Werbung
Kritik zur Serie «Die Wege des Herrn»: Goodbye, Neffe schwarzes Schaf!

Serien & Filme 

Kritik zur Serie «Die Wege des Herrn»: Goodbye, Neffe schwarzes Schaf!

  • Text: Claudia Senn; Foto: DR

Ein Todesfall in der Familie inspiriert Claudia Senn dazu, die hochkarätige Serie «Die Wege des Herrn» zu besprechen. Unbedingt empfehlenswert, auch unter erfreulicheren Umständen.

Vor ein paar Tagen ist mein Neffe gestorben, er wurde nur 47 Jahre alt. Es ist, als hätte sein Tod eine Tür in meinem Gedächtnis aufgestossen: Alle Erinnerungen an ihn sind wieder da, glasklar und taufrisch. Bei jeder unserer Begegnungen begrüsste er mich mit einem euphorischen «Tanti!», was Aussenstehenden wie ein absurder Witz vorkommen musste, denn der Altersunterschied zwischen uns beiden betrug bloss wenige Jahre. Ich blieb ihm nichts schuldig und nannte ihn «Neffe schwarzes Schaf». Er mochte diesen zärtlich gemeinten Kosenamen. Whatsapp-Nachrichten an mich unterschrieb er stets mit «Sheepy».

Sheepy hatte als Teenager auf der Suche nach seinem Weg durchs Leben eine falsche Abzweigung genommen und nie mehr den Pfad zurückgefunden. Er war drogen- und alkoholsüchtig, über dreissig Jahre lang. Seine Eltern haben ihn niemals aufgegeben. Sie schleppten ihn in jede erdenkliche Suchtklinik, einmal arbeitete er sogar für ein ganzes Jahr auf einer Therapiefarm in Namibia, wo er nach seiner Entgiftung Leopardenbabies kraulte und plötzlich so etwas wie Zukunftspläne schmiedete. Doch schon auf dem Heimweg vom Flughafen sprang er an einer roten Ampel aus dem Auto, um auf direktem Weg zu seinem Dealer zu eilen. Sheepy wollte – oder konnte – nicht aufhören mit dem Suff und den Drogen. Die letzten Jahre verbrachte er in einem Pflegeheim, wo sein Körper langsam aufgab wie der eines gebrochenen alten Mannes.

Was macht es aus, ob jemand seinen Weg findet oder nicht? Welche Kräfte, Umstände, Schicksalsschläge oder glücklichen Zufälle sorgen dafür, dass ein Leben gelingt? Darum geht es auch in der grossartigen dänischen Fernsehserie «Die Wege des Herrn», von der es nun eine zweite Staffel gibt. Sie stammt aus der Feder von Adam Price, dem wir auch «Borgen» verdanken, eine der stilbildenden Serien aus Skandinavien. Einer der Protagonisten – zufällig meine Lieblingsfigur – gleicht Sheepy aufs Haar und trägt sogar denselben Vornamen. Ich glaube, er würde sich in ihm wiedererkennen.

Am Ende muss eben doch jeder seinen Weg selbst finden – dazu gehört auch das Recht zu scheitern

«Die Wege des Herrn» ist ein grosses Familienepos. Es geht darin viel um Religion, denn der ebenso charismatische wie tyrannische Vater, um den der Rest der Familie kreist wie Planeten um ein mächtiges Zentralgestirn, ist Pfarrer – in einer Kirche, der die Schäfchen genauso davonlaufen wie überall sonst in Westeuropa. Lars Mikkelsen (der Bruder von Mads) spielt diesen selbstherrlichen Kontrollfreak so abgründig gut, dass er für seine Rolle einen Emmy als bester Hauptdarsteller bekommen hat. Wie so oft ist die Religion auch hier nur ein Vehikel, um die eigenen Machtansprüche und Moralvorstellungen durchzusetzen. Doch die Ehefrau und der ältere Sohn verweigern sich den Erwartungen des Übervaters. Bald bröckelt die Fassade der Familie an allen Ecken und Enden, und Gott ist da auch keine Hilfe. Denn am Ende muss eben doch jeder seinen Weg selbst finden. Dazu gehört auch das Recht zu scheitern.

Sheepy hatte sich gewünscht, dass seine Asche im Zürichsee verstreut wird und wir uns zum Apéro treffen, statt eine konventionelle Beerdigung abzuhalten. Was für eine wunderbare Idee! Ich freue mich fast schon auf dieses letzte kleine Fest zu seinen Ehren, an dem noch einmal alle Geschichten erzählt werden, die wir mit Sheepy erlebt haben. Die traurigen, die überraschenden, die ernüchternden, aber auch die lustigen, denn mein Neffe konnte manchmal umwerfend witzig sein. Cheers, Sheepy, ich erhebe mein Glas auf dich. Hoffentlich ist es schön da, wo du jetzt bist. Du wirst uns fehlen.

Beide Staffeln von «Die Wege des Herrn» sind auf DVD erhältlich sowie mit gewissen Einschränkungen auf iTunes und Amazon Prime Video.

PS: Netflix hat bei Adam Price und beim dänischen Fernsehen soeben eine vierte Staffel von «Borgen» in Auftrag gegeben. Ausstrahlung: frühestens 2022.

Werbung

1.

«Die Wege des Herrn» stammt aus der Feder von Adam Price.

2.

Lars Mikkelsen (der Bruder von Mads) spielt den selbstherrlichen Kontrollfreak Johannes Krogh so abgründig gut, dass er für seine Rolle einen Emmy als bester Hauptdarsteller bekommen hat.