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Emily Kokal: «Die Vereinbarkeit von Familie und Karriere sollte nicht romantisiert werden»

Literatur & Musik

Emily Kokal: «Die Vereinbarkeit von Familie und Karriere sollte nicht romantisiert werden»

Statt des neuen Albums erklärt Emily Kokal von Warpaint die Vereinbarkeit von Familie, Freund:innenschaft und Bandleben.

Warpaint war die smarteste Gang der Stadt. Vier unzertrennliche Freundinnen, die repräsentativ für das Los Angeles der früheren Zehnerjahre standen – die Indie-Königinnen der damals neuen Kreativ-Szene von Silver Lake und Echo Park. Mit ihrem psychedelisch-kalifornischen Dreampop war Warpaint aber auch ein bestechend guter weiblicher Gegenentwurf zu all den Indie-Jungsbands da draussen.

Die erste Schlagzeugerin Shannyn Sossamon machte Karriere in Hollywood, der zweite Schlagzeuger hiess Josh Klinghoffer und spielt heute bei Pearl Jam, der Red-Hot-Chili-Peppers-Gitarrist John Frusciante produzierte Warpaint und bildete mit Gitarristin und Sängerin Emily Kokal einige Jahre lang ein Power-Couple des coolen Hipster-L.A. Es folgten drei Alben, mit denen sich Warpaint international in die erste Indiepop-Liga spielten. Dann kamen Soloprojekte, Umzüge, eine Geburt, die Pandemie.

Danach scheint nun plötzlich alles anders zu sein bei dieser Band, was man auch daran ablesen kann, dass nur noch die Gitarristin Theresa Wayman überhaupt in L.A. lebt. Bassistin Jenny Lee Lindberg ist nach Salt Lake City, Utah, gezogen, Emily Kokal nach Eugene, Oregon, Stella Mozgawa (dritte Schlagzeugerin) hat es während der Pandemie sogar zurück in ihre australische Heimat verschlagen. Kurz vor unserem Gespräch ist nun «Radiate Like This» erschienen, das vierte Warpaint-Album.

Nach der längsten Pause ihrer bisherigen Karriere befindet sich die Band auf Tournee und spielt am Abend des Interviews ein ausverkauftes Konzert in Berlin. Eigentlich wollten wir mit Emily Kokal über dieses neue Album sprechen, aber es wurde auch ein Gespräch über das Gelingen von Demokratie, im Grossen wie im Kleinen, die Vorzüge des Landlebens und über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Rockstars.

Zunächst läuft Emilys zweijährige Tochter Frances noch vergnügt durch den Backstageraum, in den wir uns zurückgezogen haben. Dann betritt ihr ebenfalls mittourender Papa, der DJ und Musiker Deafmute, den Raum und nimmt die Kleine mit zum Spielen. Das Gespräch kann beginnen.

annabelle: Emily Kokal, wir müssen über Veränderungen sprechen. Die offensichtlichste lief gerade noch durch den Raum: ihre zweijährige Tochter. Ist sie während der gesamten Tournee dabei oder nur heute?
Emily Kokal: die ganze Tour. Wir haben einfach gedacht: Nehmen wir sie mal mit und sehen, wie es läuft – und bislang ging es erstaunlich gut. Kinder mögen es lebendig, Veränderung finden sie interessant. Natürlich hört man immer wieder, wie wichtig es für Kinder sei, in einem stabilen häuslichen Umfeld aufzuwachsen. Aber diese Auffassung teile ich nicht unbedingt.

Vor ein paar Wochen habe ich mit der Sängerin Florence Welch von Florence + the Machine gesprochen. Sie wünscht sich eine Familie, hat aber Angst vor der Doppelbelastung und den Auswirkungen auf ihre Karriere …
Richten Sie ihr aus, sie soll auf jeden Fall weiterhin Angst haben. Man sollte das nicht romantisieren. Es kann funktionieren, wie wir es machen, aber es ist auch wahnsinnig anstrengend. Ich habe überhaupt keine Zeit für mich auf dieser Tour und komme kaum jemals zur Ruhe.

