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Leben im Jemen

Leben

Leben im Jemen

  • Text: Eugen Sorg; Fotos: Nathan Beck

Terroristen, religiöse Eiferer, unterdrückte Frauen: Wie lebt es sich in einem der gefährlichsten Länder der Erde? annabelle porträtiert eine einheimische Filmkritikerin, die eigentlich gar nicht in Kinos gehen darf.

Wie im falschen Film: Wie wird man Filmkritikerin in einem Land, in dem Frauen der Kinobesuch verboten ist? Und wie nur bewahrt man sich dabei so viel Enthusiasmus und gute Laune? Eine Begegnung mit Huda Jafar, 26 Jahre, aus Jemens Hauptstadt Sanaa.

Vor vierzig Jahren gab es im südarabischen Jemen fünfzig Kinos. Wenn im Hurricane in der Hafenstadt Aden oder im Hadda in der Kapitale Sanaa der neueste Streifen aus Hollywood oder Kairo anlief, bildeten sich vor den Kassen lange Schlangen. Die Leute waren filmverrückt. Dies sehr zum Missfallen der religiösen Kräfte, welche durchsetzten, dass Frauen der Zutritt verboten wurde. Und als 1986 das Hadda von einem Eiferer in die Luft gesprengt wurde, brach die kleine einheimische Filmindustrie zusammen. Heute stehen noch drei Filmtheater im Land mit 24 Millionen Einwohnern.

Es war daher eine Überraschung, als ich anlässlich eines Aufenthalts in Sanaa in der englischsprachigen Zeitung «Yemen Observer» über ein Filmsymposium las, das kürzlich hier stattgefunden hatte. Und noch mehr überraschte mich, dass darin auch eine einheimische Referentin erwähnt wurde, eine junge Filmkritikerin namens Huda Jafar, die in einem Vortrag anhand von westlichen und arabischen Beispielen über den Zusammenhang von Politik und Filmplots gesprochen hatte. Wie kam eine Frau dazu, im Jemen Filmkritikerin zu werden, in einem Land praktisch ohne Kinos und ohne Filmregisseure? In einer erzkonservativen orientalischen Gesellschaft, wo man die weiblichen Familienangehörigen wie das Familiengold vor allen fremden, begehrlichen Blicken versteckt?

Über den «Yemen Observer» stellte ich den Kontakt zu Huda Jafar her, und sie willigte ein, sich mit mir in einer Cafeteria zu treffen. Als ich dort ankam, sass sie bereits da, vor sich eine Tasse Tee und einen Laptop, aber ohne Begleitung eines männlichen Verwandten, wie es zu erwarten gewesen wäre, sondern allein. Im Gegensatz zu den meisten Frauen in Sanaa war ihr Gesicht bis auf die Haare nicht verschleiert. Sie wirkte zurückhaltend, etwas unsicher, ein Eindruck, der im Gespräch jedoch schnell verflog. Sie war wach und gescheit und voller Neugierde. Fragen, über die sie noch nie nachgedacht hatte, schüchterten sie nicht ein, sondern schienen sie im Gegenteil zu beflügeln. Ohne naiv zu sein, nahm sie das Kino ernst. Es eröffnete ihr den Blick auf andere Welten, innere und äussere, von denen sie vorher kaum etwas geahnt hatte. Ein guter Film, sollte sie einmal sagen, sei wie ein guter Freund. Und sie war offensichtlich bereit, wie für einen guten Freund auch für ihr geliebtes Kino persönliche Risiken einzugehen.
Sie kannte «Es geschah am helllichten Tag», «Cape Fear», fast jeden Film, den ich erwähnte, jeden Schauspieler, jeden Regisseur, und hatte zu allen eine Meinung, die sie begründet und kurzweilig vortragen konnte. Sie wusste viel, und alles hatte sie sich selbst beigebracht. Sie las ägyptische Filmmagazine, Kolleginnen brachten ihr DVDs aus dem Ausland mit, sie lud Filme aus dem Internet herunter. Am Ursprung ihrer Leidenschaft stand jedoch ein erzwungener Verzicht. Seit sie denken könne, erzählte sie, habe sie Schauspielerin werden wollen. Sie sei ein lebhaftes Kind gewesen, habe es geliebt, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, konnte gut Erwachsene imitieren.

