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Single mit Anfang 30: Ein Dating-Protokoll

Liebe & Sex 

Single mit Anfang 30: Ein Dating-Protokoll

Unsere Autorin lebte jahrelang in einer Beziehung. Dann, mit Anfang dreissig, wird sie Single und beginnt zu daten. Das Protokoll einer Reise.

Ein lauer Sommerabend im Garten einer Winterthurer Stadtvilla. Die Bäume sind dekoriert mit Girlanden, es wird geplaudert, getrunken, gelacht. Ein Baby krabbelt über die Wiese. Es ist schwül und der Abend riecht nach Unendlichkeit.

Ich trage ein hellblaues, langes Blumenkleid und betrachte die Szenerie. Wie schön, dass alle gekommen sind. Wie glücklich ich bin, jetzt gerade, in diesem Moment. Er umarmt mich von hinten, ich drehe mich um und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. Mein Mann. Nächstes Jahr werden wir heiraten und wer weiss, vielleicht krabbelt schon bald unser Baby über die Wiese.

Als die Nacht hereinbricht, verteilen wir Kerzen auf den zu Tischchen umfunktionierten Weinkisten. Er reicht mir einen weiteren Basil Smash. Wir trinken zu viel, lachen zu laut und grölen Britney Spears bis in die frühen Morgenstunden.

The End

Ich habe den ganzen Tag geputzt, habe mich zurechtgemacht für ihn und voller Vorfreude einen Weisswein kühl gestellt. Sein Besuch war schmerzhaft kurz, seine Aussage weitreichend, der Abschied unerträglich. Wie in Trance packe ich den Wein und Kleidung für ein paar Tage in einen Koffer und fahre zu meiner besten Freundin. Blanker Unglaube steht ihr ins Gesicht geschrieben, ich falle ihr schluchzend in die Arme. Alles in Schutt und Asche.

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«Diese erste Nacht als Single. Und weil ich ich bin, bedeutet das: Es wird ein Parship-Konto erstellt»

Eine Welle von Dankbarkeit überwältigt mich. Dankbarkeit für die Selbstverständlichkeit des Auffangens, die bedingungslose Liebe und die geduldige Gesprächspartnerin. Aber früher oder später muss sie kommen, diese erste Nacht als Single. Und weil ich ich bin, bedeutet das: Es wird ein Parship-Konto erstellt.

Patrick, 30

Du bist mein erster Match und wir chatten die ganze Nacht. Ich gestehe dir, dass meine Trennung gerade mal ein paar Stunden zurückliegt und du wechselst fliegend von potenziellem Partner zu besorgtem Freund. Über die nächsten Tage und Wochen erkundigst du dich regelmässig nach meinem Befinden. Ich werde dir niemals begegnen, aber ich bin dankbar, dass es dich gibt.

Paweł, 30

Vier durchgeschriebene Nächte, in denen ich alles von mir preisgab und mein Herz bei jedem Nachrichtensignal einen kleinen Sprung machte. Jetzt stehst du vor mir in dieser grauen «Let’s meet in front of Starbucks»- Realität und bist mir völlig fremd. Meine über den Tag hindurch aufgebaute Aufregung weicht einer leisen Panik und ich frage mich, ob ich meinem spontanen Instinkt trauen kann oder ob erste Dates grundsätzlich unangenehm sind.

Wir spazieren durch die Zürcher Innenstadt, die Unterhaltung plätschert vor sich hin. Es ist kein schlechtes Gespräch und nachdem du mich spontan zum Abendessen eingeladen hast, sind tatsächlich etliche Stunden verstrichen und peinliche Stillen gab es keine.

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«Noch während die Worte meinem Mund entweichen, bereue ich sie»

Mich erstaunt, dass du mir kaum Fragen stellst, obwohl du weisst, wie frisch meine Trennung ist. Mich irritiert, dass du seit zwei Jahren in der Schweiz lebst, aber kein Interesse daran zeigst, Deutsch zu lernen. Und mich amüsiert, wie ehrlich du meine Musik kommentierst. Meine Ausbildung als Sängerin schützt mich im Normalfall vor allzu unverblümten Spontankommentaren.

Beim Abschied bin ich unsicher, ob du einen Kuss erwartest, also spreche ich ihn aus, den Satz. «I’m looking forward to seeing you again soon!» Noch während die Worte meinem Mund entweichen, bereue ich sie. Du aber freust dich sichtlich darüber und schreibst mir noch im Tram, wie schön der Abend war für dich. In einem sorgfältig formulierten Satz bedankst du dich für meine Zeit und machst einen intelligenten Witz. Nur Stunden zuvor hätte mich dieser Witz von deiner Schlagfertigkeit überzeugt und zu dir hingezogen, jetzt kommt er mir konstruiert und hölzern vor.

Joel, 23

Die Art, wie du meinen Namen sagst. Deine nachlässige Sprache, die beinahe ohne Konsonanten auskommt und in ihrer Jugendlichkeit meine Reife unterstreicht. Dein Blick, der sagt, was ich denke: Zu zweit wärs schöner.

Wir sitzen in der nachmittäglichen Oktobersonne und trinken Raki. Um uns hat sich eine bunt zusammengewürfelte Truppe versammelt. Menschen, von deren Existenz ich vor zwei Tagen noch nichts wusste, die sich durch den miserabel bezahlten Gelegenheitsjob jedoch schnell in eine eingeschworene Clique verwandelt haben. Wir prosten uns mit unseren matschigen Papierbechern zu und starren gemeinsam in das Berner Industriegebiet.

Dir ist kalt und du hast dir meinen Schal umgelegt, eine versteckte Verbindung zu mir, eine Geheimbotschaft an die Aussenwelt. Mir ist bewusst, dass du mich riechen kannst in diesem Moment, ein sehr intimes Privileg für einen Mann, mit dem ich kaum zehn Sätze gewechselt habe. Und später werde ich dich riechen können. Unsere Verbindung ist so intensiv, dass wir es nicht wagen, uns anzuschauen, anzusprechen, anzufassen.

«Wir schauen uns an und ich ertrinke in deinem Blick»

Du schenkst mir keinerlei Aufmerksamkeit und ich kann mich kaum auf das Gespräch konzentrieren, weil deine Präsenz meinen gesamten Fokus beansprucht. Wir harren aus, bis die meisten verschwunden sind. Nur einer harrt mit, offensichtlich interessiert und nicht sehr gewandt im Lesen von Signalen. Wir schauen uns an und ich ertrinke in deinem Blick. Unsere Zeit wird kommen.

Marco, 33

Du hättest noch nie eine Musikerin auf Tinder getroffen, schreibst du mir. Ich identifiziere eine Bratsche auf deinen Bildern und bin erstaunt, dass wir uns noch nie begegnet sind. Es ist Sonntagabend kurz nach acht, wir sind beide in Winterthur, warum also nicht. Wir verabreden uns im Paddy O’Brien’s und von der ersten Sekunde an ist eine Vertrautheit da, wie sie mit einem fremden Menschen sehr selten ist.

Du trinkst Bier, ich trinke Cider und wir reden über Gott und die Welt. Als das Pub sich langsam leert, bestellen wir ein letztes Bier, ein Bier zum Teilen. Im Jahr 2020 ein klares Zeichen: Wir halten die Schutzmassnahmen nicht ein, nicht heute Nacht.

«Ich spüre zum ersten Mal wieder fremde Hände auf meiner Haut»

Konsequenterweise ist der nächste Programmpunkt Heavy Petting vor dem Coop. Ein grosser Schritt für mich: Nach fünfeinhalb Jahren Beziehung spüre ich zum ersten Mal wieder fremde Hände auf meiner Haut, eine fremde Zunge in meinem Mund, fremden Atem in meinem Ohr. Am meisten beeindruckt mich dein Begehren. Du willst mich und ich bin schon sehr lange nicht mehr gewollt worden.

Für diesen Abend belassen wir es dabei und verlassen die Szene, ganz nach Künstlermanier, kurz nach halb drei. Wenn ich daran denke, wie mich deine Hand auf einem öffentlichen Platz mitten in der Stadt um ein Haar zum Höhepunkt gebracht hätte, verspüre ich ein Kribbeln. Ist es im Bauch oder ist es tiefer?

Daniel, 36

Schon den dritten Tag in Folge sitze ich im gleichen Café, heute hast du auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen. Wir beginnen zu reden, aber die Stimmung erinnert an ein Bewerbungsgespräch. Was arbeitest du? Was machst du in deiner Freizeit? Hast du Geschwister? Wir umschiffen gekonnt alle riskanten Themen und bleiben in der Konsequenz völlig oberflächlich.

Der Gesprächsfluss ist bestenfalls ein Rinnsal und die unangenehmen Pausen werden häufiger und länger. Ich frage mich, ob du nervös bist oder ob es Menschen gibt, die diese Art des Austausches als gelungene menschliche Interaktion einstufen. Ich käme niemals auf die Idee, jemanden als langweilig zu bezeichnen, aber die Kombination von uns beiden resultiert in absoluter Öde.

Die Zeit, bis wir die Aufmerksamkeit des Kellners erregen und endlich bezahlen können, fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

Alessio, 27

Du erinnerst mich an einen jungen Hund mit deiner Begeisterungsfähigkeit, deinem Bewegungsdrang und deinem treuen Blick. Ich lerne dich bei der Arbeit im Contact Tracing kennen, wir schnüffeln eine Nacht lang infizierten Personen hinterher und als es Morgen wird, bist du mein Hund. Du hechelst, scharrst und wedelst und in einem schwachen Moment nehme ich dich mit nach Hause.

Im Bett ist dein Enthusiasmus gut platziert. Als jedoch das Thema Kondom aufkommt, wirst du weinerlich. Komm schon, nur kurz. Ich, als Langzeitbeziehungsmensch, überschlage ein paar Zahlen und schliesse die Gefahr einer Schwangerschaft aus. Alles andere verdränge ich, dem winselnden Elend vor mir, meiner Überforderung und der Situation geschuldet.

Ohne dass ich gross was zu deinen Orgasmen beitrage, kommst du insgesamt dreimal. Ich komme insgesamt nie. Nach einem Tag im Schlummerzustand wird es Zeit, aufzubrechen. Mein Abend gehört einem anderen und so lasse ich dich in meiner Wohnung zurück. Dein schmutziges Geschirr lässt du stehen, das Bett bleibt ungemacht. Zwei Wochen und einen Juckreiz später stelle ich verwundert fest, dass du mir ein Abschiedsgeschenk gemacht hast. Ich habe jetzt Chlamydien.

Lukas, 36

Es ist Jahre her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Wir sangen mit unseren A-cappella-Gruppen am selben Festival und kamen, wie oft an solchen Anlässen, leicht ins Gespräch. Für mein Ensemble war es ein emotionaler Abend (wir trafen eine weitreichende Entscheidung) und so floss nach dem Konzert reichlich Alkohol.

Aufgeputscht durch das Adrenalin des Auftrittes fanden wir uns schliesslich im Plaza wieder und schon bald sass ich mit dir auf der Treppe vor dem Club. In der Januarkälte rauchten, tranken und redeten wir, bis der neue Tag anbrach. Da wir beide in Beziehungen waren, stand alles Ungesagte ausser Frage und so verabschiedeten wir uns und hörten jahrelang kein Wort von einander.

«Ich erinnerte mich bald daran. An das magische Flirren zwischen uns in dieser trostlosen Winternacht»

Die gemeinsame Nacht brannte sich jedoch in mein Gedächtnis ein. Beim mentalen Durchgehen meines persönlichen Potenzielle-Partner-Pools erinnerte ich mich bald daran. An das magische Flirren zwischen uns in dieser trostlosen Winternacht. An das befreiende Gefühl des Ausbrechens, ausgelöst durch den spontanen Ausgang mit einem fremden Mann. An die nicht versiegende Quelle an Gesprächsstoff.

Ich spiele einige Male mit dem Gedanken, dir zu schreiben, aber finde die richtigen Worte nicht. Bis du es schliesslich tust. Nonchalant beziehst du dich auf die momentane Kulturkrise und appellierst damit an die Kollegin in mir. Nach wenigen Nachrichten ist klar, dass wir uns beide kürzlich getrennt haben und uns sehen wollen. Als Zeitpunkt wird der nächste Samstag um zehn Uhr abends festgelegt, deine Mutter feiert noch Geburtstag.

