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Warum riskieren Sie Ihr Leben, Milo Rau?

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Warum riskieren Sie Ihr Leben, Milo Rau?

  • Interview: Barbara Achermann; Foto: Daniel Seiffert

Milo Rau reist mit einem Flüchtling zurück in den Krieg. Wieso bringt sich der Schweizer Regisseur für die Kunst immer wieder derart in Gefahr?

Das Hotel Les Arcades ist ein abgehalftertes 3-Sterne-Haus am Genfer Hauptbahnhof. Milo Rau sitzt im fensterlosen Frühstücksraum und trinkt Filterkaffee. Er trägt ein zerknittertes Hemd und ist offensichtlich verkatert. Tags zuvor «musste» er einen belgischen Theaterpreis feiern, der ihm für eine Inszenierung über den Kinderschänder Marc Dutroux verliehen worden ist. Rau zitiert aus der Laudatio.

Nein, bescheiden ist er nicht. Braucht er auch nicht zu sein, denn Milo Rau, 39 Jahre alt, aufgewachsen in der Ostschweiz, wohnhaft in Köln, hat schon so manche Auszeichnung gewonnen. Rau ist einer der wichtigsten Theatermacher unserer Zeit und betreibt eine eigene Produktionsfirma mit einem Jahresbudget von rund 1.5 Millionen Euro. Er sorgt international für Aufsehen, wird entweder als intellektueller Erneuerer gefeiert oder als banaler Provokateur zerpflückt, lässt aber keinen Kritiker kalt. In der Schweiz wurde er als Nestbeschmutzer beschimpft, weil er einen fiktiven Prozess gegen die «Weltwoche» inszenierte. Als er die Verteidigungsrede des norwegischen Massenmörders Anders Breivik aufführen wollte, warf ihn das Theater Weimar vor die Tür, ebenso das Münchner Volkstheater und das Basler Stadthaus. Die russischen Behörden belegten ihn wegen seiner «Moskauer Prozesse» mit einer Einreisesperre, und im Kongo wurden zwei seiner Mitarbeiter entführt. Geht es ihm um die Sache oder um den Skandal? «Um beides.» Rau trinkt jetzt Mineralwasser in grossen Schlucken. «Tabuthemen interessieren mich. Theater ist für mich wie eine Wette, ich weiss vorher nie, ob ein Projekt schiefgehen wird oder nicht.»

Obwohl er Kopfschmerzen hat, ist Rau ein angenehmer Gesprächspartner, fast so, als wäre er ein Kumpel, den man jahrelang nicht gesehen hat. Nach unserem Treffen ist er bei Jean Ziegler daheim zum Mittagessen eingeladen. Ziegler sei für ihn eine Art Vater. Das passt, denn wie Ziegler ist auch Rau Soziologe, Globalisierungskritiker – und Moralist. In seinen Essays und Kolumnen erteilt er gern Ratschläge: «Tut nur Dinge, die wirklich notwendig sind.» Oder: «Geht in die Welt hinaus! Reist! Riskiert euren Ruf, euer Leben!» Aber Rau predigt nicht nur, er handelt auch. Seine Arbeit zeichnet sich vor allem durch intensive Recherchen vor Ort aus. Brecht hat geschrieben, man könne nichts über eine Fabrik lernen, wenn man sie nur von aussen fotografiere. Man müsse hineingehen, mit den Arbeitern reden und schliesslich die Zusammenhänge kommentieren. Oder mit Brechts Worten, «die Realität zum Sprechen bringen», damit man herausfindet, wie sie verändert werden kann.

Genau das tut Rau. Das beste Beispiel ist sein «Kongo-Tribunal», ein nahezu grössenwahnsinniges Kunstprojekt, das er im vergangenen Sommer aufführte. Ende Jahr wird darüber ein Film erscheinen. Es brauchte viele Stromgeneratoren und noch mehr Improvisationstalent, um den Prozess in der kongolesischen Provinz durchzuführen. Rau prangerte sie alle an: die internationalen Rohstofffirmen, die kongolesische Regierung, die Uno und sogar die Hilfswerke. Zwar war das Urteil seines Theatertribunals nicht rechtskräftig, aber es stellte die Frage nach der Verantwortung für die vielen Massaker und Vertreibungen.

Jetzt also wieder eine Reise. In vier Tagen fliegt er nach Erbil im Nordirak und fährt von dort mit dem Auto nach Syrien, im Gepäck eine Digitalkamera und Speicherkarten für fünfzig Stunden Film. Für sein Stück «Empire» begleitet er einen syrischen Schauspieler auf der Rückkehr in dessen Heimat. Woher nur kommt dieser Drang, der Gewalt in die Augen zu sehen? So viel ist belegt: Rau hatte ihn bereits als Teenager.

annabelle: Milo Rau, im Alter von 19 Jahren sind Sie zu den Zapatisten gereist, einer Guerillabewegung in Mexiko, die für die Rechte der Landbevölkerung kämpfte. Auf dem Dachboden Ihrer ehemaligen Zürcher WG haben wir ein Foto von damals gefunden (siehe Bildstrecke). 
Milo Rau: Das ist ja crazy! Wie ich hier sehe, hatte ich leider schon vor zwanzig Jahren fleckige Hosen.

Mir sticht eher ins Auge, dass neben Ihnen ein maskierter Mann mit einem Sturmgewehr auf dem Schoss sitzt.
Das ist Commandante Tacho.

Was machen Sie hier, im tiefsten Urwald Mexikos?
Seit ich denken kann, wollte ich eintauchen in die Dinge, Bücher und Länder, für die ich mich interessierte. Ich war bereits als 13-Jähriger fasziniert vom Kommunismus, lernte Russisch, las Marx und Lenin und später die Schriften der Zapatisten. Diese Rebellen schufen im Grunde genommen den Anfang der Antiglobalisierungsbewegung.