«Aber meine Familie war dagegen. Als Schauspielerin hätte ich den Hijab ablegen müssen, den Kopfschleier. Ein unvorstellbarer Gedanke.» Also fing sie als Jugendliche an, Filmbesprechungen zu schreiben, für sich selbst, mit der Familie als Publikum. «Zum Beispiel?» «‹Titanic›», lachte sie, «ein guter Film mit grossartigen Szenen und Effekten. Aber drei Stunden für eine Liebesgeschichte sind zu lang. Und am Schluss lässt Kate Winslet ihren Liebhaber allein im Meer untergehen. Hätte sie ihn wirklich geliebt, wäre sie ihm in den Tod gefolgt.»

Anfang 2007 wurde in einer kleinen jemenitischen Zeitung erstmals ein Artikel von ihr gedruckt, und kurz darauf erschienen ihre Beiträge in wöchentlicher Folge. Es war nicht nur die erste Filmkolumne in der Geschichte des Landes, die damals 23-jährige Huda Jafar war auch die einzige weibliche Filmkritikerin in der gesamten Golfregion. In den städtischen Milieus der Medienleute galt sie als Star, und sie war erstaunt, als sie im Internet und in anderen Zeitungen auf ihre Artikel stiess. «Sie wurden ohne mein Wissen verwendet, es war illegal. Aber ich war stolz.»

Weniger stolz war ein Grossteil ihrer Familie. Für ihre drei Schwestern und den älteren Bruder war Kino eine religiös verwerfliche Sache. Sie wünschten, Huda würde nicht mehr darüber schreiben, aber sie liessen sie in Ruhe. Anders die Mutter und der jüngere Bruder. Die beiden setzten sie unter Druck. «Was weisst du über Sex, dass du darüber schreibst?», fragte eines Tages die Mutter mit drohendem Unterton. «Hast du es ausprobiert?» Sie warf ihr einen Artikel vor die Füsse, in dem Huda einen arabischen Film besprochen hatte, der auch auf einige sexuelle Aspekte des arabischen Lebens wie lesbische Liebe einging. Zwei Monate nach diesem Vorfall stahl ihr der Bruder das Passwort für den Computer. Er las ihre E-Mails, die vielen, zumeist männlichen Leserzuschriften, ihre Artikel, von denen er zwei den Eltern präsentierte. Später würde er ihr sagen, dass er eine Zeitlang vorgehabt hatte, sie zu töten.

Bis dahin war sie sich der Unterstützung des Vaters sicher gewesen. «Ich fühlte mich von klein auf der Welt zugehörig, interessierte mich für andere Kulturen, bewertete die anderen Menschen nicht nach Hautfarbe, Religion, Geschlecht. Dies verdanke ich meinem Vater, seiner Toleranz, seiner Liebe zu Büchern.» Nun schien auch er schockiert zu sein. Zwar verlangte er nicht, dass sie mit den die Kolumnen aufhöre. Aber er änderte sein Verhalten. Er wurde kühl, fast abweisend und sprach nicht mehr mit ihr. Huda Jafar kapitulierte. Sie hörte auf zu schreiben.
«Welches sind deine zehn Lieblingsfilme?» «Die westlichen, meints du?» «Ja.» Sie begann aufzuzählen. «1. ‹Psycho› von Hitchcock. 2. ‹Amistad› von Spielberg. 3. ‹The Talented Mr. Ripley› mit Matt Damon. 4. ‹The Color Purple›. 5. ‹Ladies in Lavender›. 6. ‹Shawshank Redemption› mit Tim Robbins und Morgan Freeman. 7. ‹The Others›, ein Mysterythriller mit Nicole Kidman. 8. ‹The Sixth Sense› mit Bruce Willis. 9. ‹Schindler’s List›, wieder von Spielberg. Du weisst, dass es Spannungen gibt zwischen den Arabern und Israel. Ich bin Araberin, ich kann nicht objektiv sein. Aber ich muss es versuchen. Spielberg hat den Oscar verdient, obwohl er einseitig auf der Seite der Juden steht. Wie viele Filme haben wir? Neun? 10. ‹Citizen Kane› von und mit Orson Welles.»

