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Migräne: Die kaum beachtete Volkskrankheit

Leben

Migräne: Die kaum beachtete Volkskrankheit

  • Text: Barbara Achermann; Illustration: Matt Saunders

Jede sechste Schweizerin leidet an Migräne. Doch die Krankheit wird kaum beachtet und oft falsch behandelt. Ein neues Medikament verspricht Hilfe.

Wenn einer treu ist, dann dieser Schmerz. «Morgen oder übermorgen wird er kommen», sagt sie. Ein Pochen an der rechten Schläfe, als schlage sie jemand mit einem Hammer, im Rhythmus ihres Herzschlags. Die Kopfschmerzen kommen stets in Begleitung, ihr ist übel, und alle Sinne spielen verrückt: Die Stimmen ihrer Buben klingen unerträglich schrill, die Bügel ihrer Brille drücken aufs Ohr, und selbst das durch die roten Vorhänge gedämpfte Licht blendet.

Jessica Crisafulli, 39 Jahre alt, leidet an Migräne. In ihrem Reihenhaus am Stadtrand von Winterthur stapeln sich zweimal sechs Colaflaschen, «das Einzige, was ich während eines Anfalls zu mir nehmen kann, ohne mich zu übergeben». Sie sitzt am Küchentisch, dreht am Ehering und erzählt zögernd von ihrer Krankheit: «Ich konzentriere mich eigentlich lieber aufs Positive.»

Migräne ist eine Volkskrankheit, jede 6. Frau ist betroffen und jeder 16. Mann, das sind eine Million Patienten in der Schweiz. Und obwohl längst nicht alle so stark leiden wie Jessica Crisafulli, so ist die Migräne doch für jeden Einzelnen ein fieser Bremsklotz. Die meisten schlucken Schmerztabletten, versuchen sich nichts anmerken zu lassen und arbeiten weiter, wenn auch langsamer und unkonzentriert. Auch Jessica Crisafulli fuhr in den vergangenen 15 Jahren oft mit Migräne zur Arbeit. Doch manchmal waren die Schmerzen einfach zu stark. Eine Studie am Universitätsspital Zürich ergab, dass hierzulande pro Jahr rund 2.2 Millionen Arbeitstage wegen Migräne verloren gehen.

Migräne ist eine leise Krankheit, die man nicht hört, nicht sieht und über die man lieber schweigt. Weil man schnell als Drückeberger gilt. Migräne, das klingt nach Ausrede, so dachte schon Erich Kästner. In «Pünktchen und Anton» schrieb er: «Frau Doktor hat eine Migräne. Migräne ist, wenn man eigentlich gar keine Kopfschmerzen hat.» Die Wissenschaft war lang der Ansicht, die Ursache der Migräne sei ein psychisches Leiden. Und obwohl man heute weiss, dass die Krankheit biologisch bedingt ist und auch schon 35 Gene ausgemacht wurden, die damit in Verbindung stehen, hallt der Irrglaube nach und damit auch das Vorurteil «Die simuliert doch nur».

Bei der Arbeit beschwerten sich die Kolleginnen, die für Jessica Crisafulli einspringen mussten, später bekam sie eine schriftliche Verwarnung von ihrem Arbeitgeber. Selbst beim Hausarzt stiess sie auf wenig Verständnis. Er habe nur mit einem Ohr zugehört, und ihr der Reihe nach zu Aspirin, Panadol, Alcacyl, Algifor, Ben-u-ron geraten, die gängigen Mittel, die man rezeptfrei in jeder Apotheke bekommt. Um den Job und die Kinder trotz Kopfschmerzen auf die Reihe zu kriegen, schluckte sie mehrmals in der Woche einige Tabletten, bekam Magenschmerzen und noch mehr Kopfweh. Was sie damals nicht wusste: Wer an mehr als zehn Tagen im Monat Schmerzmittel nimmt, kann davon einen Müks kriegen, einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. In diesem Teufelskreis drehen sich etwa 100 000 Schweizerinnen und Schweizer. Jessica Crisafulli lag tagelang im Bett, während die Schwiegermutter und ihr Mann zu den beiden Buben schauten. «Ich vegetierte vor mich hin. Wenn ich die Kraft dazu hatte, weinte ich.» Erst da verwies sie der Hausarzt an den Neurologen.

