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Mal ganz verbindlich

Leben

Mal ganz verbindlich

  • Text: Geraldine Capaul; Foto: Unsplash / Vera Bitterer

Ein vereinbartes Treffen wieder absagen – kein Problem, oder etwa doch? annabelle-Produzentin Geraldine Capaul über die Unverbindlichkeit, die sich immer mehr einschleicht. 

«Schreibst du mal wieder eine Meinung?», fragte mich meine Kollegin auf der Redaktion. «Gern», sagte ich, «ich studier mal.» Das war im letzten Sommer. Warum das so lang gedauert hat? Weil unsere Abmachung unverbindlich war.

Im Dezember wollte ich mich mit mindestens drei Freundinnen treffen, die ich viel zu selten sehe. Kaffeedates, aber auch Ausflüge wurden angedacht. Raten Sie, wie viele der Frauen ich tatsächlich traf. Genau: keine. Weil wir keinen Tag fix festgelegt hatten. Die Treffen lagen mir wirklich am Herzen, aber dann war es so gemütlich zuhause, das Kind hatte schlecht geschlafen, die vertraute Freundin kam vorbei. Kurz: Der Alltag überrollt einen, und ehe man sich versieht, sind die Tage um.

Die Unverbindlichkeit hat sich in den letzten Jahren in unser Leben geschlichen. Nicht unbeteiligt an ihrem Siegeszug sind die neuen Kommunikationsmöglichkeiten: SMS (damals), Whatsapp, Messenger verleiten zur Spontaneität. Man macht nichts mehr zuverlässig ab, sondern «schreibt sich dann noch». Während man früher per Telefon ein Treffen abmachte und sich danach dran halten musste, weil die andere Person nicht mehr erreichbar war, kann man heute noch eine Stunde vor dem Treffen eine Nachricht schicken: «Sorry, Zahnarzttermin dauert länger, wird mir heute doch zu stressig. Ein andermal wieder?» Facebook und Veranstaltungseinladungen, an denen man «interessiert» ist, machen die Sache auch nicht besser. Dabei steckt hinter jeder Einladung, hinter jedem Fest viel Arbeit und Herzblut. Daran vielleicht teilzunehmen ist höflich formuliert nicht nett. Und bedeutet eigentlich einfach: Ich will mir alle Optionen offen halten, auch Sofa und Netflix. Das alles ist kein Weltuntergang, schon klar.

Analysieren wir die grassierende Unzuverlässigkeit auf der Regierungsebene, kommen wir dem Weltuntergang näher. Denken wir an die globale Klimadebatte, ihre Gipfel und Abkommen: Es wird verhandelt und dann doch nicht unterzeichnet, versprochen, aber (noch?) nicht umgesetzt. Selbst dann wenn es nicht um das grosse Ganze geht, hat das Hin und Her von Politikern und Führungskräften negative Konsequenzen. Sagt ein Politiker seine Teilnahme für ein Interview, einen Spenden-Event, eine Podiumsdiskussion kurzfristig und ohne wichtigen Grund ab, hält ein Chef eine Budgetbesprechung oder Projektzusage nicht ein, ist das für die Betroffenen im besten Fall ein Mehraufwand, im schlimmeren Fall hat es finanzielle Einbussen oder Reputationsschäden zur Folge.

Deshalb: Ein Hoch auf die Verbindlichkeit, denn sie zwingt uns zum Glück! Weil man sich beispielsweise an einem kalten Sonntagabend vom Sofa aufrafft, um den Jasskollegen zum ersten Mal auf der Bühne singen zu hören. So ein Erlebnis berührt und macht viel mehr Freude als ein «Tatort». Auch sehe ich meine Freundinnen jetzt regelmässiger. Weil wir nach jedem gemeinsamen Abendessen gleich ein neues Datum abmachen, das wir brav in unsere Smartphones tippen. Ich schaffe das leider noch nicht mit allen Menschen, die mir wichtig sind. Aber ich arbeite daran.

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