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Liebe und Krieg: Wenn palästinensische Zwillinge Filme machen

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Liebe und Krieg: Wenn palästinensische Zwillinge Filme machen

Die palästinensischen Regisseure Arab und Tarzan Nasser sind in Gaza aufgewachsen und machen Filme über die Liebe.

Schon einer allein würde auffallen, doch im Doppelpack sind die Zwillingsbrüder Arab und Tarzan Nasser ein Ereignis: grosse Männer mit schwarzen Bärten, langen Haaren, kajalumrandeten Augen und verwegener Garderobe. «Gaza Mon Amour», der Film der palästinensischen Regisseure, feiert einen internationalen Triumphzug durch die Festivals. Die Geschichte um einen verliebten Fischer, der rührend schüchtern um die Gunst einer verwitweten Schneiderin wirbt, wurde in Toronto, Venedig, Thessaloniki und Hamburg gezeigt.

In Hamburg fand auch unser erstes Gespräch mit den Regisseuren statt, im September 2020 – noch vor der dritten Welle der Pandemie und vor allem vor der militärischen Eskalation zwischen Israel und Gaza. Die Grundstimmung war heiter, es wurde viel gelacht, gestikuliert und mit den Händen gefuchtelt. Die Brüder steckten sich eine Zigarette nach der anderen an und suchten auf Englisch, Französisch und Arabisch nach den richtigen Begriffen. Meist fielen sie sich gegenseitig ins Wort, der eine führte den Gedanken des anderen weiter.

Durch die Pandemie verschob sich der Filmstart von «Gaza Mon Amour» um Monate. Im Mai dann plötzlich der Krieg zwischen Israel und Gaza, die blutigste Auseinandersetzung seit Jahren. Elf Tage Raketen, Zerstörung, Tote. Um diese Ereignisse im Interview einfliessen zu lassen, verabredeten wir uns per Videochat noch einmal mit den Nassers. Diesmal ist nur Arab zu sprechen. Der 33-Jährige wirkt deprimiert und mitgenommen, vor ihm steht sein Morgenkaffee, er raucht. Im folgenden Interview haben wir die Antworten aus beiden Gesprächen zusammengeführt.

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annabelle: Wie kommt es, dass Sie Tarzan und Arab heissen? Das sind sehr ungewöhnliche Namen.
Arab Nasser: Diese Spitznamen hat uns unser Vater verpasst. Wir wurden immer so gerufen und hatten keinen Schimmer davon, dass wir eigentlich ganz anders heissen …
Tarzan Nasser: … nämlich Ahmad und Mohammad. Das erfuhren wir erst, als wir in die Schule kamen und der Lehrer uns so ansprach. Wir waren empört, uns waren diese Namen fremd.

Sie sehen aus, als wären Sie gerade einem Kostümfundus entsprungen. Das Kajal, der Bart, der Look – und dann auch noch alles doppelt.
Tarzan: Unser Vater hatte sich grosse Sorgen um uns gemacht. «Wenn ihr so auffallt, wird jeder versuchen, euch Probleme anzuhängen!», sagte er immer. Schon in der Schule haben wir uns geweigert, die Schuluniform zu tragen.
Arab: Er flehte uns an: «Versucht doch wenigstens mal, wie die anderen zu sein!» Wir antworteten: «Warum? Wir möchten lieber wir selbst sein.»

Wie viele Ihrer Landsleute leben Sie im Exil, in Frankreich. Mit «Gaza, Mon Amour» haben Sie nun ein liebevolles Porträt Ihrer Heimat inszeniert. Es ist ein ungewöhnlich sanfter Film geworden. Warum?
Arab: Wir wollten immer schon einen Liebesfilm über die Menschen in Gaza drehen. Die Nachrichten berichten nur über Krieg und Gewalt, aber die Leute wissen nicht, wie die Menschen in Gaza leben.
Tarzan: Die Welt muss erfahren, welchen Widerstand die Menschen jeden Tag leisten, um überhaupt so etwas wie ein Alltagsleben führen zu können. Es stimmt leider, dass man Gaza vor allem aus den Nachrichten kennt.

Wie haben Sie die Kriegstage im Mai erlebt?
Arab: Es gab bereits 2012, 2014 und 2019 Angriffe auf Gaza – das ist also nichts Neues für uns. Doch die Lage unseres Landes wird immer verzweifelter. Wir sassen vor dem Fernseher und schauten zu, wie unsere Heimat vor unseren Augen zerstört wurde.

Warum ist Gaza so ein Pulverfass?
Arab: Das Leben hier war schon immer schwierig. Aber die Hamas hat es noch schwieriger gemacht. Die meisten Bewohner:innen des Gazastreifens lehnen die Hamas ab, ihre Politik, Willkür und Gewalt. Besonders schlimm finde ich, dass die Hamas aus Palästinenser: innen besteht. Wir können sie nicht mal als Besatzerin bezeichnen, obwohl sie unser Land geisselt.

