten umsetzte und zum Spielzeug griff. Es war mir peinlich, dass mich die Lehrer lobten, ich hätte mich so nett um den Jungen gekümmert. Darum ging es mir gar nicht. Damals war der Lähmungswunsch noch erträglich. In der Pubertät wurde er zur Qual.

Da es in Deutschland verboten ist, bei Menschen wie mir eine Querschnittlähmung operativ herbeizuführen, begann ich mir als Jugendliche ernsthaft zu überlegen, wie ich mir die Lähmung selber zufügen könnte. Sollte ich vielleicht mit gestreckten Beinen aus dem Fenster springen? Ich verwarf den Gedanken. Zu gross war das Risiko einer unvollständigen Lähmung. Um mit der ausweglosen Situation besser klarzukommen, kaufte ich mir auf Ebay einen Rollstuhl, gleich nachdem ich aus der WG in meine eigene Wohnung gezogen war. Seither mache ich zuhause fast alles vom Rollstuhl aus: kochen, arbeiten, fernsehen. Nur ins Bad passt der Rolli nicht. Von meiner Krankheit weiss eine Kollegin, sonst niemand. Immer öfter muss ich Verabredungen absagen, weil ich es einfach nicht mehr schaffe, aus dem Rollstuhl aufzustehen. Meine Beine fühlen sich dann so schwer an, dass ich glaube, ich würde beim Aufstehen sofort zusammensacken.

Vor vier Jahren erfuhr ich im Internet von der Body Integrity Identity Disorder, einer Körperintegritätsidentitätsstörung. Forscher vermuten, dass die ungewollte Gliedmasse im Gehirn der Patienten nicht richtig verankert wurde. Doch Betroffenen sind nicht nur Extremitäten fremd. Die Krankheit kennt ganz verschiedene Ausprägungen. In der Selbsthilfegruppe, der ich vor einiger Zeit beigetreten bin, habe ich auch eine Frau kennen gelernt, die sich wünscht, blind oder taub zu sein. Es hat gut getan festzustellen, dass es andere Menschen gibt, die so sind wie ich. Und dass ich nicht ganz so verrückt bin, wie ich befürchtet hatte.

*Name von der Redaktion geändert.

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