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«Mein Leben ist natürlich nicht mehr normal»

Literatur & Musik

«Mein Leben ist natürlich nicht mehr normal»

  • Text: Decca Aitkenhead / The Sunday Times / The Interview People; Foto: Kenneth Cappello/Universal Music

Sollten Sie sich fragen, was Ihrer Tochter momentan so durch den Kopf geht, aber auf entsprechende Nachfragen nicht mehr zu hören bekommen als «hmmpf», dann lernen Sie doch Billie Eilish kennen. Das könnte helfen. Eine Begegnung mit dem derzeit angesagtesten Teenie-Idol.

Wenn Teenager davon träumen, Popstars zu werden, malen sie sich wahrscheinlich das folgende Szenario aus: Der Fahrer eines mattschwarzen Dodge Challenger chauffiert sie zur Fotosession in einer angesagten, aber noch unverbrauchten Gegend von Los Angeles. Ein Kamerateam wartet am Eingang des Fotostudios, um den Moment der Ankunft für einen Dokumentarfilm festzuhalten. Drinnen ist ein Dutzend kreativer Menschen in schwarzer Kleidung und Baseballcaps damit beschäftigt, vegane Snacks zwischen Vintage-Vinyl und französischen Modemagazinen zu drapieren. Tische voller Schmuck und Ständer voller Designerkleidung füllen einen ganzen Raum. Alle sehen auf ironische Weise aus wie Statisten aus dem Film «Wayne’s World», abgesehen von einem Mann mit silbernen Haaren, der Anzug trägt und die Klunker bewacht. Er sieht auf unironische Weise aus wie ein Statist aus den «Sopranos».

Was ich mit diesen Menschen gemeinsam habe: Wir alle warten auf Billie Eilish, jene Sängerin, die von «Wall Street Journal», «New Yorker», «Rolling Stone» und «Washington Post» gleichermassen als Zukunft des Pop bezeichnet wird. Eilish ist momentan die am drittmeisten gestreamte Künstlerin auf dem digitalen Musikdienst Spotify. Ihr Debütalbum schoss direkt an die Spitze der US-amerikanischen Charts, 12 der 14 Songs schafften es ausserdem in die Singlecharts – Rekord für eine Musikerin. Der grösste Hit des Albums heisst «Bad Guy», in mehr als einem Dutzend Ländern stand er auf Platz eins. Seit anderthalb Jahren hält sich ausserdem Eilishs erste EP aus dem Jahr 2017 in den Charts. Auf Instagram hat sie über 25 Millionen Follower. Dave Grohl, der heutige Frontmann der Foo Fighters und frühere Schlagzeuger von Nirvana, fühlt sich von Eilishs Erfolgen an seinen eigenen Durchbruch Anfang der 1990er-Jahre erinnert. Die erste Welttournee der Künstlerin war ausverkauft, die zweite wird es auch bald sein. Am 22. August tritt Billie Eilish am Zürich Openair auf.

Die Sängerin weiss, dass sie den Traum unzähliger Teenager lebt. Denn sie selbst ist gerade mal 17 Jahre alt. Alles an Eilish scheint zu gut, um wahr zu sein – inklusive ihres vollen Namens Billie Eilish Pirate Baird O’Connell. Mit elf Jahren begann die Sängerin, die von ihren Eltern (beide Schauspieler auf permanenter Jobsuche) zuhause unterrichtet wurde, eigene Songs zu schreiben. Mit 13 veröffentlichte sie das Stück «Ocean Eyes» über das Musikportal Soundcloud: eine verwunschene Ballade, geschrieben von ihrem älteren Bruder Finneas. Wenige Wochen später hatte Eilish bereits einen professionellen Manager, mit 14 unterschrieb sie ihren ersten Plattenvertrag. Über ihr Debütalbum «When We All Fall Asleep, Where Do We Go?» schrieb die «New York Times», es habe neue Regeln für Teenpop-Stars aufgestellt.

