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Free Spirits – Das Sundance Film Festival

Kultur

Free Spirits – Das Sundance Film Festival

  • Text: Frank HeerFotos: Tommaso Mei

Als Sundance Kid wurde Robert Redford berühmt. Filmgeschichte aber schrieb er als Mäzen des gleichnamigen Festivals in Utah. Die Reportage vom grossen Indie-Spektakel jenseits von Hollywood.

Ende Januar ist für den Abschleppdienst von Park City so was wie Weihnachten. Man braucht die Falschparkierer gar nicht erst zu suchen. Ihre Autos stehen überall. Denn auch für sie ist Ende Januar Weihnachten. Dann findet in Park City das grösste und wichtigste Filmfestival in den USA statt: Sundance.

Es gibt ältere, schillerndere Namen: Cannes, Venedig, Berlin. Doch 34 Jahre nach seiner Gründung ist das Sundance Film Festival in Park City noch immer wichtigste Projektionsfläche für Filme, die nicht in Hollywood entstanden sind.

Das Depot des Abschleppdiensts liegt vier Meilen ausserhalb des kleinen Skiörtchens in den Bergen von Utah. Für 200 Dollar bekommt man hier, am Rand der Prärie, sein beschlagnahmtes Vehikel zurück. Für das Geld kann man sich während des Festivals 15 Filme an einem Tag ansehen. 117 stehen auf dem Programm, 90 davon sind Premieren. Die wenigsten stammen von bekannten Regisseuren. Tinseltown, wie die grossen Studios in L. A. verächtlich genannt werden, muss draussen bleiben. So will es die Sundance-Doktrin.

Dabei verdankt das «grösste unabhängige Filmfestival der Welt» seinen Erfolg einer Hollywood-Ikone: Robert Redford. Der heute 75-jährige Schauspieler, Umweltaktivist und Hotelier hatte in Utah Ende der Sechzigerjahre ein Bergtal voller rauschender Fichten und Bäche erworben, umringt von schneebedeckten Gipfeln. Er liess rustikale Hütten mit gediegenen Gästebetten in die Westernlandschaft streuen, ein Biorestaurant eröffnen, Skilifte bauen und nannte die 4-Sterne-Ranch mit ökologischem Gütesiegel Sundance.

Redford war nach Filmen wie «Butch Cassidy and the Sundance Kid» und «All the President’s Men» auf dem Zenit seiner Karriere, «sexiest man alive» und bestbezahlter Schauspieler Hollywoods, als er 1978 von einem Trio junger Filmfans aus Salt Lake City hörte, die gerade dabei waren, ein kleines Filmfestival zu organisieren. Es war die Zeit von «Star Wars», «Rocky» und «Der weisse Hai», Hollywood strebte das totale Blockbusterkino an, gleichzeitig traten junge Regisseure wie David Lynch oder John Waters aus dem Schatten der grossen Studios. Sie zeigten handgemachte Filme statt Zelluloid aus der Konserve: Das war es, was die Festivalorganisatoren nach Salt Lake City holen wollten, echtes, unverbrauchtes Kino.

«Ich hasse Filmfestivals»

Einer von ihnen war Sterling van Wagenen, selbst ein junger Filmemacher, der für das Kulturdepartment von Utah arbeitete. Der heute 65-Jährige erinnert sich bei einer Tasse Tee an sein erstes Telefongespräch mit Redford. «Er sagte: ‹Ich hasse Filmfestivals, aber euer Plan ist eine gute Sache für Utah und das unabhängige Kino. Ich unterstütze euch, wo ich kann.›» Das Telefonat katapultierte Van Wagenens Pläne in eine galaktische Dimension. Und für Redford bot sich die Gelegenheit, in seine Lieblingsrolle als Hollywoodrebell und Desperado für das Independent-Kino zu schlüpfen.

Die erste Ausgabe war ein kommerzieller Flop. Van Wagenen machte ein Defizit von 30 000 Dollar. «Ich dachte, nun ja, dafür haben wir ja Redford an Bord. Ich zeigte ihm erst all die guten Presseartikel, dann sagte ich: ‹Übrigens, uns fehlen 30 000 Dollar.› Natürlich erwartete ich, dass mir Bob sofort einen Check schreiben würde. Stattdessen gab er mir die Nummer eines mächtigen Produzenten in Hollywood. Ich rief ihn an, bestellte schöne Grüsse von Redford, ein paar Tage später kamen gleich mehrere Checks hereingeflogen.»