Kopfschmerzen sind weltweit die Stiefkinder der Wissenschaft. Die Weltgesundheitsorganisation schreibt, «sie werden nach wie vor nicht ausreichend wahrgenommen, diagnostiziert und behandelt». Die Gleichgültigkeit rührt daher, dass Migräne das Leben zwar einschränkt, aber nicht verkürzt. In den USA ist Migräne eine der unterfinanziertesten Krankheiten. Die Gesundheitsbehörde NIH hat 2015 für die Erforschung der Migräne zwölfmal weniger Geld springen lassen als beispielsweise für die psychische Erkrankung Schizophrenie. Auch in der Schweiz scheint man sich nur marginal für das Volksleiden zu interessieren. Es gibt so gut wie keine grösseren Forschungsprojekte zur Migräne. Und im Vergleich zu multipler Sklerose oder Parkinson auch viel weniger Spezialisten. Bereits im Medizinstudium fristet sie ein Schattendasein und wird nur in einer einzigen Vorlesung behandelt. Das sind ein paar wenige Stunden in sechs Jahren für ein Leiden wie Kopfschmerzen, das achtzig Prozent der Bevölkerung betrifft. «Viel zu wenig», sagt Chefarzt Reto Agosti. In seinem Sprechzimmer in Zollikon herrscht eine sympathische Unordnung. An den Wänden hängt Kunst neben wissenschaftlichen Illustrationen, auf dem Schreibtisch türmen sich Bücher und Akten. Reto Agosti schiebt seinen breiten Schreibtisch nicht wie eine Barriere zwischen sich und seine Patienten, sondern setzt sich quasi neben sie. «So können wir auch mal was zusammen googeln, neue Therapien etwa, auf die sie mich hinweisen.»

Vor 15 Jahren gründete er das Kopfwehzentrum Hirslanden, manche Kollegen haben ihn damals ausgelacht, weil sie Kopfschmerzen nicht als echte Krankheit betrachten. Agosti hingegen nimmt das Leiden ernst. Wenn er einen Patienten zum ersten Mal sieht, lässt er ihn neunzig Minuten lang erzählen. Er erklärt: «Es gibt über 200 Arten von Kopfschmerzen. Entsprechend individuell ist auch die Therapie.» Die Behandlung der Migräne sei komplex, aber die Diagnose einfach. Migräne- Kopfweh sei zu achtzig Prozent einseitig und pulsierend. Häufig werde es begleitet von Übelkeit, Schwindel, Verdauungsstörungen oder Empfindlichkeit gegenüber Licht, Lärm oder Gerüchen.

Agosti bückt sich unter seinen Schreibtisch, sucht seine Tasche und zieht schliesslich ein Heft hervor, das ihm eine junge Illustratorin geschickt hat. Die Skizzen zeigen eine Frau zusammengekauert am Boden sitzend, zackige Linien, Blitze. «Unter Migränikern gibt es auffallend viele Künstler. Vermutlich, weil sie mehr sehen.» Er zeichnet parallele Linien auf ein Blatt und eine, die quer steht. In einem wissenschaftlichen Experiment habe man herausgefunden, dass Migräniker die querstehende Linie schneller finden als andere. «Sie sind visuell leistungsfähiger. Selbstverständlich nur zwischen und nicht während der Attacken.» Andere Studien haben gezeigt, dass das Gehirn von Migränikern auffällig schnell arbeitet und verschiedene Reize gleichzeitig wahrnehmen kann. Oder wie Agosti es ausdrückt: «Die Türen ihrer Wahrnehmung stehen stets weit offen. » Die Hirnzellen laufen auf Hochtouren, doch besonders nachhaltig ist das nicht. Irgendwann sind sie überreizt, es kommt zur lokalen Überlastung und schliesslich zum Zusammenbruch. Das ist der Moment, in dem Jessica Crisafulli einen Eisbeutel aus dem Gefrierfach holt, der ihr für die kommenden Stunden als Kopfkissen dient. Man vermute, dass sich das Gehirn mit dem Absturz vor einer Überbeanspruchung schütze, erklärt Agosti.