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«Allein in meiner Klasse kamen drei Mitschüler ums Leben»

Arab Nasser

Hatten Sie während der Bombenangriffe Kontakt zu Ihrer Familie?
Arab: Meine Familie ist nur eine von vielen, die unter dieser barbarischen Attacke gelitten haben. Wir sind alle total traumatisiert. Als Tarzan und ich ins Exil gegangen sind, fühlten wir uns innerlich dem Frieden etwas näher. Aber nun steht alles wieder im Zeichen von Gewalt und Aggression, Blut und Zerstörung.

Wie gut ist die medizinische Versorgung in den Spitälern von Gaza?
Arab: Welches Spital kann mit drei Stunden Strom pro Tag Kranke versorgen? Wie soll es funktionieren, wenn Medikamente an der Grenze zurückgehalten werden?

Gibt es für junge Menschen in Gaza überhaupt noch eine Perspektive?
Arab: Ich befürchte, dass der Jugend jetzt nicht nur die Ausbildungschancen genommen worden sind, sondern auch der Lebenswille. Ihr Hab und Gut ist zerstört, aber auch ihre Hoffnung. Bisher war es immer so, dass am Morgen nach einem Angriff die Strassen gesäubert wurden, als könne man wieder von vorn beginnen. Mein Vater wollte das Haus aufstocken und für meine zwei Brüder zwei kleine Wohnungen bauen. Jetzt ist er froh, es nicht gemacht zu haben, weil das Haus zerstört werden könnte. Bisher hatte Gaza nicht im Bewusstsein gelebt, dass jederzeit ein weiterer Krieg losgehen könnte. Das ist nun anders.

Wie gut ist das Bildungssystem in Gaza?
Arab: Auch die Schulen wurden bombardiert. Geht ein Schüler noch gern zur Schule, wenn neben ihm der Stuhl eines Freundes leer bleibt? Ich kenne dieses Gefühl, allein in meiner Klasse kamen drei Mitschüler ums Leben. Einen ganzen Monat lang konnte ich nicht zur Schule gehen, weil mich ihre Gesichter verfolgten. Die neue Generation, die mit der Intifada aufgewachsen ist, flüchtet oft ins Ausland. Gaza kann ihr nichts bieten, ausser Krieg.

Trotzdem soll es in Gaza eine boomende Start-up-Szene geben.
Arab: Schon möglich. Die Einwohner: innen von Gaza sind Menschen, die sich nie geschlagen geben. Aber haben Sie gesehen, wie die beiden Hochhäuser zerstört worden sind, wie viele Zivilisten dabei umkamen, wie viele Familien jetzt auf der Strasse leben, weil ihre Wohnungen zerbombt wurden? (Weint) Meine 19-jährige Schwester hat gerade geheiratet, sie hat zwei kleine Kinder. Um drei Uhr morgens wurde ihr Quartier evakuiert, sie schlief mit ihrer Familie auf der Strasse und sah mit an, wie ihre Wohnung zu Staub zerfiel. Al-Saftaoui, die Gegend, in der mein Bruder und ich aufgewachsen sind, ist nur noch Schutt und Asche. (Schluchzt nun laut)

«Israel tut so, als ob alle Menschen, die in Gaza wohnen, auch die Hamas unterstützen – was überhaupt nicht stimmt.»

Tarzan Nasser

Sie finden keine Worte mehr, doch Ihr Film spricht für sich.
Arab: Vielleicht, aber können wir mit unserem Film den Schmerz lindern? Mein Bruder erzählte gestern, dass die Tiere im Zoo von Gaza nicht genug Pfleger haben. Da reisten internationale Tierschutz-Organisationen an und gaben viele Tiere in einen Zoo in Jordanien. Aber um die Menschen kümmert sich keiner.

Nach der Wahl in Israel ist die Ära Netanjahu vorüber, eine neue Koalition hat seine Regierung abgelöst. Gibt Ihnen diese Aussicht eine neue Perspektive?
Arab: Ein neuer Premierminister wird auch nicht viel ausrichten. Er wird den Krieg weiterführen, vielleicht mit einer neuen Flagge in der Hand. Viele unserer Kinder, unserer Hoffnungsträger, wurden getötet. Sie haben von einem besseren Leben geträumt. Mehr als einen blauen Himmel, zu dem sie ohne Gefahr auf blicken können, wollten sie gar nicht. Mein kleiner Bruder ist während der Intifada aufgewachsen, er erlebte die Besetzung und nun schon den vierten Krieg. Jetzt hat er alle Pläne, alle Träume aufgegeben. Er spricht nicht mehr über seine Zukunft.