Park City liegt eine knappe Autostunde von Salt Lake City entfernt. 8000 Menschen leben hier gewöhnlich, während des Festivals sind es 58 000. Die historische Main Street hat man nach einem Dutzend Bars, Restaurants und Krimskramsläden hinter viktorianischen Fassaden in zehn Minuten abgestiefelt. Ende der Fünfzigerjahre, als die umliegenden Gold- und Silberminen versiegten, wäre der kleine Ort ums Barthaar zur Geisterstadt verkommen, hätte nicht ein cleverer Lokalpolitiker mit dem Slogan «Bester Schnee auf Erden» in den Wintersport investiert. Auch Sterling van Wagenens Filmfestival in Salt Lake City, das damals noch etwas umständlich Utah/U. S. Film & Video Festival hiess, wäre längst Geschichte, hätte sein Vorstandsvorsitzender, Robert Redford, 1981 nicht angeregt, damit ins touristisch viel attraktivere Park City zu ziehen. Um Hollywood nicht nur auf die Piste, sondern auch an die Premieren zu locken.

«Hollywood interessierte weder mich noch Redford», sagt Van Wagenen in einem Bistro an der Main Street. «Wir waren hungrig nach guten Low-Budget-Filmen, glaubten, dass die monolithische Filmkultur Hollywoods dem Ende entgegentaumelte. Trotzdem brauchten wir das Geld der Industrie. Dass wir es dabei mit einem Interessenkonflikt zu tun hatten, verdrängten wir.»

Plötzlich war Sundance der neue, funkelnde Fixstern am Festivalhimmel. Er stand für radikales Politkino, harte Sozial-Dokus, Botschaften statt Materialschlachten, neue Formate und junge Talente. Und Robert Redford engagierte sich mit der Gründung seiner Nonprofitorganisation Sundance Institute in der Filmförderung: Auf seiner Ranch verkuppelt er noch heute junge Regisseure und Produzenten mit erfahrenen Profis zum Ideenaustausch. Quentin Tarantino feilte hier an «Reservoir Dogs», Miranda July an «Me and You and Everyone We Know».

Vor dem Schalter des Abschleppdiensts hat sich eine Schlange gebildet: junge Leute, die schwarze Brillen, gestrickte Schals, lustige Mützen und Winterstiefel von Caribou tragen. Keine Wintersportler, sondern Movie Buffs aus New York, Los Angeles, Chicago: Aficionados, die jeden Film von und mit John Cassavetes in chronologischer Reihenfolge aufzählen können. Sie blättern gereizt im Sundance-Katalog, denn natürlich sässen sie lieber im Kino als beim Abschleppdienst.

In Park City zu sein, ist eine Frage der Positionierung. Ein Ausdruck von Geschmack. Man bekennt Farbe und Zugehörigkeit. Fachwissen und Ausdauer. Hier wurden Regisseure wie Jim Jarmusch und Quentin Tarantino entdeckt, kleine Filme wie «The Blair Witch Project» oder «Little Miss Sunshine» zu Welterfolgen gehypt. Gleichzeitig wächst am Festival seit Jahren die Kritik. Sie gilt nicht dem Programm, denn wer bei dieser Auswahl nichts für sich entdeckt, stellt sich mutwillig quer: Neues von alten Bekannten wie Spike Lee («Red Hook Summer») oder Stephen Frears («Lay the Favorite»), den Newcomer Benh Zeitlin mit «Beasts of the Southern Wild», die schräge Doku «The Queen of Versailles» von Lauren Greenfield und so weiter und so fort. Der Missmut richtet sich gegen die Ausbeutung durch den Kommerz.

«Auch wenn Redford nicht müde wird, das Independent-Kino zu beschwören», sagt Van Wagenen, «sitzt heute im Vorstand des Sundance-Komitees kein einziger unabhängiger Filmemacher mehr. Die Szene wird geprägt von mächtigen Studioagenten, Anwälten, Stars und Talentscouts auf der Suche nach dem nächsten Hype.»

So betrachtet hatte Sundance die Unschuld schon 1989 verloren, als Steven Soderbergh mit «Sex, Lies, and Videotape» über Nacht zum Star eines neuen Autorenkinos wurde. Hollywood rieb sich die Augen, denn Soderbergh zeigte, was man in Los Angeles nicht mehr für möglich hielt: dass sich mit schmalem Budget und B-Klasse-Schauspielern grosses Blockbusterkino machen lässt. In Park City herrschte drei Jahrzehnte nach Schliessung der letzten Mine plötzlich wieder Goldgräberstimmung.