Weshalb sind Sie hingereist?
Ich musste einfach zu ihnen. Mich beeindruckte die Poesie dieses Kampfes, aber ich war auch getrieben von der Abenteuerlust. Und dann gab es noch eine mexikanische Ex-Freundin, die ich mit meiner Reise zurückerobern wollte.

Das Thema Gewalt zieht sich durch Ihre Arbeit. Warum?
Das hat mit der Kunstform an sich zu tun. Theater handelte schon im alten Griechenland von Ausnahmesituationen. Entweder es geht um Liebe oder um Gewalt.

Bei Ihnen geht es aber oft um die tiefsten menschlichen Abgründe: Völkermord in Ruanda, Massaker im Kongo, Breivik, Dutroux.
Ich frage mich: Wie kann es sein, dass ein Familienvater das 17-jährige Nachbarsmädchen, das er kennt, seit es ein Baby war, vergewaltigt und dann umbringt? So was geschah während des Völkermords in Ruanda nicht einmal, sondern unzählige Male. Das sind Vorgänge, die mir keine Ruhe lassen. Leider ist es wohl so, dass die Zivilisation der Ausnahmezustand ist und die Barbarei der Normalzustand.

Sie haben Jean Ziegler mit dem Satz zitiert: «Wir befinden uns in der Vorgeschichte des Menschlichen.»
Ja, denn der Wohlstand in Europa gründet auf Ausbeutung. Deshalb spreche ich vom imperialen Europa, und aus diesem Grund heisst mein aktuelles Stück «Empire». In meinem Kongo-Film gibt es einen interessanten Moment, in dem ein Wirtschaftsführer sagt, die Gesetzgebung in Europa – die sogenannte Rohstoffstrategie der OECD – laufe darauf hinaus, dass die Kongolesen ihre Rohstoffe nicht selber aus der Erde holen und verarbeiten können. Würden sie das tun, wäre Europa wirtschaftlich verloren. Und die Schweiz sowieso: Achtzig Prozent des weltweiten Mineralienhandels laufen über unser Land.

Sie selber sind Teil dieser ausbeuterischen Verkettung. «Ich bin auch ein Arschloch» lautet der Titel eines Essays. Sie schreiben, dass Ihr Notebook ebenfalls Rohstoffe aus dem Kongo enthalte.
Es gibt eine Verantwortungsdiffusion, die Schuld verteilt sich auf viele. Jedes Kind, das hier geboren wird, generiert woanders drei Quasi-Sklaven. Das ist die Logik der Globalisierung. Entweder man nimmt es fatalistisch und sagt, ich kann nichts tun. Oder aber man nimmt die eigenen Handlungsmöglichkeiten wahr, um die Welt ein wenig besser zu machen.

Nach Ihrer Reise zu den Zapatisten haben Sie angefangen, Kunst zu machen. Ihr erster Film entstand 2002 und hiess «Paranoia Express». Ein ehrgeiziges Projekt.
Es kamen dreissig verschiedene Drehorte vor, sieben Bands und viele berühmte Schauspieler. Eine gute Freundin sagte, der Film erinnere sie an einen Vogel mit gebrochenen Flügeln, der sich ständig aufplustert. Wir hätten besser eine simple WG-Geschichte gedreht.

Er war ein Flop.
Absolut. Er ist nur an zwei Festivals gelaufen. Das Publikum war total ratlos.

Was haben Sie daraus gelernt?
Zunächst einmal, dass ich so schnell keinen Film mehr machen sollte. Er hat 120’000 Franken gekostet, was eigentlich wenig Geld ist für einen Film, aber doch viel für einen 25-Jährigen. Also habe ich mich aufs Theater verlegt.

In vier Tagen werden Sie für Ihre aktuelle Produktion «Empire» nach Syrien reisen. Ist es legitim, sich und andere fürs Theater in Gefahr zu bringen?
Ja. Die Gefahr ist für mich sogar die eigentliche Legitimation. Kunst muss ein Akt sein, es muss schwierig sein, ihn zu vollziehen. Und wenn ein Schauspieler in Syrien das Grab seines Vaters suchen will, ist es für mich eine Frage des Respekts, dass ich ihn begleite. Ich glaube – das ist ein Satz, den ich oft gesagt habe –, unsere Seele weiss, wie es auf der Welt läuft. Wir wissen, dass wegen der Verteilungsungerechtigkeit im Minutentakt ein Kind an Hunger stirbt und dass wir mitschuldig sind am Krieg in Syrien. Dieses Wissen belastet uns unbewusst. Wenn ich mich vor Ort begebe und einen realen Kontakt und ein reales Verständnis herstelle, dann ist das für mich eine Art Therapie.

Wie vereinbaren Sie Ihre zeitintensive und risikoreiche Arbeitsweise mit Ihrer Familie?
Meine Arbeit ist eine Obsession, ich kann nicht damit aufhören. Ich rette mich aus dieser vertrackten Situation, indem ich versuche, wirklich präsent zu sein, wenn ich zuhause bin. Und ich hoffe, ich bin meinen beiden Töchtern ein Beispiel dafür, dass man Sinnvolles tun kann. Das «Kongo-Tribunal» zum Beispiel war ein Akt der Solidarität. Wir haben zwei internationale Konzerne und die Uno symbolisch verurteilt. Man mag davon halten, was man will, aber immerhin mache ich die Welt nicht schlechter.

«Empire» von Milo Rau: 1. bis 4. 9. am Zürcher Theater Spektakel, theaterspektakel.ch

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«Das ist ja crazy!»: Milo Rau, 19-jährig, bei den Zapatisten in Mexiko