Werbung
«Wir sind als Eltern ein besseres Team, wenn wir kein Paar sind»

Familie

«Wir sind als Eltern ein besseres Team, wenn wir kein Paar sind»

In unserer Rubrik «The Mamas and the Papas» kommen Eltern aus der Schweiz zu Wort: Ein ehrlicher Fragebogen über Liebe, Erschöpfung, politische Missstände und Parenting-Hacks. Diesmal mit Julia, Mutter eines Kindes.

Name: Julia

Alter: 38

Beruf: Auf dem Weg in die Selbstständigkeit als freie Autorin, Speakerin und Business Consultant zu den Themen (Mom-)Burn-out und Vereinbarkeit

Kinder: Eine vierjährige Tochter

Familienstruktur: Wir sind seit zwei Jahren getrennt und betreuen unsere Tochter seitdem 50:50 im Wechselmodell mit Kita und tatkräftiger Unterstützung der Grosseltern. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Heidi und Beat!

Ein Gerücht über Eltern, das nicht stimmt: Dass Kinder Privatsache sind. Wir erziehen die Arbeitskräfte, Steuerzahlenden, Renteneinzahler:innen, Pflegenden, Eltern von morgen und halten damit unsere Gesellschaft am Laufen.

Am alleranstrengendsten im Alltag mit Kind finde ich: Ruhig und verständnisvoll zu bleiben, wenn mal wieder ein Wutanfall ansteht. Ich sage mir dann mantraartig in meinem Kopf: «Sie kann nichts dafür, es ist ihr Hirn, das noch nicht fertig entwickelt ist. Nur ihr Hirn, ihr Hirn, ihr Hirn!» (Buchempfehlung dazu: «Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn» von Danielle Graf und Katja Seide)

Werbung

«Ich habe alles unterschätzt. Die Schwangerschaft, die Geburt, das Wochenbett, das ganze Mamasein»

Ein Teil von mir, den ich vermisse: Die Barkeeperin. Um mein Studium zu finanzieren, stand ich jahrelang jedes Wochenende im Club Hive tanzend und Drinks mixend hinter der Bar – oft von Mitternacht bis mittags. Nicht selten sind wir danach noch weitergezogen. Die Zeit war anstrengend, aber auch sehr lustig und irgendwie sorgenfreier. Aber eins verstehe ich heute nicht mehr: Wie konnte ich jemals freiwillig so wenig schlafen – und wie habe ich das überlebt?!

Das Witzigste an meinem Kind: Wenn sie mir die Welt erklärt, muss ich regelmässig laut lachen. Ihre fantasievollen Ausführungen gefallen mir oft besser als die Realität.

Eine Sache, die mir in der Erziehung ganz besonders wichtig ist: Stereotype, die sie irgendwo aufgeschnappt hat, zu entkräften, zum Beispiel «Alle Jungs sind zu wild und deshalb doof» oder «Alle Frauen sollen lange Haare haben, sonst sehen sie aus wie Männer».

Das gönne ich mir, seit ich Mutter bin: Leider nicht sofort nach dem Mamawerden, aber seit meinem Burn-out: Aus der Unsichtbarkeit zu treten und laut zu sein! Ich möchte für das Thema Reichweite aufbauen, weil viele Mamas einfach zu erschöpft sind, um sich dafür auch noch einzusetzen.

So erschöpft bin ich gerade von 0 bis 10: 2

Das letzte Mal ausgeschlafen habe ich: Letztes Wochenende. Das Wechselmodell hat unter anderem bezüglich Erholung grosse Vorteile.

Mein Ventil: Das Schreiben. Und circa drei Mal im Jahr feiern bis in die Morgenstunden. Öfter halte ich den Kater und den Schlafmangel nicht mehr aus.

Unterschätzt habe ich: Einfach alles. Die Schwangerschaft, die Geburt, das Wochenbett, das ganze Mamasein.

Ein schnelles Gericht, das alle lieben: Brotzeit. Ich bin ursprünglich aus Bayern. Bei uns war es normal, abends einfach einen Laib Brot und alles, was so im Kühlschrank zu finden war, auf den Tisch zu stellen. So können sich alle bedienen und nehmen, worauf sie Lust haben.

Werbung

«Verteilt die Care-Arbeit fair!»

Das nervt mich an anderen Eltern am meisten: Es macht mich wütend, wenn Eltern über andere Eltern herziehen. Als hätten wir es nicht alle schon schwer genug …

Eine Sache, die sich familienpolitisch in der Schweiz ganz dringend ändern muss: Nur eine? Es braucht dringend eine Mindset-Veränderung. Das klassische Familienmodell läuft aus, ob man(n) das in der Politik hören will oder nicht. Dass wir so langsam darin sind, die Rahmenbedingungen anzupassen, schadet uns allen. Ich sage nur: sinkende Geburtenraten, Fachkräftemangel, kollabierendes Rentensystem, explodierende Gesundheitskosten, Care-Krise, weibliche Altersarmut … Ich könnte ein ganzes Buch zu dem Thema füllen. Vielleicht mache ich das irgendwann.

Das beste Buch für Eltern: «Alle Zeit» von Teresa Bücker. Ist kein Elternratgeber, sondern ein systemkritisches, sehr eingängig geschriebenes Sachbuch. Es hat meine Sicht auf unser Leben komplett verändert. Also auch empfehlenswert für alle ohne Kinder.