Olivier Père, Direktor des Filmfestival Locarno, sitzt beim Frühstück im Yarrow Hotel an der Park Avenue. Er ist wie jedes Jahr beruflich hier: «Soderbergh, aber auch Quentin Tarantino mit ‹Reservoir Dogs› haben die unabhängige Szene umgekrempelt. Dann kam Hollywood ins Spiel, und Sundance wurde zum wichtigsten Jungfilmerjahrmarkt überhaupt. Klar, früher war Sundance radikaler, trotzdem gibt es hier noch heute Spannendes und Wichtiges zu entdecken. Mein diesjähriger Favorit: ‹Wrong› von Quentin Dupieux.»

Lauernde Fotografen vor Hoteleingängen.

Über Nacht hat ein Blizzard die Zufahrtsstrassen lahmgelegt und einen halben Meter Schnee auf Park City geworfen. Die Landschaft sieht aus wie in Sergio Corbuccis frostigem Winter-Western «Il grande silenzio». Mit dem Unterschied, dass sich nicht Jean-Louis Trintignant auf seinem Pferd durch den Schnee kämpft, sondern eine Blechlawine aus Bussen und SUVs. Auf der Main Street patrouillieren Schaulustige aus Salt Lake City, in der Hoffnung, mit ihren Handys einen Star beim Moonboots-Shoppen zu erwischen. Die Chancen, berühmte Schauspieler auf der Strasse zu sehen, sind grösser als auf der Leinwand. Denn selbst der obskurste Kurzfilm ist seit Monaten ausverkauft. Wer sich in Geduld erproben will, stellt sich frühmorgens in eine Schlange vor der Kinokasse und zieht eine Standby-Nummer. Eine halbe Stunde vor Filmstart beginnt das Bangen um leer gebliebene Sitze. Das ist harte, nervenaufreibende Arbeit, die eigentlich nur wahre Movie Buffs bewältigen können. Vor dem Egyptian Theater steht Sienna Miller mit ulkiger Sonnenbrille und weissem Skipullover und wartet auf ein Taxi. An der Ecke vor der Bing Bar ein paar aufgebrezelte Schneehasen, die denken, sie seien in Cannes. Ein Cowboy auf dem Weg zum nächsten Rodeo. Frierende Hipster hetzen in ungeeignetem Schuhwerk durch den Matsch. An der Pressekonferenz zu seinem neuen Spielfilm «Red Hook Summer» holt der New Yorker Regisseur Spike Lee («Do the Right Thing») zu einer Tirade aus: «Hollywood weiss nichts über Schwarze. Gar nichts. Und ich habe keine Lust, mir von diesen Motherfuckern erklären zu lassen, wie ein schwarzer Junge in Red Hook lebt.» Lauernde Fotografen vor Hoteleingängen. Produzenten bellen in Smartphones. Eine Bluegrassband im Schneegestöber. Falsch parkierte Pick-up-Trucks und piepsende Tieflflader bei der Abschlepparbeit. 4000 akkreditierte Journalisten. Der Komiker Steve Carell («Crazy, Stupid, Love») huscht, von der Menge nicht erkannt, in ein Sportbekleidungsgeschäft.

Unsichtbar, aber in Town: Ben Stiller, Sigourney Weaver, Liv Tyler, Bradley Cooper, Ice-T, Kirsten Dunst, Scarlett Johansson, Richard Gene, Chris Rock, William H. Macy. Die Managerin vom Main Street Deli erzählt: «Letztes Jahr kam Angelina Jolie in mein Café. Der ganze Laden erstarrte. Niemand konnte es fassen, dass die einfach so bei uns reinspaziert und sich ein Truthahnsandwich bestellt.»

Die begehrteste Party wird zur Premiere von «The Artist Is Present» geschmissen, einem Dokfilm über die serbische Künstlerin Marina Abramovic: eine «silent party», bei der die Gäste (unter ihnen auch Redford mit seinen Enkeln) in weissen Overalls eine Stunde lang schweigend Prosecco nippen.

Sterling van Wagenen ist 1999 aus der Festivalleitung ausgestiegen. Weil er sich auf seine eigene Karriere als Produzent konzentrieren wollte. Und weil Sundance nicht mehr war, was es einmal war. «Ich empfinde Stolz darüber, was wir erreicht haben, keinen Gram. Gleichzeitig sehe ich, wie Hollywood das Festival infiltriert. Und ich weiss, dass niemand mehr als Bob darunter leidet: Der Starrummel ist ihm zuwider. Er hasst Hollywood. Doch es geht nicht ohne.»