Wir treffen uns direkt bei dir zu Hause, wir beide sind zu alt für Spiele. Der formulierte Plan: gemeinsames Betrinken mit Gin Tonic, zwischen den Zeilen aber geht es um mehr. Ist die Faszination von früher noch da? Zerstört uns die Option der Körperlichkeit den Nervenkitzel? Wird es im Bett so sein, wie ich es mir damals vielleicht ausgemalt habe?

Ich klopfe an deine Tür. Du öffnest, strahlst mich an und lässt mich herein.

Thomas, 30

Deine Nägel passen perfekt zu deinem Pullover, höre ich dich sagen und vermute, dass es sich bei dieser Äusserung um den verzweifelten Versuch handelt, körperlichen Kontakt mit mir aufzunehmen. Du bleibst komplett regungslos und ich schaffe es beim besten Willen nicht, auszuführen, was du entworfen hast. Also bleibt dein Satz im Raum stehen, gefolgt von einer unerbittlichen, entlarvenden Stille.

Manisch durchforste ich mein Gehirn nach Gesprächsthemen, Erfahrungswerten, Lösungsansätzen, doch kein einziger halbwegs brauchbarer Move fällt mir ein. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich etwas näher rücke, startest du einen erneuten Anlauf. Klar ist es das, antworte ich und schaue tief in deine Augen. Warum fällt es mir so schwer, einen Schritt zu machen? Ich bin doch sonst nicht so passiv.

Beinahe unmerklich bewege ich mein Gesicht in deine Richtung, doch der Moment ist vorüber, zu viel Zeit ist verstrichen. Abrupt wende ich den Blick ab, sichtlich frustriert. Ich schaue mich in meinem Wohnzimmer um und stelle mir vor, wie die Mitarbeitenden der gegenüber eingemieteten Krankenversicherung uns gerade beobachten. Vielleicht haben sie Wetten abgeschlossen darüber, wer den ersten Kuss initiieren wird, wann genau es so weit ist oder ob der heutige Besucher das Feld unverrichteter Dinge verlassen muss.

Roman, 30

Ich erreiche die nach innen aufschwingende Eingangstür etwas vor dir. Als ich sie öffnen will, nimmst du mir die Klinke aus der Hand. Der Winkel, in dem ich stehe, schränkt deinen Bewegungsspielraum extrem ein, die zustande gebrachte Öffnung ist bescheiden. Nun stehst wiederum du ungünstig und ich bin gezwungen, mich an dir vorbeizudrängeln, um vor dir ins Innere der Bar zu gelangen. Für einen kurzen Moment legst du deine Hand auf meine Taille.

Jakob

«Wann kommt der nächste Bus?» Ich schrecke aus meinen Gedanken und blicke irritiert von meinem Smartphone auf. Es ist spät, ich bin erschöpft vom gerade gesungenen Konzert und möchte noch eben einen Social-Media-Post zu Ende bringen, bevor ich die letzten Meter zu Fuss auf mich nehme.

 

«Ich habe mir schon oft ausgemalt, wie es wäre, von jemandem angesprochen zu werden, der mich tatsächlich interessiert»

Ich bin unsicher, wie ich die Frage beantworten soll, und stelle fest, dass es etwas seltsam ist, an einer Bushaltestelle zu sitzen, jedoch nicht an der Weiterfahrt interessiert zu sein. Intuitiv stehe ich auf und beginne meine unzähligen Taschen zusammenzusuchen. Du führst unbeirrt Smalltalk im Plauderton, ich bleibe vage, distanziert. Warum eigentlich?

Du hast mir auf den ersten Blick gefallen, vor allem deine Gabe, so offen und unverblümt ein Gespräch mit einer wildfremden Person anzufangen, imponiert mir. Ich habe mir schon oft ausgemalt, wie es wäre, von jemandem angesprochen zu werden, der mich tatsächlich interessiert. Oder besser noch, den Mut aufzubringen, selbst die Ansprechende zu sein. Sich einfach so kennenzulernen, off line, ohne den vermeintlichen Schutz eines Bild- schirms.