Die Migräne ist noch immer ein rätselhafter Vorgang. Es gibt zahlreiche Theorien und Modelle, doch stichhaltig bewiesen ist wenig. Mittlerweile weiss man zwar, welche Übertragungsstoffe beteiligt und welche Nerven und Hirnregionen betroffen sind, aber wie und weshalb genau es zu einer Attacke kommt, liegt im Dunkeln. Jeder fünfte Migräniker erlebt vor dem Kopfweh eine sogenannte Aura. Der Ausdruck leitet sich her von Aurora, dem lateinischen Wort für Morgenröte. Wie der blassrosa Streifen am Horizont, der das Tageslicht ankündigt, gibt die Aura eine Vorahnung auf den kommenden Schmerz. Sie ist eine geradezu mystische Störung der Sinnesorgane, eine Halluzination, die häufig als gezackte Linien in metallisierten Farben auftaucht. Manche Migräniker können während einer Aura nicht mehr sprechen, es kommt ihnen buchstäblich kein Wort mehr über die Lippen. Wer eine Geruchs-Aura hat, glaubt, es rieche verbrannt, sucht aber vergebens nach dem Feuer.

Jessica Crisafulli sieht die Welt wie durch einen Tunnel. Anderen wiederum erscheint sie winzig klein oder gigantisch gross, es geht ihnen wie Alice im Wunderland. Schriftsteller Lewis Carroll liess sich vermutlich von seinen Aura-Erlebnissen zum Kinderbuchklassiker inspirieren – oder aber vom Opium, das er gegen die Kopfschmerzen nahm. «Wer in aller Welt bin ich?», fragt sich Alice, nachdem sie zur Riesin gewachsen ist. Es ist die Frage aller Fragen, und sie passt deshalb so gut zur Migräne, weil mit einer Attacke eine hochsensible Stimmung einhergeht, ein Gefühl, das alles in Zweifel zieht. «Bin ich nur kaputtes Hirnfleisch?», sinniert Schriftstellerin Siri Hustvedt. Salvador Dalí malte während eines Anfalls seine berühmten zerfliessenden Uhren, Vincent van Gogh das verschwommene Bild «Sternnacht», und Richard Wagner komponierte unter pochenden Kopfschmerzen den «Siegfried». Es ist der erste Akt dieser Oper, der einen begreifen lässt, weshalb man Migräne auch Gewitter im Kopf nennt. Beginnend mit einem anschwellenden Brummen steigert er sich zu einem pulsierenden Rhythmus, begleitet von schrillen Streichern, gefolgt vom verzweifelten Ausruf des Sängers: «Zwangvolle Plage! Müh ohne Zweck!»

Was hilft gegen das Blitzen und Donnern unter der Schädeldecke? Spezialist Agosti lehnt sich zurück und beginnt aufzuzählen. Mit seiner Antwort könnte man eine halbe Apotheke füllen. Doch die Medikamente seien nur das eine, der Lebensstil ist das andere. Eine simple Regel gilt für alle Migräniker: «Vernünftig sein!» Im Idealfall sollten sie wie Nonnen leben: Immer zur selben Zeit schlafen gehen und aufstehen, regelmässig essen, viel trinken – aber nicht mehr als ein Glas Wein –, meditieren, Pausen machen, um das Gehirn nicht zu überlasten, und dreimal die Woche Ausdauersport. Einzig beim Sex muss man sich nicht strikt ans Klosterleben halten: Der unlängst gestorbene Neurologe Oliver Sacks schrieb in seinem Migräne-Bestseller, dass ein Orgasmus zwar eine Attacke auslösen kann, aber auch eine beenden. Selbst alternativen Methoden gegenüber ist Agosti nicht abgeneigt, Akupunktur, Osteopathie, Magnesium oder Pfefferminzöl, das alles könne helfen – auch deshalb, weil der Placebo-Effekt bei Migräne besonders hoch sei.

