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Anja Leuenberger: «Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir passiert ist»

Zeitgeist

Anja Leuenberger: «Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir passiert ist»

Anja Leuenberger wurde zwei Mal vergewaltigt. Das Schweizer Topmodel will nicht mehr schweigen – und hat die Übergriffe in einem Buch verarbeitet. Im Interview mit annabelle spricht sie offen über den Missbrauch, den sie erlebte.

Anja Leuenberger (27) zählt zu den erfolgreichsten Schweizer Models. Am Wochenende überraschte das Aargauer Topmodel seine 73 000 Instagram-Follower mit einem traurigen Post: Leuenberger schrieb, dass sie Opfer von sexuellem Missbrauch wurde. Mit 15 Jahren wurden Sie in einem Zürcher Club vergewaltigt, mit 18 bei einem Modeljob in Los Angeles – der Täter war in der Mode-Industrie tätig. Die traumatischen Erlebnisse hat sie in ihrem ersten Buch «The Depths of My Soul» festgehalten. In ihren Gedichten konnte sie die Übergriffe verarbeiten – und will nun anderen Mut machen, wie sie im Interview mit annabelle erklärt.

annabelle: In Ihrem Buch «The Depths of My Soul» (dt. Die Tiefen meiner Seele) beschreiben Sie, wie Sie zwei Mal Opfer sexueller Übergriffe wurden. Was gab den Ausschlag, das Buch zu schreiben?
Anja Leuenberger: Ich dachte seit zwei Jahren darüber nach. Ich habe in dieser Zeit gemerkt, wie wertvoll es ist, mit anderen über meine Erfahrung zu sprechen. Es ist erschreckend, wie vielen Frauen dasselbe passiert ist. Ich dachte mir: Es kann nicht sein, dass man nicht öffentlich darüber spricht. In der Corona-Quarantäne hatte ich schliesslich keine Ausrede mehr: Erstmals seit 13 Jahren hatte ich etwas Freiheit und Zeit – und begann, an meinem Buch zu arbeiten. Ich wollte mich von niemandem dabei beeinflussen lassen. Nur mein Mami und meine beste Freundin Ronja (Anm. d. Red.: Topmodel Ronja Furrer) wussten davon.

Ihren Schmerz haben Sie nach den Übergriffen in Gedichten verarbeitet, die Sie nun publizieren.
Ich war jung und ich hatte damals kein Geld für einen Therapeuten. Also fing ich an, Gedichte über die Vergewaltigung zu schreiben. Die Gedichte in meinem Buch reichen von sehr düsteren Stücken bis zu Gedichten von Selbstliebe und Selbstheilung. Ich bin überzeugt davon, dass man das Licht erst durch die Dunkelheit findet.

War das Niederschreiben des Erlebten emotional schwierig für Sie?
Ich glaube, dass die Narben eines solchen Übergriffs nie ganz verheilen. Das ist etwas, das immer bei einem bleibt. Man merkt: Der Schmerz ist noch im Körper drin. Diese Gefühle aufzuschreiben, war ein emotionaler und überwältigender Prozess. Mir wurde bewusst: Meine Eltern werden das lesen und die ganze Dunkelheit sehen, die ich erlebte. Ich wusste auch nicht, wie die Öffentlichkeit darauf reagieren wird. Das ist nicht einfach.

Warum entschieden Sie sich trotzdem dazu, Ihre Geschichte öffentlich zu machen?
Ich habe eine Plattform und damit eine gewisse Verantwortung. Mir folgen viele junge Mädchen. Ich wollte meine Plattform nutzen und will mehr bieten als Selfies und herzige Hundebilder. Ich will den Leuten Mut machen, denen das Gleiche widerfahren ist: Wenn sie sehen, dass ich solche Übergriffe überwinden konnte, merken sie, dass sie es auch können. Ich bin stolz, dass ich es getan habe. Jahrelang konnte ich nicht darüber sprechen. Mein Selbstbewusstsein war weg. Mein Körper kollabierte irgendwann einfach.

Was meinen Sie damit?
Eines Morgens brach ich einfach zusammen und konnte nicht aufstehen. Im Spital fanden die Ärzte nichts. Erst als ich mich meinem psychischen Schmerz widmete, verschwanden auch die körperlichen Symptome. Es war wie ein Hilfeschrei meines Körpers.

Mit 15 Jahren geschah der erste Übergriff.  Konnten Sie sich nach dem sexuellen Missbrauch niemandem anvertrauen?
Ich wollte nicht wahrhaben, dass mir das passiert ist. Ich habe den Vorfall aus meinem Bewusstsein gelöscht. Erst als es zum zweiten Mal passierte, kam alles wieder hoch. Ich habe erstmals mit 21 mit meinem damaligen Freund darüber gesprochen, der toll reagierte und mir Raum und Kraft gab. Aber ich wusste lang nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Ich gab mir jahrelang selbst die Schuld. Als ich es schliesslich meiner Familie sagte, reagierten sie mit viel Liebe und gaben mir Halt. Mit meinem Mami führte ich vor drei Jahren ein sehr emotionales Gespräch am Strand in Mexiko. Dabei sprach ich mit ihr zum ersten Mal detailliert über die Vergewaltigungen und wir weinten beide. Es war emotional und traurig, aber auch schön. Heute wünsche ich mir, dass ich früher darüber gesprochen hätte.

Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie darüber sprechen?
Anfangs fühlte ich mich verletzlich und unsicher, wenn ich darüber sprach. Ich schämte mich auch dafür. Mittlerweile weiss ich: Ich konnte nichts dafür. Diese Ereignisse werden mich mein Leben lang begleiten. Ich habe manchmal heute noch Mühe bei körperlicher Nähe. Eine Vergewaltigung kann man nicht einfach löschen – aber je mehr man darüber spricht, desto einfacher wird es. Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir passiert ist. Ich fühle mich heute stark.

Was hat Ihnen geholfen, an diesen Punkt zu kommen und den Missbrauch zu verarbeiten?
Meditation hilft mir sehr. Seit einem Jahr meditiere ich zweimal am Tag. Das Wichtigste ist für mich, Menschen zu vergeben, ohne je eine Entschuldigung von ihnen erhalten zu haben. Obwohl es sehr schwierig war: Das ist mir bei diesen zwei Männern gelungen. Mir half ausserdem, viel darüber zu sprechen und zu schreiben. Ich finde ausserdem, jeder sollte einen Therapeuten haben.

Sind Sie selbst auch in Therapie?
Ich war zweimal in der Schweiz in Therapie. Ich wurde bei beiden Vergewaltigungen stark gewürgt und bekam beim Reisen plötzlich extreme Panikattacken. Im Flugzeug hatte ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Es wurde so schlimm, dass ich deshalb sogar Flüge verpasste. Mein Therapeut riet mir, dass ich die Panikattacken einfach zulassen soll. Dieser Ratschlag half, neben Zeit und Meditation. Heute habe ich nur noch selten eine Panikattacke.

Sind Sie rechtlich gegen die beiden Männer vorgegangen?
Es ist schwierig, Jahre später jemanden wegen Vergewaltigung zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Beweise fehlen. Das erste Mal habe ich es verdrängt und beim zweiten Mal waren meine Scham und mein Ekel einfach zu gross. Ich wünschte, ich hätte zur Polizei gehen können – aber mir fehlten Mut und Kraft dafür.

Was wollen Sie anderen Überlebenden sexueller Gewalt raten und auf den Weg geben?
Es ist nicht eure Schuld. Es lag nicht an eurem Oufit oder an etwas anderem – ihr könnt nichts dafür, dass euch das passiert ist. Schämt euch nicht! Und sprecht darüber. Ich finde ausserdem, dass jeder und jede Selbstverteidigung lernen sollte. Das gibt einem ein sichereres Gefühl.

Das Buch «The Depths of My Soul» ist ab sofort erhältlich.

Sie haben sexuelle Gewalt erlebt und suchen Hilfe? Die Frauenberatung oder die Opferhilfe Schweiz kann Ihnen weiterhelfen. 

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«Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir passiert ist», sagt sie

Mit 15 erlebte sie den ersten sexuellen Übergriff: «Ich wollte nicht wahrhaben, dass mir das passiert ist. Ich habe den Vorfall aus meinem Bewusstsein gelöscht.»