Billie Eilish ist die singende Millennial-Version von Lena Dunham. Ihre Songs handeln von Tranquilizern, unerfüllter Liebe und jugendlicher Eifersucht, mit heiserer, manchmal auch lallender Stimme singt sie über diese Themen. Mühelos setzt sich Eilish über Genregrenzen hinweg: Mal erklingt ein Lied als flüchtige Akustiknummer, mal als explosiver Elektro-Track. Eilish schreibt ihre Songs gemeinsam mit Finneas, der inzwischen 21-Jährige nimmt sie noch immer in seinem Kinderzimmer auf. Letzteres gehört zu einem bescheidenen Zweizimmer-Apartment in Los Angeles, das Eilish bis heute mit ihrer Familie bewohnt. Dort entwirft sie ihre eigenen Fanartikel, kümmert sich um ihr eigenes Styling, plant ihre eigenen Musikvideos. Und doch ist sie streng genommen noch immer ein Kind. Bei einer Awardshow wurde Eilish kürzlich mit Lolli im Mund erwischt.

Da ich noch nie ein Kind interviewt habe, weiss ich nicht, was mich erwartet, als der Dodge Challenger vorfährt. Ende 2018 postete «Vanity Fair» zwei Videointerviews mit Eilish, die im Abstand von zwölf Monaten aufgezeichnet worden waren. Das ältere Video zeigt die Künstlerin keck und bei bester Laune, im neueren tönt sie skeptisch und vermeidet Augenkontakt. Man könnte die Diskrepanz zwischen den Clips als Parabel auf die Gefahren des frühen Ruhms deuten – ein Eindruck, der sich zu bestätigen scheint, als Eilish dem Auto entsteigt. Sie sieht schmal aus und verbirgt ihren gesamten Kopf unter einer Kapuze mit unheimlichem Totenkopfaufdruck. Das Herz rutscht mir in die Hose. Ist Eilish etwa schon vor ihrem 18. Geburtstag im Spätstadium der Celebrity-Paranoia angekommen?

Wie sich zeigen wird, ist meine Sorge unbegründet. Eilishs Look erklärt sich durch jugendliche Verunsicherung infolge eines Coiffeurbesuchs – ein desaströser Färbungsversuch hat ihr blaue Haare beschert. Schnell fällt die Kapuze, und man erlebt die Sängerin als typischen Teenager, vertieft in ein ernstes Gespräch mit ihrer Mutter. Schliesslich kommt ein Stylist hinzu und sorgt mit Haar-Extensions für Erlösung. Eilish sieht erleichtert aus, die Stimmung steigt merklich. Während sich ihre Mutter um das Mittagessen kümmert, fällt mir zum ersten Mal die geborgene Familienatmosphäre auf, die den Celebrity-Zirkus rund um die Künstlerin zu erden scheint.

Eilish stellt sich als die coolste Person heraus, die ich jemals getroffen habe. Mit Abstand. Die Mischung aus Nonchalance und Professionalität, die sie vor der Kamera an den Tag legt, ist schlicht atemberaubend.

Sofort wird deutlich, dass sie jenes gewisse Etwas besitzt, das jeden zukünftigen Superstar auszeichnet. Im Gespräch demonstriert sie nicht nur ihr Bewusstsein für soziale Missstände, sondern auch für ihren eigenen Status, der weniger erarbeitet als vorbestimmt erscheint. Sogar ihr Selbstbewusstsein wirkt derart in Stein gemeisselt, dass man es niemals mit Arroganz verwechseln könnte. Zumal Eilish auch eine charmante kindliche und naive Seite zu haben scheint. Wie jedes andere Kind lümmelt sie in ihrer Mittagspause auf einem Sofa herum, rülpst laut und lässt versehentlich einen Klunker in ihren Tofu fallen.

«Eigentlich labere ich immerzu dummes Zeug, ohne gross darüber nachzudenken», sagt Eilish hochvergnügt. «Ja, Sie sind eine Journalistin – und trotzdem komme ich hier rein und erzähle irgendwelchen Quatsch, den nun wirklich nicht die ganze Welt hören muss. Ich verlasse mich da einfach auf Sie», fügt Eilish noch hinzu und imitiert mich dabei, wie ich später am Laptop sitzen werde, um ihre Antworten abzutippen. Natürlich weiss sie selbst, dass gerade das mein Job ist: die Welt über irgendwelchen Quatsch zu informieren, den Billy Eilish von sich gegeben hat.

Eilish ist noch immer begeistert von all den Geschenken, mit denen sie plötzlich überhäuft wird. «Es ist wirklich verrückt», sagt sie mit grossen Augen. «Schmuck, Klamotten, Schuhe, Nagellack – alles, wovon mein elfjähriges Ich noch nicht mal zu träumen wagte, kann ich heute einfach haben. Früher konnte ich mir nicht mal ein Paar Nikes leisten. Jetzt habe ich Hunderte zuhause. Einfach krass.» Zugleich weiss sie natürlich: Die Zeiten, in denen sie spontan in einem Supermarkt einkaufen konnte, ohne von Fans belagert zu werden, sind vorbei. Ohne Bodyguards kann Eilish das Haus nicht verlassen – und an Clubbesuche ist ohnehin nicht mehr zu denken. «Ich tue immer noch so, als könnte ich ganz normal ausgehen», sagt sie. «Mit meinen Freunden rede ich darüber, diesen oder jenen Club zu besuchen. Aber in Wahrheit geht das nicht mehr.»

Welchen Einfluss haben diese Begebenheiten auf Eilishs Gemütszustand? Bei dieser Frage muss die Künstlerin lachen. «Viele Popstars behaupten, dass sie der Erfolg nicht verändert habe, aber daran glaube ich wirklich nicht. Wie soll das gehen? Ich habe mich auf jeden Fall verändert, bin eine andere Person als vor meinem Durchbruch. Kennen Sie diese Gruselgeschichten über kleine Kinder, die bereits ein ganzes früheres Leben gelebt haben? Ich bin eines dieser Kinder. Ich kann mich noch ganz genau an die Person erinnern, die ich früher einmal war, aber wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich diese Person nicht mehr. Ich bin mit 16 gestorben – und als Billie Eilish wiedergeboren worden.»

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«ES IST WIRKLICH SIMPEL: MEINE MUSIK FUNKTIONIERT, WEIL ICH MACHE, WAS ICH WILL»

Eilishs kometenhafter Aufstieg erscheint umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie trotzig sich ihre Musik vom Geschmack des Mainstreams abgrenzt. Noch immer arbeitet die Musikindustrie unter der Prämisse, dass Kinder glitzernden Bubblegum-Pop hören und oberflächlichen Sexappeal sehen wollen. Eilish aber geht beinah als Arthouse-Künstlerin durch, ihre Musik tönt oft düster und immer einzigartig. Woher kommen diese genauen Vorstellungen? «Ich habe nie versucht, ein Image für mich zu erschaffen oder die Regeln zu brechen», sagt sie. «Ich habe aber auch nicht versucht, den Kids auf Teufel komm raus zu gefallen. Es ist wirklich simpel: Meine Musik funktioniert, weil ich mache, was ich will.»

Dabei ist Eilish weit mehr als ein Teenie-Phänomen. In den Tagen nach unserem Treffen habe ich mit einem jamaikanischen Immobilienmakler, einer schwedischen Speditionskauffrau und einem Wallstreet-Banker über sie gesprochen. Alle erzählten mir, wie sehr sie der Sängerin verfallen seien. Wer bei gestandenen erwachsenen Menschen ebenso populär ist wie bei seiner Kernzielgruppe, muss etwas richtig gemacht haben. Wer das sogar schafft, ohne sich an vermeintliche Erwartungshaltungen anzupassen, übertrifft alles, was sich ein Marketingprofi in seinen wildesten Träumen ausmalen könnte.

«Ich frage mich ständig, ob ich selbst auf Billie Eilish stünde, wenn ich jemand anders wäre», sagt die Künstlerin mit einem Grinsen. «Wahrscheinlich würde ich denken: Oh, mein Gott, wie cool ist die denn? Schau dir ihr Outfit an, Alter! Aber ich wäre wohl auch genervt von Billie Eilish, denn eigentlich gehöre ich selbst zu einem Menschenschlag, der mir schon immer auf den Geist gegangen ist. Sobald ich jemanden treffe, der mir in irgendeiner Weise ähnlich ist, sage ich mir: Oh, Mann, halt die Klappe! Ich wollte schon immer einzigartig sein.»

Die Künstlerin selbst führt ihre originelle Musik auf einen unkonventionellen Bildungsweg zurück. Eilish wuchs in einfachen Verhältnissen in einer zwielichtigen Gegend von Los Angeles auf. Ihr Vater ergatterte gelegentliche Schauspieljobs in Serien wie «The West Wing» oder Filmen wie «Iron Man»; ihre Mutter arbeitete hauptsächlich als Synchronsprecherin. Daneben unterrichteten die Eltern ihre Kinder zuhause und ermutigten Eilish, einem Chor beizutreten und Tanzunterricht zu nehmen. Das Urvertrauen der Künstlerin in ihr Stilbewusstsein und Bauchgefühl erklärt sich durch diese Umstände. Kein Musikmanager hat jemals gewagt, daran herumzudoktern. «Die Branche war von Anfang an beeindruckt von mir», sagt Eilish mit einem Schulterzucken. «Niemand hat versucht, mich zu bevormunden.»

Die Sängerin schüttelt den Kopf, als ich sie auf eventuelle Selbstzweifel anspreche. «Ich wusste einfach schon immer, was ich will. Als Elf- oder Zwölfjährige habe ich vielleicht noch versucht, mich den anderen Kindern anzupassen, mich in ihre Cliquen zu integrieren oder in den gleichen Läden einzukaufen wie sie. Ich weiss sogar noch, wie ich meine Stimme und mein Lachen verstellt habe, weil sie schon immer tiefer klangen als bei anderen Kindern. Letztlich hat mich all das aber nur unglücklich gemacht – und nervig, wie alle Menschen, die nicht sie selbst sind.»

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Bild: Kenneth Cappello/Universal Music

«Ich bin mit 16 gestorben – und als Billie Eilish wiedergeboren worden»

Konzert in Berlin im Februar 2019

Bild: Kenneth Cappello/Universal Music

«Niemand soll darüber spekulieren können, ob ich einen flachen oder einen dicken Hintern habe. Das geht einfach niemanden etwas an»

Billie Eilish über ihre Vorliebe für weite Kleidung. Von links: Auftritte in Los Angeles, New York (mit ihrem Bruder und Produzenten Finneas O’Connell) und in Paris

Heute weiss Eilish, dass sie damals schlicht eifersüchtig war. Ihr Bruder hatte eine Band gegründet, kleinere Rollen in Fernsehserien wie «Glee» oder «Modern Family» erhalten und an der Seite seiner Mutter in einem Film mitgespielt. Noch heute verfinstert sich ihr Gesicht, wenn sie an diese Zeit zurückdenkt. «Ich wollte die gleichen Erfolge feiern», sagt Eilish. «Als sich mein Bruder plötzlich zum Vorzeigekind der Familie aufschwang, kam ich überhaupt nicht damit klar.» Ein Geständnis, das natürlich die Frage aufwirft, wie es Finneas heute damit geht, dass sich die Verhältnisse umgekehrt haben. «Alles ist gut», sagt Eilish jetzt wieder ganz entspannt. «Der Durchbruch im grossen Stil, der mir gerade gelungen ist, wäre gar nichts für meinen Bruder. Er macht sein eigenes Ding, und er macht das sehr gut. Wissen Sie, bei uns zuhause waren die Rollen schon immer klar verteilt: Ich war der Boss, und Finneas war Everbody’s Darling. Er ist der Witzigere von uns beiden. Aber niemand hat je daran gezweifelt, dass ich der Star bin.»