Eine Sache, die ich über mich selbst gelernt habe, seit ich Mutter bin: Dass meine Power endlich ist. Ich habe früher teils drei Jobs nebeneinander gewuppt und dachte immer, mich haue nix um. Wow, habe ich mich geirrt! Care-Arbeit plus Lohnarbeit, der unendliche Mental Load, das ständige Verhandeln im Job und in der Beziehung, keine Zeit für mich … Das alles war emotional und körperlich unglaublich anstrengend. Irgendwann war mein Akku leer und ich am Ende.

Der beste Tipp an alle frischgebackenen Eltern: Nehmt euch so viel Zeit für euch, wie ihr könnt, um in diesem neuen Leben anzukommen. Verteilt die Care-Arbeit fair! Und vertröstet neugierige Baby-Besucher:innen, die nur Arbeit machen, statt euch welche abzunehmen, auf dann, wenn IHR ready seid. Das darf auch erst sein, wenn die Kids ausgezogen sind.

Eine Sache, die sich in der Arbeitswelt aus Elternsicht dringend ändern muss: Ich denke, damit sich die Arbeitswelt bewegt, müssen wir Eltern den Anfang machen. Das würde zum Beispiel heissen, dass Väter ihren Anteil an der Familienarbeit wirklich übernehmen wollen, deshalb Teilzeit rigoros einfordern und Unternehmen verlassen, die nicht einlenken.

«Komplett ans Limit komme ich hoffentlich nie mehr. Einmal Burn-out reicht.»

In dieser Situation spüre ich die Liebe zu meinem Kind immer ganz intensiv: Wenn sie morgens zu mir ins Bett schlüpft, wir gemeinsam Milch und Kaffee trinken, kuscheln und noch verpennt eine Tonie zusammen hören, bevor wir uns fertig machen.

Etwas, das ich als Mutter rückblickend anders machen würde: Ich würde schon vor dem Babymachen alles ganz konkret mit meinem Partner durchsprechen, unsere Abmachungen aufschreiben und unterschreiben (lassen). Das klingt unromantisch, ist aber besser, als in das Ganze reinzuschlittern und zu hoffen, dass es schon irgendwie gut kommt.

Etwas, das ich meinen Eltern gerne sagen würden, seit ich selbst Mutter bin: Meiner Mutter: Wie hast du das alles ALLEINE geschafft? Danke! Meinem Vater: Danke, dass du geholfen hast, mich zu zeugen und dann gegangen bist. Auch wenn es hart war, ohne dich waren wir besser dran.

Etwas, worüber wir Mütter ehrlicher reden sollten: Über ALLES. Erwartungen, Mental Load, Geld, Gefühle, Wünsche, Ängste, Sex …

Das mussten wir, seit wir Eltern sind, als Paar erst lernen: Dass wir als Eltern ein besseres Team sind, wenn wir kein Paar sind.

Mein schlauster Parentinghack: Wenn ihr allein nicht weiterkommt, sucht euch ein:e Mediator:in oder Paartherapeut:in. Und wenn das auch nicht hilft, also eine oder beide Parteien über längere Zeit unglücklich ist/sind: Trennt euch. Ihr tut euch selbst, vor allem aber euren Kindern keinen Gefallen, wenn ihr sie in einem Pulverfass gross werden lasst.

Das bringt mich als Mutter sofort zum Weinen: Alles, was mit leidenden Kindern zu tun hat. Das heisst auch, dass ich heute kaum noch Nachrichten lesen/schauen kann, ohne irgendwann Pipi in den Augen zu haben.

Wovor ich mein Kind sehr gern bewahren würde: Vor dem Patriarchat

Das beste Reiseziel für Familien: Da ich offenbar eine kleine Meerjungfrau geboren habe, ist es für uns überall dort entspannt, wo es warmes Wasser zum Schwimmen und Tauchen gibt.

Am besten geht es mir, wenn … ich genug geschlafen habe.

Alles wäre so viel einfacher, wenn … wir das Patriarchat und den Kapitalismus abschaffen und ein menschlicheres System etablieren würden.

Komplett ans Limit komme ich … hoffentlich nie mehr. Einmal Burn-out reicht.

«Mütter verstehen langsam, dass sie wütend sein dürfen»

Ferien mit Kind … kann ich sehr geniessen, wenn ich auch mal ohne sie verreisen kann.

Mein Lifesaver Nummer eins, immer wieder: Innehalten und Stress rausnehmen. Dann kommen wir halt zu spät. Oder gar nicht.

Wenn Geld keine Rolle spielen würde, würde ich … genau das machen, was ich jetzt mache, nur mit weniger Sorgen.

Mütter … verstehen langsam, dass sie wütend sein dürfen. Das ist gut. Sehr gut.

Väter … haben so viel mehr verdient, als nur Ernährer zu sein. Es wäre schön, wenn mehr von ihnen das erkennen und geschlossen anfangen würden, dieses Mehr in Wirtschaft und Politik einzufordern.

Mental Load … ist ungesund.

Vereinbarkeit … ist bis heute ein leeres Versprechen.

Hier findet ihr alle Folgen «The Mamas and the Papas»

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments