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Kommentar: Deshalb ist Kanye Wests «White Lives Matter»-Shirt rassistisch

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Kommentar: Deshalb ist Kanye Wests «White Lives Matter»-Shirt rassistisch

Der Schwarze Künstler Ye, ehemals Kanye West, trug ein T-Shirt mit dem Slogan «White Lives Matter», als er an der Pariser Fashion Week sein Label Yeezy präsentierte. Unsere Autorin Anja Glover erklärt, warum dieser Slogan als rassistisch eingestuft wird und wie es dazu kommen konnte, dass Schwarze Personen ihn in der Öffentlichkeit tragen.

Der Auftritt von Ye an der Pariser Fashion Week sorgt seit einigen Tagen für Schlagzeilen. Der Künstler trug am vergangenen Montag den Slogan «White Lives Matter» und bezeichnete die «Black Lives Matter»-Bewegung kurz danach in einem Instagram-Post als Betrug.

Was ist so schlimm an dem Slogan? Der Satz «White Lives Matter» kann nicht einfach wortwörtlich gelesen werden. Relevant ist, in welchem Kontext er entstanden ist und von wem er mit welcher Absicht verwendet wird. Der Slogan wurde im Jahr 2015 von weissen Rassist:innen als rassistische Antwort auf die Bewegung «Black Lives Matter» verwendet.

Seither haben White-Supremacist-Organisationen (unter anderem auch der Ku-Klux-Klan) weltweit für den Slogan geworben. Der Slogan «White Lives Matter» entstand also erst und nur als Antwort auf «Black Lives Matter». Die Verwendung des Slogans wirbt demnach für den Wunsch, die weisse Vorherrschaft aufrechtzuerhalten.

Ye wurde in den vergangenen Jahren mehrmals in den Medien für sein Verhalten kritisiert – etwa aufgrund seiner irrwitzigen Präsidentschaftskandidatur, wegen auffälliger Chatverläufe mit seiner Ex-Frau Kim Kardashian, und auch in der Modebranche gab es bereits mehrere Skandale rund um den Künstler. Nicht zuletzt unterstützte und besuchte er Donald Trump im Weissen Haus. Die Frau, die während der Fashionshow neben Ye stand und ebenfalls ein «White Lives Matter»-Shirt trug, war Candace Owens, eine rechtskonservative Kommentatorin und Trump-Unterstützerin, die ihre Bekanntheit vor allem als Kritikerin der «Black Lives Matter»-Bewegung gewann.

Scham und Selbsthass

Ye und Owens sind beides Schwarze Menschen, also selbst von Rassismus betroffen. Das Verhalten der beiden ist aber dennoch kein unübliches. Durch Owens Argumentation in ihrem Podcast «The Daily Wire» am Dienstagabend wird deutlich, dass sie ihren Erfolg dazu nutzt, die Forderungen der «Black Lives Matter»-Bewegung zu sozialen Fragen und systematischem Rassismus zu entkräften.

Sie tut das, indem sie sich selbst als persönliches Fallbeispiel heranzieht und unterstellt, dass diejenigen, die behaupten, systematischen Rassismus zu erleben, im Grunde einfach nicht hart genug arbeiten. So sagt sie, dass das eigentliche Problem von Schwarzen Menschen in ihrer Kultur läge: «Es ist nicht Diversität, die wir feiern, es ist Perversität.»

Verinnerlichte weisse Vorherrschaft

Es gibt grundsätzlich zwei Erklärungsmuster für die Tatsache, dass es nicht-weisse Menschen sind, die weltweit von mehr Armut betroffen sind als weisse Menschen: Entweder ist es das System von weisser Vorherrschaft, die zu dieser Ungleichheit führt, oder aber man glaubt, dass nicht-weisse Menschen aufgrund ihrer nicht-weissen Kultur mehr von Armut betroffen sind. Letzteres ist Rassismus.

Würde man Owens Argumentation folgen, so bestünde die Möglichkeit, aus dieser natürlichen Unfähigkeit herauszuwachsen, in der Anstrengung, sich weissen Menschen anzupassen, so wie sie das macht. Die Psychologin Guilaine Kinouani erklärt das wie folgt: Wenn Schwarze Menschen das Verhalten Schwarzer Menschen dazu benutzen, um Antischwarzsein moralisch zu rechtfertigen, zeugt das von ihrer verinnerlichten weissen Vorherrschaft.

Auch der Psychiater Frantz Fanon hat in «Peau noir, masques blanc» beschrieben, wie der Kolonialismus das Verständnis von Schwarzen Menschen für ihr Schwarzsein verzerrt hat, da sie den Blick von weissen Kolonisatoren und rassistischen Konstruktionen verinnerlicht haben. Diese Konstruktionen führen nach wie vor zu tiefen Gefühlen der Scham und des Selbsthasses.

Selbstverachtung und Hass als koloniale Waffe

Die Politik der Assimilation, also des maximalen Anpassens, die Owens zum Ausdruck bringt, basiert also auf einer Art Selbsthass. Aber was bringt ihr das? Die vorübergehende Flucht kann ihr einen materiellen Gewinn und einen bedingten Zugang zu Machtstrukturen bieten. Aber sie führen eben auch zur Reproduktion weisser Vorherrschaft und Rassismus. Kinouani erklärt, dass Selbstverachtung und Hass nicht einfach zufällige Nebenprodukte des Kolonialismus waren, sondern aktiv hergestellt und als koloniale Waffe verwendet wurden, um das Weisssein zu stärken und Widerstand zu verhindern.

Was «White Lives Matter» wirklich bedeutet

Alle Leben zählen, das ist selbstverständlich. Aber in einer Welt, in der die Aussage «White Lives Matter» von rechtsextremen Organisationen angeeignet wurde, um sich einer Bewegung gegen Rassismus entgegenzustellen, bedeutet sie lediglich, dass weisse Menschen weiterhin mehr zählen sollen als alle anderen Leben. Dass nichts an der aktuellen Ungleichheit verändert werden soll. Dass die weisse Vorherrschaft legitim ist.

Selbstverständlich gibt es Annahmen, dass der Auftritt von Ye vor allem auch eine Marketing-Strategie war. Mit Erfolg: Die Pariser Fashion Week 2022 wird medial damit in Verbindung gebracht. Aber die gefährliche Botschaft gewann mit seinem Auftritt eine massive Reichweite, insbesondere deshalb, weil er selber Schwarz ist.

Es geht nicht um Betroffene und Nicht-Betroffene

Sind sich selbst Schwarze Menschen nicht einig? Das ist so. Guess what: Schwarze Menschen sind Individuen. Der Auftritt von Ye und die ausgelöste Debatte zeigen, dass wir beim Kampf gegen Unterdrückungsformen nicht getrennt sind zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen, sondern zwischen Menschen, die sich dem Kampf gegen Unterdrückung annehmen, und jenen, die ihn verhindern. Es bleibt uns nur, weiterhin Aktionen zu hinterfragen und in einen historischen und sozialen Kontext zu stellen.

Anja Glover ist eine Schweizer Autorin, Moderatorin, Podcasterin, Rassismus-Expertin und Social-Entrepreneurin. Sie gibt ausserdem Workshops zu Anti-Rassismus und Intersektionalität.

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Kati

Vielleicht ist die Erklärung für das Verhalten von Candace Owens noch viel einfacher:
Sie kann (sich) nicht zugeben, dass sie einfach sehr, sehr viel Glück gehabt hat in ihrer Karriere und nicht alles nur “hart erarbeitet”. Bei Überlebenden von Unglücken kennt man das als “Schuldgefühl der Überlebenden”.