Daraus hat sich inzwischen eine faszinierende Familiendynamik entwickelt. Noch bis vor wenigen Jahren schlief die gesamte Familie im selben Bett. Heute produziert Finneas die Songs seiner Schwester, der Vater kümmert sich um das Lichtdesign ihrer Bühnenshow, und die Mutter ist ihre Assistentin. Anders gesagt: Alle arbeiten für das Nesthäkchen der Familie – und Eilish lässt keinen Zweifel aufkommen, wer das Sagen hat. «Ich natürlich. Wie gesagt: Das war schon immer so. Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für unausstehlich, aber ich bin einfach seit jeher ein verdammtes Alphatier.» Folglich macht sich Eilish keine Sorgen um ihren nahenden 18. Geburtstag, an dem sie auch aus rechtlicher Sicht die volle Kontrolle über ihre Karriere erlangen wird. «Für den Moment wird sich nichts verändern», sagt sie. «Aber ich möchte nicht für den Rest meines Lebens ein Familienunternehmen leiten. Und ich glaube auch nicht, dass meine Familie das will.» Spricht man mit Eilishs Mutter Maggie, entsteht ein anderer, weniger erwartungsfroher Eindruck. Dem Klischee einer überambitionierten Hollywood-Helikoptermama könnte sie kaum entschiedener widersprechen. Maggie trägt ausgeleierte Jogginghosen und kein Make-up, man sieht ihr nicht nur den veganen Lebenswandel an, sondern auch ihre Kunstbeflissenheit und liberalen Ansichten. Trotzdem wirkt sie erschöpft, wie gefangen in einem niemals endenden Jetlag. Beinahe pausenlos hängt sie am Telefon, um Anfragen aus der Entertainmentbranche entgegenzunehmen. «Mein Leben war noch nie so stressig wie jetzt gerade», gibt Maggie unumwunden zu. «Ständig bekomme ich zu hören, wie stolz und glücklich ich sein müsse. Doch die Wahrheit ist: Ich bin komplett am Ende.»

Eilish nimmt keine Drogen und raucht noch nicht mal Zigaretten. Trotzdem weiss ihre Familie natürlich um das Schicksal vieler Kinderstars, die als Erwachsene mit Suchtproblemen zu kämpfen hatten. Die Gesundheit ihrer Tochter steht für Maggie deshalb über allem: Aktuell sorgt sich die Mutter nicht nur um Eilishs Hautekzeme, sondern auch um ihren bevorstehenden 18. Geburtstag. «Noch ist es Teil meines Jobs, Billies Gedanken zu lesen», sagt sie. «Das ist keine Aufgabe, die irgendjemand anderes übernehmen könnte – und ich möchte meiner Tochter ohnehin keinen Aufpasser zur Seite stellen, der bestimmt, wann sie ins Bett zu gehen hat. Aber man wandelt da auf einem schmalen Grat. Ebenso schlimm wäre es, wenn sich Billie nur noch mit Jasagern umgeben würde.»

Während sich Maggie auch um die kreative Selbstbestimmtheit ihrer Tochter sorgt, ist Eilish in diesem Punkt gelassener. «Ich würde eher ganz mit der Musik aufhören, als einen Teil der Kontrolle darüber abzugeben», sagt die Künstlerin bestimmt. «Ich muss einfach in alle Aspekte meines Schaffens involviert sein. Das wird schon rein zeitlich immer schwieriger. Manchmal könnte ich deshalb durchdrehen.» Würde Eilish also eine weniger grosse Karriere in Erwägung ziehen, wenn sie sich darin völlig frei ausleben könnte? «Nein, ich will genau den Karriereweg gehen, auf dem ich mich gerade befinde – und trotzdem die volle Kontrolle über alles behalten. Ich will es machen wie Kanye West.» Rückschläge und Widersprüche scheinen auf diesem Weg unvermeidlich zu sein. Eilishs Erfolg kam so plötzlich, dass sie sich schon jetzt an jenem Image reibt, das sie selbst für sich kreiert hat. Früher gefiel ihr der Gedanke, eine einschüchternde Wirkung auf Menschen zu haben. Heute sagt sie: «Die Sache wurde schnell zum Klischee. Billie Eilish – das seltsame, furchterregende Mädchen. Das finde ich langweilig. Ich möchte nicht auf diesen einen Aspekt meiner Persönlichkeit festgenagelt werden.»

«WAS ERWARTEN DIE LEUTE DENN VON EINEM TEENAGER? GEHÖRT ES NICHT EINFACH DAZU, MANCHMAL DUMMES ZEUG ZU REDEN?»