Es waren mehrheitlich bittere, tragische Geschichten. Sie handelten von Mördern, die nicht gefasst wurden, von Katastrophen und Unterdrückern, von Toten, die glaubten, lebendig zu sein, von Menschen, die ein fremdes Leben lebten und zu spät realisierten, dass sie ihr eigenes verpasst hatten.

Ob sie ein Thema, eine Grundemotion sehe, die alle zehn Filme miteinander verbinde, fragte ich. Sie dachte eine Weile nach. Es sei eher ein Mix von Verschiedenem, meinte sie schliesslich, es ginge um die Magie der Liebe, um Schmerz, Bedauern, Hass, Schicksal. Diese Art von Filmen, fuhr sie fort, seien mehr als gute, ökonomisch kalkulierte Unterhaltung mit den ewig bewährten Elementen: wunderschöne Szenerien, blendend aussehende Schauspieler, Sex. Es seien «literarische Filme», Kunstwerke, die auf verborgene Seiten des menschlichen Herzens aufmerksam machten und unser bisheriges Leben verändern können.

«Haben die erwähnten zehn Filme mit deinem eigenen Leben zu tun?» «Ich könnte noch weitere aufzählen: ‹The English Patient›, ‹Forrest Gump›, ‹Saving Private Ryan›, ‹Good Bye, Lenin!›, ‹Platoon›. Jeder dieser grossartigen Filme erinnert mich daran, dass Zeit und Tage vergehen, ohne dass ich meinen Traum verwirklichen kann: eine Schauspielerin zu sein.»

Nach mehr als einem Jahr Pause hatte Huda Jafar wieder begonnen zu schreiben. Die Situation war anders geworden. Sie hatte geheiratet. Nun war ihr Mann verantwortlich für sie und die Ehre der Familie. Es war keine der üblichen arrangierten Ehen, sie hatte ihn an der Arbeitsstelle in einem internationalen Unternehmen, wo sie mittlerweile angestellt war, kennen gelernt, und die beiden hatten sich ineinander verliebt. Er sei ein wunderbarer Mann, sagte Huda Jafar, anders als die anderen Männer im Jemen. Er vertraue ihr, glaube an ihr Talent und unterstütze ihre Tätigkeit als Filmkritikerin. Und mit den Eltern sei das Verhältnis wieder gut, der Vater habe den Vorfall offensichtlich wieder vergessen.
«Wissen sie, dass du wieder schreibst?» «Nein. Ich habe es ihnen nicht gesagt. Ich mag das Versteckspiel nicht, aber ich sehe keine andere Lösung. Mein Vater würde sich zwar freuen über meinen Erfolg, und er hätte auch nichts dagegen, wenn ich im Fernsehen auftreten würde. Aber er bekäme Probleme mit meiner Mutter.»

«Wie denkst du über die Situation der Frauen im Westen? Sind sie freier, glücklicher? Oder zu wenig geschützt, zu frivol, zu leichtfertig bezüglich ihrer Ehre?» «Sie haben Ehre, sie sind besser geschützt als wir, und ich mag die Freiheit, mit der sie über ihr Leben verfügen können.» «Gibt es Gemeinsamkeiten?» «Hier wie dort glauben viele Frauen, das Wichtigste im Leben sei es, einen Mann zu haben.» «Wärst du lieber im Westen geboren?» «Die Leute im Westen sind ehrlicher und offener als wir Araber. Hier hat man viel mehr Angst vor dem Urteil der Gesellschaft, und dies führt dazu, dass man sich verstellt und vorgibt, etwas anderes zu sein, als man ist. Aber trotzdem möchte ich keine westliche, sondern eine orientalische Frau sein. Aber eine mit besseren Bedingungen.»