Um die Migräne ranken sich vielerlei Mythen und Halbwissen, etwa, dass Schokolade oder Süssigkeiten eine Attacke auslösen könnten. «Blödsinn», sagt Agosti. Es sei vielmehr die Unterzuckerung, die Kopfschmerzen mache. Die Lust auf Süsses sei der letzte Versuch des Körpers, die Migräne zu stoppen. Auch von der Theorie, dass die Kopfschmerzen vom Föhn oder vom billigen Wein kommen, hält er nichts. «Der Preis des Weins spielt keine Rolle, sondern die Menge.»

Zur Behandlung der eigentlichen Attacke macht Agosti mit Triptanen die besten Erfahrungen. Das sind Medikamente, die speziell für die Migräneattacke entwickelt wurden. «Ich habe Patienten, die haben vor Erleichterung geweint, nachdem sie zum ersten Mal ein Triptan geschluckt haben.» Auch Jessica Crisafulli nimmt ein solches Migränemittel. Aber es hilft ihr nur, wenn sie den Schmerz früh genug erwischt. Beginnt das Medikament zu wirken, durchströmt sie eine warme Welle, und ihr Körper wird schlapp.

Nebst der Behandlung der akuten Schmerzen gibt es auch vorbeugende Medikamente, die machen, dass die Attacken schwächer und seltener sind. Jessica Crisafulli bekam einen Betablocker verschrieben. «Nach einem Jahr hatte ich zwar weniger Migräne, dafür Depressionen. Ausgerechnet ich, die ewige Optimistin.» Die meisten Prophylaxen gegen Migräne haben Nebenwirkungen, weil sie ursprünglich gegen andere Leiden entwickelt wurden wie Depression, Kreislaufprobleme oder Epilepsie. Ihren positiven Effekt auf die Migräne hat man jeweils nur zufällig entdeckt. Das jüngste Beispiel in dieser Reihe ist Botox. Als das Nervengift in Kalifornien erstmals gegen Falten gespritzt wurde, waren die Ladys der High Society gleich doppelt entzückt: Bei einigen wenigen waren, aufgrund der lähmenden Wirkung, nicht nur die Falten weg, sondern auch die Kopfschmerzen.

Kaum hatte Jessica Crisafulli den Betablocker abgesetzt, plagte sie wieder zwei- bis dreimal die Woche Migräne. Sie probierte alternative Methoden aus, Akupunktur und Kräutermischungen, aber nichts half. Eines Morgens las sie in der Gratiszeitung «20 Minuten», dass Probanden gesucht werden, um ein neues Migränemittel zu testen. «Schlimmer kann es nicht werden», sagte sie sich und wählte die Nummer von Reto Agostis Kopfschmerzzentrum.

An einem Nachmittag im Juni vergangenen Jahres twitterte Peter Goadsby den Song «Simply the Best» von Tina Turner. Der weisshaarige Australier ist einer der führenden Migräneforscher weltweit und gehört eigentlich nicht zu den Leuten, die regelmässig irgendwelche Neuigkeiten in die Welt posaunen. Aber an diesem Tag schrieb er den Satz: «CGRP-Behandlungen für Migräne kommen.» Dann fügte er den Song als Kommentar zur neuartigen Therapie an: «Simply the Best», einfach die beste. Ein Jahr später präsentiert Peter Goadsby eine Medikamentenstudie am weltweit grössten Neurologenkongress in Boston. Die Resultate sind derart gut, dass einige Fachleute von einer Revolution in der Migränetherapie sprechen. Entsprechend ist Goadsby dieser Tage ein gefragter Mann. Es stellt sich als schwierig heraus, ihn ans Telefon zu kriegen, doch zu einem Mailwechsel lässt er sich überreden. Der Australier kam bereits als junger Wissenschafter nach Europa, um sich mit der Migräne zu beschäftigen. Er schreibt: «Ich erinnere mich gut daran, denn ich war noch nie zuvor in Europa gewesen und war überwältigt von der Helligkeit der schwedischen Mittsommer- nacht.» Gemeinsam mit seinem Kollegen Lars Edvinsson richtete er sich in einer Intensivstation ein, um den Migränepatienten, die gerade eine Attacke erlitten, am Hals etwas Blut abzunehmen. Im Blut der Migräniker fanden sie ein Protein in rauen Mengen: das Calcitonin Gene-Related Peptide oder kurz CGRP. Dieses, so vermuteten sie, muss bei der Migräneentstehung eine wichtige Rolle spielen. Und tatsächlich: Als man das Protein Migränikern spritzte, die gerade keine Kopfschmerzen hatten, erlitten sie innert weniger Stunden eine Attacke. Trotzdem sollte es noch drei Jahrzehnte dauern, bis aus dem bahnbrechenden Fund ein Medikament entstand.