Als ich mich langsam von dir entferne, verfluche ich meinen jahrelang antrainierten Fluchtreflex und hoffe inständig, dass du mich aufhältst. Nur wenige Meter von dir weg dämmert mir, was off line eben auch bedeutet: keinerlei Spuren, keine Recherchegrundlage, kein Zurück.

Am nächsten Tag erzähle ich einem Freund von der Begegnung und er meint scherzhaft, ich könne heute Nacht ja zur selben Zeit an den Ort des Geschehens zurückkehren. Die Romantikerin in mir weiss, dass sie diesen Vorschlag umsetzen wird, die Pragmatikerin tarnt die Aktion als Spaziergang.

Noch bevor ich die Bushaltestelle erblicke, weiss ich, dass ich sie verlassen vorfinden würde. Ich habe die Ge- legenheit achtlos an mir vorüberziehen lassen. Die Chance ist verpasst.

Amir, 31

Wir sitzen auf deinem Balkon mitten in Wiedikon und trinken Glühwein. Es ist der 25. Dezember. Du hast Kerzen angezündet und aus einer kleinen Box ertönt Rachmaninows 2. Klavierkonzert in c-Moll. Ich nehme einen weite- ren Zug meiner Zigarette und schaue lange in deine dunklen Augen.

Es ist dieser Moment, in dem du dich in mich verliebst, wirst du mir später sagen; und doch werden wir das neue Jahr getrennt beginnen. Zu gross sind die Unterschiede zwischen deiner patriarchalen Rolex-Realität und meiner Prosecco-Greta-Welt.

Wir beide sind auf der Suche nach einer Beziehung und dabei zu kompromisslos, zu stur. Wir verbringen vom ersten Moment an viel Zeit miteinander und rutschen augenblicklich in einen gemeinsamen Alltag, obwohl wir uns kaum kennen.

«Nach einem feuchtfröhlichen Silvester erwache ich urplötzlich aus meinem Dämmerzustand»

Ob wir zusammenpassen oder nicht, ist nebensächlich. Du holst mich mit dem Auto von der Arbeit ab, lässt deine Boxershorts in meinem Wäschekorb zurück, beim Sex kommst nicht einmal du.

Nach einem feuchtfröhlichen Silvester erwache ich urplötzlich aus meinem Dämmerzustand. Ich male mir meine Zukunft aus: keine finanziellen Probleme mehr, ein loyaler Mann an meiner Seite, ein Ferienhaus in der Türkei. Aber auch: ein Leben gegen meine Prinzipien, mein Beruf zum Hobby degradiert, die Welt täglich von Neuem erklärt bekommen.

Seufzend schliesse ich die blaue Tür hinter mir.

Gian, 30

Eben hast du mir mitgeteilt, dass du dich nicht länger mit mir treffen möchtest. Wir sitzen in meinem Wohnzimmer, es ist unser zweites Date und für mich war die Begegnung sehr vielversprechend. Du arbeitest beim Radio, deine Mutter ist Politikerin, dein Vater Künstler. Und wir verstanden uns auf Anhieb gut.

Klar, kann ich nachvollziehen, fair, dass du das gleich sagst. Es bedarf meiner gesamten Konzentration, meine Gesichtszüge nicht entgleiten zu lassen. Es habe sich richtig angefühlt, diese Erkenntnis mit mir zu teilen, erklärst du, die Stimmung sei gerade so entspannt. Ich stimme dir zu, und begleite dich mit einem zutiefst unnatürlichen Strahlen nach draussen. Mir ist etwas schwindelig von der unerwarteten Kehrtwendung des Abends und ich weiss nicht, was ich jetzt noch mit dir anfangen soll.

Während ich die Tür hinter dir schliesse, schüttle ich verwundert den Kopf und logge mich bei Bumble ein.

Kurt, 39

Du berührst mich beinahe andächtig und mit rührender Dankbarkeit. Ich sehe aus wie gemalt, staunst du, und bist fasziniert von der Glätte meiner Haut.

Ganz klassisch batest du mich um dieses Rendezvous und als ich zugesagt habe, hast du dich spürbar gefreut. Ich treffe bei dir ein, deine Wohnung ist in makellosem Zustand und offenbar hast du umgestellt für mich.

