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«Blonde»: Warum die Kritik am Netflix-Film übertrieben ist

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«Blonde»: Warum die Kritik am Netflix-Film übertrieben ist

Der neue Netflix-Biopic über Marilyn Monroe sei voyeuristisch, respektlos, grausam: «Blonde» wird hart kritisiert. Chefredaktorin Jacqueline Krause-Blouin ist genervt von der Empörung.

Was habe ich sehnsüchtig auf den Release von «Blonde» gewartet, seit die ersten Bilder vom Set kursierten. Auch weil ich das rund 700 Seiten schwere, gleichnamige Buch von Joyce Carol Oates vor Jahren gelesen und bis heute nicht vergessen habe. «Blonde» hat 2000 den National Book Award gewonnen, 2001 den Pulitzer-Preis für Belletristik.

Genau – der Film, der gerade überall als unsensibel und ausbeuterisch verrissen wird, basiert auf einem Roman. Es sei ja klar, dass ein Mann Marilyn Monroe so darstelle – als Opfer, so der Tenor der Empörung. Probleme an dieser sehr trendenden Kritik: Erstens, Joyce Carol Oates, die Buchautorin, ist kein Mann. Zweitens, ein Roman ist kein Sachbuch. Drittens, ein Film, der sich den Genres Historic Fiction und Drama zuordnet, ist keine Dokumentation.

Zugegeben, das Genre Historic Fiction birgt einige Tücken. Man orientiert sich an echten Personen, nimmt sie aber lediglich als Ausgangslage für fiktive Inhalte. Das wurde auch bei Serien wie «The Crown» diskutiert. Aber darf man dem Publikum wirklich so wenig Fähigkeit zur Differenzierung zutrauen? Es ist gut, dass wir im Zeitalter von Fake News bedacht darauf sind, genau zu unterscheiden, was wahr ist und was falsch. Aber Unterhaltung ist kein Journalismus!

Eine Momentaufnahme ohne Anspruch auf Vollständigkeit

Manchmal möchte ich einfach lauthals schreien: «Es ist Kunst, Leute! Kunst!» Kunst kann sich mit der Realität auseinandersetzen, ja. Muss sie aber nicht. Kunst darf auch einfach komplett an der Realität vorbeiexistieren. Eine freie Interpretation sein, ein Gedankenspiel, eine Momentaufnahme ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich bin deshalb ganz bei Regisseur Andrew Dominik, wenn er sagt: «‹Blonde› ist ein anspruchsvoller Film. Wenn das Publikum ihn nicht mag, ist das sein ‹fucking problem›. Der Film kandidiert nicht für ein öffentliches Amt.»

Es gibt (neben dem grossartigen Soundtrack von Nick Cave und Warren Ellis!) einige Dinge, die «Blonde» richtig gut macht: Als Erstes muss natürlich Ana de Armas’ gloriose Performance genannt werden. De Armas hat eine fast mythische Figur der Popkultur menschlich gemacht. Es ist eine Rolle, an der man als Schauspielerin eigentlich nur scheitern kann. Eigentlich. Aber Ana de Armas übertrifft sogar Michelle Williams, die 2011 die Herausforderung in «My Week with Marilyn» angenommen hatte.

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«Hinschauen tut vielleicht weh. Ist aber nötig.»

«Blonde» ist ein kühner und kompromissloser Film, ein ungefiltertes Kunstwerk voller wuchtiger Bilderwelten mit höchstem Anspruch an Kameraführung. Jeder Frame ein «Vogue»-Editorial. Ich bin überzeugt, dass der Film einen Oscar für die beste Kamera gewonnen hätte. Aber das geht ja nun leider nicht mehr, weil sich die Academy wirklich nicht noch einen Skandal leisten kann. «Better safe than sorry» – danke, Will Smith!

«Blonde» schadet der feministischen Bewegung nicht

Kritisiert wird auch, dass der Film der feministischen Bewegung schade, weil er Monroe schwach und ohnmächtig und nicht «empowered» zeige. So richtig fundierte Kritik dazu kam zuletzt von Model Emily Ratajkowski, die in ihrem Kommentar auf TikTok auch noch den Nerv hatte zuzugeben, den Film überhaupt nicht gesehen zu haben («Ich habe viel über den Marilyn-Monroe-Film gehört, den ich noch nicht gesehen habe. Aber es überrascht mich nicht, dass es ein weiterer Film ist, der den weiblichen Schmerz fetischisiert. Ich denke, wir sollten alle ein bisschen wütender sein.»).