Im vergangenen Monat war Eilish in einem Werbefilm von Calvin Klein zu sehen und sprach darüber, warum sie vornehmlich weite Kleidung trägt. «Niemand soll sagen können, ich sei eigentlich ein bisschen fülliger oder viel dünner, als ich vorgebe zu sein. Niemand soll darüber spekulieren können, ob ich einen flachen oder einen dicken Hintern habe. Das geht einfach niemanden etwas an.» Trotzdem ärgert sich Eilish, wenn Menschen sie dafür loben, dass sie sich nicht sexualisieren lasse. «Wer so etwas sagt, spricht auch mit erhobenem Zeigefinger über junge Frauen, die sich freizügiger anziehen als ich. Da frage ich mich schon: Was wollt ihr eigentlich von uns? Ich habe überhaupt kein Problem mit jungen Frauen, die sich wohlfühlen in ihrer Haut und das auch zeigen. Ganz im Gegenteil. Ich unterstütze diese Frauen, denn ich weiss, dass sie immer wieder als Schlampen verschrien werden.» Eilish trägt keine figurbetonte Kleidung, weil sie sich schon immer unwohl mit ihrem Körper gefühlt hat. «Ich mag meine Brüste», sagt sie, «das gebe ich gern zu. Aber sonst? Nee. Ich habe noch nie ein Bikini getragen, und es war mir immer wahnsinnig unangenehm, im Tanzunterricht einen engen Gymnastikanzug anziehen zu müssen. Aber inzwischen bin ich da auch entspannter.» Eilish verweist auf ihre Fingernägel, bei denen es sich streng genommen um acht Zentimeter lange Krallen handelt. «Ich habe einen Online-Kommentar gelesen, in dem jemand meinte, ich würde mich niemals trauen, mit solchen Nägeln herumzulaufen. Also habe ich sie mir sofort besorgt. Mein Stil soll unvorhersehbar sein. Sollte ich also das Bedürfnis verspüren, bauchfrei und in Shorts herumzulaufen oder ein Abendkleid mit Highheels zu kombinieren, werde ich mir das sicher nicht verbieten lassen.»

Eilish kennt die Probleme, die sie mit solchen Aussagen heraufbeschwört. Alles, was sie sagt, wird als grosses, unverrückbares Statement aufgefasst. «Dabei geht es manchmal um Dinge, die ich mit 13 von mir gegeben habe», sagt sie. «Was erwarten die Leute denn von einem Teenager? Gehört es nicht einfach dazu, manchmal dummes Zeug zu reden?»

Ähnlich lief es mit den oben erwähnten Videointerviews für «Vanity Fair». Der Kontrast, der sich aus den Clips ergab, liess viele Menschen glauben, dass Eilish bereits an ihrem frühen Ruhm zerbrochen sei. «Dabei ist alles ganz banal», sagt die Sängerin heute. «Das erste Video wurde kurz nach einer Fotosession gedreht. Meine Haare sahen toll aus, ich hatte gerade etwas gegessen. Das zweite Video aber wurde direkt nach dem Aufstehen gedreht. Nur deshalb sah ich müde aus. Niemand sollte mich für ein unbedarftes glückliches Mädchen halten, das binnen kurzer Zeit von der Musikindustrie ruiniert wurde. Ich mag das Business und wollte immer ein Teil davon sein.»

Ob wirklich immer alles so einfach ist, wie Billie Eilish es darstellt, darf man zumindest anzweifeln. Erfolg ist nie unkompliziert, und auch Eilish muss zugegeben, dass sie seit November nicht mehr dazu gekommen ist, an neuer Musik zu arbeiten. «Mein Leben ist natürlich nicht mehr normal», sagt sie. «Manchmal fällt es mir schon schwer, Gesprächsthemen mit meinen besten Freundinnen zu finden. Langsam verstehe ich deshalb, warum Prominente so oft unter sich bleiben oder einander daten. Normale Menschen glauben zwar, sie könnten sich das Leben vorstellen, das man als berühmter Mensch führt. Aber das ist eine Illusion.»

Noch vor anderthalb Jahren, erzählt Eilish, habe sich ihr Umfeld aus 15 engen Freundinnen und Freunden zusammengesetzt. «Ich war verdammt beliebt», sagt sie, «aber heute? Eine, vielleicht zwei Freundinnen sind mir geblieben.» Fragt man Eilish, was passiert ist, verdunkelt sich ihr Gesicht abermals. Sie tönt plötzlich sehr unglücklich. «Ich kann es mir selbst nicht erklären. Manche Menschen mögen meinen Job einfach nicht. Ich kann ihnen weder von den guten noch von den schlechten Seiten erzählen, weil sie sofort denken würden, ich wolle angeben oder ich sei undankbar. Deshalb habe ich mir auch eine Therapeutin gesucht. Nur mit ihr kann ich wirklich über diese Dinge sprechen.»