An der Pressekonferenz zur diesjährigen Eröffnung geisselt Robert Redford, braun gebrannt und ewig blond, die republikanische Schlammschlacht ums Präsidentenamt. Dann bekräftigt er die Unabhängigkeit von Sundance: «Ich weiss von keinem vergleichbaren Festival.» Noch immer hält man den Atem an, wenn er den Raum betritt, doch er ist ein einsamer Kämpfer auf verlorenem Posten, denn am Ende geht es allen ums Geschäft. Er schilt die Trittbrettfahrer. Mag es nicht, dass in Park City seit 17 Jahren zur besten Sundance-Zeit ein Antifestival namens Slamdance stattfindet, nach Angaben der Organisatoren «ein Festival für Filme, die in Sundance nicht gezeigt werden». Doch Redford wäre ein schlechter Advokat des Independent-Kinos, würde er rechtliche Schritte gegen die anarchistische Konkurrenz unternehmen. Schliesslich kämpft man für die gleiche Sache. In den ersten Jahren fand Slamdance in einer stillgelegten Silbermine statt, heute an bester Lage im «Treasure Mountain Inn», einem altmodischen Hotel an der Main Street. Und längst gucken sich hier nicht mehr nur Fans des Underground-Kinos Filme auf improvisierten Leinwänden an. Einzelne Slamdance-Premieren sind so schnell ausverkauft wie bei der grossen Schwester.
Auch mit schillernden Namen wird nicht gegeizt: Nach dem Screening ihres gemeinsamen Dokfilms «Neil Young Journeys» plaudern am Sonntagmorgen beim «Coffee Talk» Neil Young und Jonathan Demme («Silence of the Lambs») mit jungen Filmern und Musikern.

Demme: «Youtube ist der Ort, wo heute das spannendste Filmschaffen zu sehen ist.»
Young: «Dazu habe ich eine komplett andere Meinung. Die Qualität ist katastrophal.»
Demme: «Es geht doch nicht um die Bildqualität, sondern um die Message.»
Young: «Von mir aus, aber die Tonspuren auf Youtube klingen scheisse.»
Demme (seufzt): «Okay, angenommen, die Tonspur wäre top: Könntest du mit einer wichtigen Message in schlechter Bildqualität leben?»
Young: «Wenn es sein muss.»
Demme: «Danke, Neil.»

Dass bei Slamdance alles ein wenig Rock’n’Roll ist, zeigt auch die Eröffnungsparty, zu der man zwar in einer langen Schlange stehen muss, nicht aber auf einer VIP-Liste, um eingelassen zu werden. Die Musik ist laut, die Drinks sind billig, die Burlesque-Tänzerinnen in Fahrt. Hollywoodagenten feiern mit Sicherheit woanders. Doch sie wissen auch, dass Marc Forster 1995 für seinen Low-Budget-Film «Loungers» den Slamdance-Publikumspreis gewonnen hatte. Danach drehte er «Monster’s Ball»: für Hollywood. Die fetten Handshakes finden freilich noch immer bei Sundance Bob statt. «The Surrogate», ein Beziehungsdrama des Australiers Ben Lewin über einen behinderten Mann, der eine Sextherapeutin zurate zieht, wurde dieses Jahr für sechs Millionen Dollar an Fox Searchlight verkauft. Hollywood hat seinen nächsten Soderbergh.

The Winner Is …


Der surreale Spielfilm «Beasts of the Southern Wild» (Bild) von Benh Zeitlin und der Dokfilm «The House I Live In» von Eugene Jarecki über Amerikas Kampf gegen die Drogen haben die wichtigsten Preise des Sundance Film Festival 2012 gewonnen. Die Schweiz war mit zwei Produktionen vertreten: mit dem Kurzfilm «Stick Climbing» von Daniel Zimmermann und der Koproduktion «Corpo celeste» der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher.

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1.

Kleiner Ort im Grossformat: Park City

2.

Einfahrt der Stretch-Limousinen

3.

Westernstil: Redfords Sundance-Biorestaurant

4.

Provinzcharme: Jagdtrophäe im Yarrow Hotel

5.

Anarcho-Antifestival: Slamdance

6.

Schnell abgestiefelt: Die Main Street

7.

Das lokale Baseball-Team hat seine eigene Muse

8.

9.

Festivalgründer Sterling van Wagenen

10.

Auch Occupy war diesmal dabei

11.

12.

Dennis Haysbert («24») mit Begleitung

13.

To be or not to be a Hipster

14.

In den Bars läufts zu Festivalzeiten rund

15.

Swiss Guest: Olivier Père

16.

Ruhe vor dem Sturm aufs Egyptian

17.

Strassenmusiker

18.

Obs noch Plätze hat?

19.

Jonathan Demme, Neil Young (M.)

20.

«Wrong» von Quentin Dupieux