Auf dem Tisch stehen viermal zwei Gläser, sorgfältig aufgereiht. Wein, Bier, Cocktail, Schnaps. Wir starten mit Weisswein, der Abend ist noch jung. Du hast ein kaltes Plättli vorbereitet, eine sorgfältig symmetrische Anordnung von Käse, Trockenfleisch und Gemüsesticks mit Dip. Was mich am meisten berührt: Die Zahnstocher treffen jede einzelne Cherrytomate exakt in der kleinen grünen Mulde.

Janis, 26

Schwungvoll öffne ich die Fensterläden an diesem Morgen. Etwas zu spät, um als nützliches Mitglied der Gesellschaft durchzugehen, und definitiv zu leicht bekleidet. Die für gewöhnlich freie Sicht auf den Fächerahorn ist heute gestört und unverhofft blicke ich in ein Augenpaar. Du grinst mich an, wünschst mir einen guten Morgen und machst dich daran, die Bäume von ihren durch den starken Schneefall verursachten Schäden zu befreien.

Du siehst nicht aus, wie ich mir einen Gärtner vorstelle. Du trägst Beanie und Brille und eine karierte Bomberjacke. Gut siehst du aus und ich bin ungeschminkt, trage keinen BH und meine Haare stehen in alle Richtungen ab.

Leicht verwirrt ziehe ich mich ins Bad zurück und beginne gemächlich meinen Tag. Als ich die Dusche betrete, klingelt es an der Tür. Davor stehst du, und ich, nackt unter einem zu knappen Frotteetuch, dir gegenüber. Du fragst mich, ob du deinen Lieferwagen dienstagnachts vor dem Haus parkieren dürftest.

Du kannst deinen Lastwagen auch gern jetzt gleich parkieren.

Edward, 40

Seit zehn Minuten haben wir kein Wort gewechselt. Eine tiefe Vertrautheit liegt in der Luft, schwindelerregende Nähe, stille Harmonie. Wir sitzen in deiner Badewanne, es riecht nach Melisse. Ich schmiege mich an dich, du hast deine Arme von hinten um mich geschlungen und streichelst gedankenverloren meinen Arm. Ich drehe mich zu dir um und liebkose dein Ohr.

«Ich falle für dich, tief und tiefer, höre mit dem Fallen nicht auf»

Sorgfältig ertasten meine Lippen die deinen, du öffnest leicht den Mund und lässt unsere Zungen spielen. Den darauffolgenden Blickkontakt empfinde ich im ganzen Körper. Mein Magen steht Kopf. Ich falle für dich, tief und tiefer, höre mit dem Fallen nicht auf.

Dieser Moment könnte sowohl Anfang als auch Ende sein, sage ich. Du antwortest, vielleicht sei es auch einfach ein Moment. Drei Tage später weiss ich: Er war Ende.

Rebekka, 30

Es schneit bereits seit Stunden. Die ganze Welt ist in Watte gehüllt und eine kraftvolle Ruhe breitet sich aus. Es ist spät, aber dunkel wird es heute Nacht nicht werden: Unermüdlich streut der Himmel Schneef locke um Schneef lo- cke auf die Erde und erhellt damit die Stadt. Ich trete vor die Haustür und atme tief ein. Die kalte Januarluft füllt meine Lungen und Tränen steigen in meine Augen. Wie glücklich ich bin, jetzt gerade, in diesem Moment!

Ich stapfe im Schlendertempo durch den Tiefschnee, steige über einen Ast, der quer über der Strasse liegt, oder bücke mich, um Büschen auszuweichen. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln und ich hinterlasse eine Spur, die innert Minuten verschwunden sein wird. Ich fasse in das frische Weiss und lege mir etwas davon auf die Zunge. Augenblicklich werde ich in meine Kindheit zurückversetzt.

Die Altstadt wirkt in ihrem weissen Kleid noch malerischer als sonst. Vereinzelte Spaziergänger:innen sind unterwegs. Sie werfen Schneebälle oder bauen Schneemänner mitten auf dem Weg. Begegnet man sich, strahlt man sich an, wir alle wissen, wie besonders diese Nacht ist.

Als ich nach Hause komme, ist es weit nach Mitternacht. Ich will jetzt aber nicht schlafen. Ich will Musik und Liebe machen. Ich will schreiben.

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