Die Familie ist nicht die einzige gravierende Veränderung in Ihrem Leben: Drei von vier Warpaint-Musikerinnen leben nicht mehr in Los Angeles. Dabei waren Sie doch diese unzertrennliche L.A.-Gang. Was ist passiert?
Ich schätze, wir sind einfach älter geworden. Als wir noch alle in L.A. wohnten, widmeten wir jede Sekunde unseres Lebens ausschliesslich der Band, darüber hinaus hatten wir kein Privatleben. Das hat sich geändert, weil es sich irgendwann ändern musste.

Wie viel hatten die Umzüge mit Los Angeles selbst zu tun?
L.A. hält einen permanent auf Trab und lenkt ab. Diese Stadt fordert eine Menge Aufmerksamkeit. Selbst das Wetter ist wie ein stiller Vorwurf, doch gefälligst vor die Tür zu gehen. In Oregon habe ich niemals Angst, etwas zu verpassen, es gibt kein Fomo mehr in meinem Leben (lacht). Für meine Kreativität war der Umzug essenziell. Als ich dann während der Pandemie Mutter geworden bin, habe ich dieses Umfeld sehr genossen. Bereits neun Monate bevor ich schwanger wurde, hatte ich aufgehört zu trinken und auszugehen, dadurch war ich sowieso schon viel positiver gestimmt.

Weil Sie damals bereits eine Familie geplant hatten?
Überhaupt nicht. Ich hatte gar nicht vor, schwanger zu werden. Ich war bereits 39 und das Thema spielte keine grosse Rolle. Das hat sich einfach so ergeben. Ich habe aufgehört zu trinken, weil ich Veränderung in meinem Leben wollte.

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«Seit ich auf Alkohol verzichte, bin ich noch penibler, ein verdammter Kontrollfreak»

Hatten Sie denn ernsthafte Probleme mit Alkohol?
Nicht in dem Sinne, dass ich Alkoholikerin gewesen wäre. Es war einfach ein Lebensstil, unter dem meine professionelle Einstellung als Musikerin ein bisschen gelitten hat. Ich habe meine Stimme ziemlich ruiniert mit diesen ganzen Tourneen, den vielen Zigaretten, den Drinks und dem permanenten Gelaber vor und nach den Konzerten. In meiner Branche ist es einfach vollkommen normal, dass alle permanent trinken.

Wie leicht fällt Ihnen der Verzicht?
Ich bin eigentlich eine regelrechte Sozialphobikerin, Alkohol hat das abgemildert. Nach langen Arbeitstagen und auf den Tourneen hat er mir ein bisschen Entspannung verschafft. Darin liegt aber ja auch schon ein problematisches Konsummuster. Nun muss ich diese Lücke irgendwie füllen.

Was unternehmen Sie diesbezüglich?
Ich bin jetzt sogar noch besessener, was meine Kunst betrifft. Penibel, ein verdammter Kontrollfreak (lacht). Meine Arbeitswut wurde zusätzlich angefacht. Und dann war es mir sehr wichtig, die Schwangerschaft bewusst und gesund zu erleben.

Eugene ist die Stadt Ihrer Jugend, der Sie nach der Schule gar nicht schnell genug den Rücken kehren konnten, wie Sie mir einmal erzählt haben. Wie sind Sie nun doch wieder dort gelandet?
Mit 18 gab es nichts Wichtigeres für mich, als mich dem Einfluss meiner Mutter zu entziehen. Ich wollte einfach unabhängig sein. Aber Eugene selbst habe ich immer geliebt, ich war all die Jahre über jeden Sommer dort, auf einem Hippie-Festival namens Oregon Country Fair. Man nimmt Acid und erinnert sich, wer man ist und wo man herkommt.

Dieses Festival ist allerdings nur einmal im Jahr.
Für meine Tochter ist Oregon die ideale Umgebung. Es ist wunderschön dort, die Natur ist einmalig. Und all meine alten Freund:innen wohnen in der Gegend und haben inzwischen ebenfalls Kinder. Die Entscheidung ist mir nicht schwergefallen.

Wie sehr hat sich Ihre Freundschaft verändert, seit Sie nicht mehr alle in derselben Stadt wohnen?
Zwischen Theresa und mir hat sich nichts geändert. Wir haben immer noch täglich Kontakt miteinander, in der Frühphase mit dem Baby hat sie mich regelmässig in Oregon besucht.