Vier globale Pharmaunternehmen entwickeln momentan eine Migräne-Prophylaxe, die den Pfad der Schmerzentstehung blockieren soll, den Goadsby und sein Kollege entdeckt haben. Am weitesten sind Amgen und Novartis, die sich für diese Aufgabe zusammengetan haben. Ihr Medikament heisst Erenumab, das sind Antikörper, die den bösen Proteinen, die während einer Migräneattacke im Blut schwimmen, den Platz wegnehmen, indem sie sich vor ihnen an den Rezeptor binden. Das Mittel wird voraussichtlich im Herbst 2018 auf den Markt kommen.

Jessica Crisafulli haben Nadeln noch nie etwas ausgemacht. Sie sah interessiert zu, als Reto Agosti ihr das Medikament Erenumab in den Arm spritze. Allzu grosse Erwartungen hatte sie nicht. Doch zu ihrem Erstaunen war ihr Kopfwehkalender bereits nach wenigen Wochen sozusagen leer. Sie hat seit bald einem Jahr nur noch eine Attacke im Monat, immer kurz bevor sie ihre Periode kriegt. Die Winterthurerin war nicht die Einzige, die positiv auf die Prophylaxe reagierte. Die für die Zulassung entscheidende Studie hat ergeben, dass vierzig Prozent der Probanden nur noch halb so viele bis gar keine Migränetage mehr hatten.

Reto Agosti, der mit sieben Patienten bei der Studie mitgemacht hat, war ebenfalls verblüfft, wie gut das Medikament anschlug. «Es war das erste Mal, dass ich Probanden sah, die plötzlich keine Kopfschmerzen mehr hatten. Nicht einfach weniger, sondern zero.» Doch Agosti relativiert, er will keine falschen Hoffnungen schüren. Bei sechzig Prozent der Probanden war die Wirkung gering – und vereinzelt zeigte sich gar keine Besserung: «Auch dieses Medikament wird nicht die Lösung für alle sein. Dafür ist Migräne leider zu kompliziert.» Er schaltet den Ventilator an, der neben seinem Schreibtisch steht. Die Luft ist warm und schwer, er redet jetzt schon über zwei Stunden.

Kollege Andreas Gantenbein ist ebenfalls optimistisch, schwächt seine Worte aber mit einem Konjunktiv ab: «Diese neue Prophylaxe könnte eine Revolution in der Migränebehandlung einläuten.» Gantenbein ist Chefarzt der Reha-Klinik Bad Zurzach und Präsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft. Auch er hat eine Handvoll Probanden bei der Novartis-Studie betreut. Besonders beeindruckt hat ihn, dass das Medikament bisher keine Nebenwirkungen zeigt. «Es scheint ähnlich sicher zu sein wie Akupunktur. Ein leichtes Brennen an der Einstichstelle, das ist schon alles.» Jetzt gelte es abzuwarten, ob sich auch längerfristig keine unerwünschten Folgen zeigten.