Sie beide, Arab und Tarzan, waren 18 Jahre alt, als die Hamas ab dem Jahr 2006 an Einfluss gewann. Was hat sich seither im Alltag der Menschen verändert?
Arab: Vor der Machtübernahme der Hamas kämpften wir gegen die Besetzung der Siedler. Wir hatten ein Ziel, wir wollten unser Land befreien. Danach kämpften wir ums Brot.
Tarzan: Israel tut so, als ob alle Menschen, die in Gaza wohnen, auch die Hamas unterstützen – was überhaupt nicht stimmt. Die Grenzen von Gaza wurden dicht gemacht, wir sind gefangen. Das ist, als seien Opfer und Täter in einen Käfig gesteckt worden.

In Gaza gibt es keine Kinos. Wer hat Ihnen Ihr cineastisches Wissen beigebracht?
Tarzan: Wir hatten einen tollen Lehrer, Khalil Al-Muzayyen, den palästinensischen Regisseur.
Arab: Khalil nahm unsere Leidenschaft ernst. Er zeigte uns Filme von Pasolini, Bergman, Kieslowski … Arthouse! Da war Schluss mit den Spaghetti- Western.
Tarzan: Damals waren wir etwa 16, 17 Jahre alt. Bis dahin hatten wir meist Filme über ägyptische Cowboys gesehen. Aber Khalil eröffnete uns das gesamte cineastische Universum.

In Ihrem Zimmer auf dem Dach entstand «Gazawood», Ihr erstes Filmstudio.
Arab: Ja, es war fünf Quadratmeter gross. Dort fingen wir an, Filmplakate zu entwerfen. Oder wir klebten einfach Fotos unserer Gesichter auf Filmposter. Damals wurden wir zu Träumern.
Tarzan: Später studierten wir Bildende Kunst – ein Filmstudium gab es ja nicht. Wir wurden so gut, dass wir sogar einen offiziellen Preis für unsere Poster bekamen.

«Wir zeigen einfache Leute, die in Gaza unter den aktuellen Umständen leben»

Arab Nasser

Ihr erster Kurzfilm «Condom Lead», über ein Paar, das im Krieg etwas Ruhe für seine Intimität sucht, wurde 2013 in Cannes gezeigt. Wie schafften Sie es direkt zum wichtigsten Filmfest der Welt?
Arab: Unser Produzent sagte, Cannes sei eine Nummer zu gross für uns. Doch wir meinten grossspurig, wir reichen den Film trotzdem ein – und dann hiess es plötzlich: Ihr seid angenommen.
Tarzan: Cannes hat uns Glück gebracht. Auch unser erster Spielfilm «Dégradé» lief dort, 2015.
Arab: Davor haben wir viel Werbung gedreht und einige Dokus, zum Lernen und Üben. Und zum Geld-Verdienen.
Tarzan: In Gaza machst du zwangsläufig alles allein, da gibt es keinen Produktionsdesigner oder Location Scout, den du anrufen kannst. So haben wir viel gelernt.

Wo kann ein verliebtes Paar in Gaza hin, um ungestört zu sein?
Tarzan: Nirgends. Es gibt kein Kino, wohin sich die beiden verdrücken können, um sich zu berühren und zu küssen. Es gibt kein Café, wo sie etwas trinken können. Wir mussten uns ganz schön was einfallen lassen, um unserer Liebesgeschichte im Film einen Schauplatz zu bieten.

Wie arbeiten Sie als Zwillinge zusammen?
Tarzan: Streitend.
Arab: Wir leben auch so zusammen: streitend und feiernd.
Tarzan: Wenn wir in einem Hotel zwei Zimmer bekommen, wohnen wir in einem.
Arab: Wir sind eine Person mit zwei Persönlichkeiten.
Tarzan: Wenn ich «ich» sage, meine ich «wir».

Können Filme unsere Welt, können sie Ihre Welt verändern?
Arab: «Gaza Mon Amour» soll nichts verändern. Wir zeigen bloss einfache Leute, die in Gaza unter den aktuellen Umständen leben. Wenn du mit ihnen mitfühlen willst, tue es, wenn nicht, dann nicht. Du hast es in der Hand. Du hast völlige Freiheit.

11 Tage Krieg

Der jüngste Gaza-Konflikt begann am 10. Mai und endete mit einer Waffenruhe am 21. Mai 2021. Die radikalislamische Hamas feuerte aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel ab. Israel antwortete mit unerbittlichen Luftangriffen. Mindestens 248 Palästinenser und 12 Israeli wurden getötet, es gab Tausende Verletzte, Zehntausende flüchteten. Der UN-Sicherheitsrat hat sich für schnelle humanitäre Hilfe für die palästinensische Bevölkerung stark gemacht. Die USA will die Autonomiebehörde mit einem grossen Hilfspaket unterstützen.

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