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Und die anderen?
Jen habe ich auch ab und zu gesehen, aber Stella tatsächlich zum letzten Mal im achten Schwangerschaftsmonat – und dann erst wieder vor ein paar Wochen. Es hat sich schon ziemlich seltsam angefühlt, dass meine Tochter sie erst mit zwei Jahren kennengelernt hat. Aber diese Zeit war wichtig für uns. Und unsere Freundschaft – oder besser: Schwesternschaft – hat sie unbeschadet überstanden. Wir sind und bleiben eine Familie, daran lässt sich nicht rütteln.

Auch die Musik auf Ihrem neuen Album «Radiate Like This» klingt, als würden sie alle immer noch im selben Haus wohnen.
Das liegt daran, dass wir die Grundlagen des Albums bereits vor der Pandemie in zwei Studios in Los Angeles eingespielt hatten. Wir unterbrachen die Aufnahmen im Februar 2020, weil meine Tochter im März zur Welt kommen sollte. Danach wollten wir weitermachen, was dann aber wegen der Pandemie nicht mehr möglich war. Den Rest haben Theresa und ich dann jeweils zu Hause gemacht und uns per Zoom abgestimmt.

Die Gesänge fliessen auf eine Weise ineinander, dass es keine klare Sprecherrinnenrolle gibt, was bedeutet: Wenn Sie ein Liebeslied singen, weiss man nicht so genau, um wessen Liebe es gerade geht.
Dieser Effekt ergibt sich aus der Tatsache, dass Theresa und ich schon so wahnsinnig lang miteinander befreundet sind. Wir kennen uns, seit wir elf waren, und sind wie Yin und Yang. Dadurch kommen auch unsere Stimmen aus einer ähnlichen Perspektive.

«Die Band ist keine Demokratie. Eine von uns muss den Hut aufhaben»

Ist Warpaint also tatsächlich eine Band ohne klar definierte Anführerin oder starre Hierarchien, ein demokratischer Mikrokosmos?
Das entspricht nicht ganz der Realität. Ich würde die Band nicht als Demokratie im klassischen Sinne bezeichnen. Natürlich müssen alle mit einer Entscheidung einverstanden sein. Aber eine von uns muss den Hut aufhaben, sonst funktioniert es nicht. Wir verteilen Zuständigkeiten innerhalb der Band.

Demokratie ist überhaupt schwere Arbeit, das gilt im Grossen wie im Kleinen.
Das ist absolut wahr. Eine Menge Leute aus meinem Umfeld, die sich für Demokratie und Gleichberechtigung einsetzen, sind unfähig, ihre eigenen Beziehungen demokratisch zu führen. Das ist auch eine spirituelle Frage.

Wie meinen Sie das?
Wir alle wollen gesehen werden für das, was wir tun und was wir sind – und vergessen dabei oft das Gleichgewicht zwischen unseren eigenen Bedürfnissen und denen der anderen. Was in den USA mit Trump an die Oberfläche gekommen ist, war vorher die ganze Zeit bereits da, es hatte sich nur versteckt und auf den richtigen Moment gewartet. Sonst hätte diese Bewegung nicht so schnell so gross werden können. Ich denke, es hat etwas damit zu tun, dass der amerikanische Traum von Anfang an ein Zerrbild war. Er beruht auf Individualismus, einem Konzept, das inhärente Grenzen hat.

Wie in einer Band erfordert eine gesunde Demokratie auch im Grossen einen permanenten Kampf, der jeden Tag aufs Neue ausgetragen werden muss, ist es nicht so?
Eltern sollten ihren Kindern folgende, eigentlich banale Einsicht vermitteln: «Mir geht es nur gut, wenn es meinem Gegenüber gut geht.» Dass es dem Leben einen tieferen Sinn geben kann, sich um andere und nicht nur um sich selbst zu kümmern, ist etwas, das man in einer Band wie Warpaint sehr gut lernen kann. Und durch Elternschaft: Ich war zuvor ein selbstsüchtiger Mensch und habe keinerlei Verantwortung für irgendjemanden ausser mir selbst übernommen. Wenn dann plötzlich ein anderer Mensch in deinem Leben ist, kannst du diesen Weg nicht mehr weitergehen.

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