Warum Fetischisierung? «Blonde» zeigt doch einzig am Beispiel Monroe Dinge auf, die vielen jungen Frauen in der Filmindustrie während des sogenannten «Goldenen Zeitalters des Films» widerfahren sind. So schwer diese Szenen auch zu ertragen sind, sie werfen Licht auf die dunkle Seite Hollywoods, von der manche gerne behaupten, sie existiere nun nicht mehr. Hinschauen tut vielleicht weh. Ist aber nötig. Nun, vielleicht ist der Widerstand auch so gross, weil wir Zuschauer:innen in die Rolle der Voyeur:innen geraten, die auch ein Grund für Monroes Tragödie waren. Für mich ein brutales, aber geniales Stilmittel. Apropos Brutalität: Die Szenen seien gewaltverherrlichend, hiess es. Okay, aber «Game of Thrones» feiern alle total ab?

Gefeiert in Venedig, gecancelt auf Social Media

«Blonde» wurde am renommierten Filmfestival von Venedig frenetisch gefeiert, elf Minuten lang gab es Standing Ovations. Erst nach dem Release auf Netflix wurde dem Film dank Social Media schlagartig der Stempel «cancelled» aufgedrückt. Das Internet tat mal wieder, was es am besten kann: empört sein. Das passiert eben, wenn man nur noch die Kommentare zu den Kommentaren kommentiert (siehe Ratajkowski!).

Was so eine Reaktion für die Filmfirmen heisst? Bloss keine Fehler mehr machen! Denn Fehler kosten Geld. Wird ein Film gecancelt, also boykottiert, ist das schlecht fürs Geschäft. Wir können uns also auf eine Zukunft voller total sicherer, total sensibler und total langweiliger Filme freuen, bei denen man sicherlich keine Triggerwarnungen mehr braucht.

Wie kann man ernsthaft ein Werk dafür kritisieren, dass es eine Auseinandersetzung mit dem Stoff provoziert und eventuell schwer verdaulich ist? Können wir wirklich nur noch seichte Reality-Shows konsumieren, weil das Leben schon hart genug ist? Kunst darf, Kunst muss manchmal verstören, aufrütteln. Ich jedenfalls will nicht in einer Welt leben, in der Kunst, Literatur und Musik durch hundert Sensitivity-Filter gejagt werden, bis sie gänzlich verwässert sind. Wer nur leicht verdauliche Kost konsumieren will: total in Ordnung! Schaltet ab oder schaltet um auf eine launige Folge «Friends» – aber lasst uns anderen doch die Chance auf eine interessante Auseinandersetzung.

Redaktorin Vanja Kadic ist anderer Meinung. Warum sie findet, dass ihr euch «Blonde» gar nicht erst anschauen solltet, lest ihr hier

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Suzanne

Hallo, ich stimme zu, es ist Kunst! Gott sei Dank mal wieder ein Kunstfilm, der mich mitgerissen, betroffen und manches Mal atemlos vor Erkennen zurück gelassen hat. Ich bin begeistert! Die Musik ist natürlich wunderbar und mildert so manches Mal die Wucht der Handlung ein wenig ab!

Heidi

Also… ich habe den Film als grosse MM-Fan gesehen.
Die Schauspielerin Ana de Armas spielt grossartig. Dennoch finde ich den Film leider alles andere als sehenswert. Sehr langatmig, zeitraubend und final betrachtet langweilig. Schade…;-/

Vera

Da bin ich deiner Meinung. Ich habe nach der Hälfte abgeschaltet. Auch weil ich die Darstellung von Marilyn komplett seicht fand. Das hat diese Ikone nicht verdient.

Lisa

Sie hat total recht! Der Film basiert auf einem Roman und ist keine Doku! Muss man immer überall Probleme erfinden?

Susanna

Ehrlich gesagt verstehe ich diese Aufregung auch nicht.. der Game of Thrones Vergleich, super!
Aber auch ich bin etwas hin- und hergerissen. Schauspielerin grossartig! Einige Szenen definitiv zu sehr in die Länge gezogen und ja, ich gebe auch zu, dass ich manchmal das Gefühl hatte, der Regisseur geilt sich an gewissen Bilder auf. Aber ich schreie auch lieber mit Frau Krause-Blouin ‚es ist Kunst!‘

Irene

Ich fand ihn grottenschlecht. Total in die Länge gezogen und absolut langweilig.

Kate

Wenn man einen unterhaltsamen Film erwartet, wird man enttäuscht. Ich fand ihn grandios, die Leistung der Schauspielerin und die ungefilterte Wahrheit des echten Lebens, vor allem damals. Sie wird als schwaches Opfer dargestellt?? Opfer ja – schwach??? Auf keinen Fall! Wirklich, wirklich sehenswert!