Mehrmals in jüngerer Vergangenheit ist es zu Vertrauensbrüchen in Eilishs Umfeld gekommen. «Ein paar Freunde wollten sich mit ihrer Nähe zu mir schmücken», sagt Eilish. «Und dann fingen sie plötzlich an, schlecht über mich zu reden. Da dachte ich schon: Was geht denn hier ab? Wenn ihr euch auf meine Kosten profiliert, dann geniesst es doch wenigstens! Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung mehr, wem ich noch vertrauen kann.» Auch Eilishs Liebesleben ist davon nicht unberührt geblieben. Eine Zeit lang war sie unsicher, ob sich Jungs wirklich für sie interessierten oder nur für die Kunstfigur Billie Eilish. «Darüber zerbreche ich mir aber nicht mehr den Kopf», sagt sie und bestätigt sogleich, was sie anzudeuten scheint. «Ich habe einen festen Freund. Aber ich werde nicht verraten, wer er ist.»

Ebenso unbekannt wie dieser Boyfriend war bis vor Kurzem auch, dass Eilish mit dem Tourette-Syndrom lebt; einer Erkrankung des Nervensystems, die sich bei ihr vor allem durch unkontrolliertes Augenrollen äussert. Eilish hat diese Diagnose schon vor Jahren erhalten und sich behandeln lassen. Dass sie lange Zeit nicht darüber sprach, erklärt sie damit, nicht auf die Krankheit reduziert werden zu wollen. Dann postete jedoch jemand eine Youtube-Montage ihrer rollenden Augen, weshalb Eilish beschloss, die Diagnose öffentlich zu machen. «Jetzt sagen die Leute natürlich, ich sei gar nicht wirklich krank, weil ich das Tourette-Syndrom ja unter Kontrolle hätte. In einem Artikel wurde sogar behauptet, ich wolle mich mit der Krankheit profilieren. Da hätte ich fast geheult. Jahrelang habe ich heimlich mit dieser Belastung gelebt, und kaum sagt man etwas, ist es auch wieder falsch.» Eilish schüttelt den Kopf. Plötzlich sieht auch sie erschöpft aus.

«Letztlich kann ich mir darüber keine grossen Sorgen machen», fährt sie fort. «Vom Internet erwarte ich inzwischen sowieso nur noch das Schlechteste. Wieder und wieder hat es mich enttäuscht. Wann immer ich online bin und spontan etwas Witziges poste, bereue ich es sofort. Alle sind so wahnsinnig sensibel im Internet, man kann sich über nichts mehr lustig machen. Also lasse ich es einfach sein. Ich will mir nicht mal mehr einen kurzen Text zu meinen Instagram-Bildern überlegen, weil sich bestimmt jemand finden würde, der selbst davon verletzt wäre.»

In gewisser Weise ist das der traurigste Satz, den Eilish während unseres Interviews von sich gibt. Als typischer Digital Native hat sie mehr oder weniger ihr ganzes bisheriges Leben online verbracht. Auch ihr Erfolg beruht vor allem auf Streaming-Zahlen, und der Chef einer grossen Plattenfirma sagte unlängst, Eilish habe mit ihrem Debütalbum «die Blaupause für grosse Karrieren im Zeitalter des Streamings» erschaffen. Trotzdem sorgt sich ihre Mutter um die sozialen Netzwerke und ihre Shitstorms: «Ein falscher Post», sagt sie, «und die Menschen hassen dich für den Rest deines Lebens.» Eilish traut sich deshalb kaum noch online – was mich abermals an Lena Dunham erinnert. Die ebenfalls frühreife Schöpferin der Fernsehserie «Girls» galt als Pionierin der künstlerischen Selbstinszenierung in Zeiten von Social Media. Bis auch sie sich, angewidert von der Grausamkeit der Onlinekommentare, weitgehend aus dem Netz verabschiedete. Als ich Eilish auf Dunhams Karriere anspreche, schaut sie mich jedoch verblüfft an.

«Lena wer?», fragt sie zurück. Die 17-Jährige hat offenbar noch nie von ihrer 33-jährigen Wegbereiterin gehört.

Aus dem Amerikanischen von Daniel Gerhardt

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