Jessica Crisafulli hat in den vergangenen zehn Jahren unzählige Tage an den Schmerz verloren. Weil sie falsch behandelt wurde. Aber auch, weil es für diese komplizierte Krankheit keine simplen Lösungen gibt. Für Migräne braucht es eine personalisierte Therapie, die zum Patienten passt wie gut sitzende Jeans. Sie beinhaltet speziell für die Migräne entwickelte Medikamente, einfühlsame und gut informierte Ärzte, aber auch aktive Patienten. Andreas Gantenbein sagt: «Wir motivieren die Patienten zu Entspannungstechniken oder zu Sport.» Und ein Migränekalender helfe ihnen zu verstehen, was eine Attacke auslöse. Heute weiss Jessica Crisafulli, dass selbst das Zürifäscht zu viel ist für ihren Kopf. Sie meidet Stress, so gut es eben geht, und hat gelernt, bereits den leisesten Anflug einer Migräne zu erkennen. Auch hat sie das Glück, ein Medikament gefunden zu haben, das ihr hilft. Sie sagt, das klinge jetzt vielleicht etwas pathetisch, aber: «Mir wurde ein neues Leben geschenkt. Nicht nur mir, auch meinen Söhnen und meinem Mann.»

Infos: headache.ch, kopfwww.ch
Buch: Reto Agosti et al.: Kopfschmerz und Migräne. Ein Fachbuch für Hausärzte, Fachärzte, Therapeuten und Betroffene.
Karger-Verlag, 2015, 416 Seiten, ca. 85 Fr.

 

Spannungskopfschmerzen

Fast jeder kennt die dumpf drückenden Schmerzen nach vielen Stunden am Computer oder einem hektischen Tag zwischen Handy und Kindergeschrei. Tritt das Spannungskopfweh nur an wenigen Tagen im Monat auf, stellt es kein Problem dar.

 

Das hilft:

– Ein Spaziergang an der frischen Luft, genügend Schlaf oder ab und zu ein Schmerzmittel.

– Plagt einen das Kopfweh öfter, sollten vorbeugende Massnahmen getroffen werden, etwa Sport oder regelmässige Pausen.

– Anders als oft angenommen, entstehen Spannungskopfschmerzen nicht durch verspannte Nackenmuskeln, sondern durch die Überbeanspruchung des Gehirns.

 

Migräne

Das meist einseitige, pulsierende Hämmern im Kopf wird oft begleitet von Übelkeit, Schwindel oder Empfindlichkeit auf Licht und Geräusche. Am meisten betroffen sind Frauen zwischen 15 und 45 Jahren, da Hormone einen Einfluss auf die Schmerzentstehung haben können.

 

Das hilft:

– Die Krankheit verstehen: Ein Schmerztagebuch führen, um herauszufinden, was die Attacken auslöst.

– Gesund leben: Dreimal pro Woche mindestens dreissig Minuten Ausdauersport, regelmässig schlafen und essen, Entspannungtechniken, Sonnenbrille tragen.

– Ohne Chemie: Akupunktur zeigt Wirkung – egal, wo die Nadeln gesetzt werden. Auch Physiotherapie und Chirotherapie werden häufig angewendet. Neurologe Andreas Gantenbein macht mit Cefaly gute Erfahrungen, ein vibrierendes Gerät, das an der Stirn befestigt wird und die Nerven von aussen stimuliert, ganz ohne Nebenwirkungen.

– Medikamente: Es gibt eine Reihe rezeptpflichtiger Prophylaxen, die aber starke Nebenwirkungen haben können. Die gängigsten sind blutdrucksenkende Betablocker, das Antidepressivum Amitriptylin oder das Epilepsiemittel Topiramat. Bei mehr als 15 Schmerztagen im Monat kann auch Botoliniumtoxin (Botox) nützen. Für die Behandlung der Attacken helfen rezeptfreie Schmerzmittel oder speziell für die Migräne entwickelte Triptane.

– Neue Prophylaxe: Im Herbst 2018 soll das Medikament Erenumab auf den Markt kommen, das einmal im Monat unter die Haut gespritzt wird. Die bisherigen Studien sind vielversprechend.

 

Das hilft nicht:

– Migränechirurgie ist wirkungslos, teuer und bei weitem nicht risikolos. Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft schreibt: «Finger weg von dieser (und ähnlichen) Methoden.»