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Der Antistar im Interview: Schauspielerin Sabine Timoteo

Leben

Der Antistar im Interview: Schauspielerin Sabine Timoteo

  • Text: Frank Heer; Fotos: Ruben Hollinger 

Viel beschäftigt und hochgelobt: Die Berner Schauspielerin Sabine Timoteo in einem sehr persönlichen Gespräch über die dunkle Kraft hinter ihrer Kunst.

Sabine Timoteo steht in ihrer kleinen Küche, die auch ein kleines Wohnzimmer ist und keinen Küchentisch hat, dafür ein altes Sofa vor einem alten Cocktailtisch. Sie balanciert auf dem rechten Bein, Arm über dem Kopf, Finger in den Haaren, Nägel schwarz lackiert. Sie redet, und ihr Körper redet mit, federnd, schaukelnd, sich verbiegend.

Eigentlich sind wir zu Besuch, um über ihren neuen Film «Driften» zu sprechen; der Journalist sitzend, sie stehend, doch so weit wird es nicht kommen. Ein Interview mit der Schauspielerin Sabine Timoteo folgt keinem Fragebogen und kann verschlungene, dunkle Wege gehen. Sie trägt Jeans mit blauem Leopardenmuster, Pulli schwarz, Socken schwarz, das Haar zu einem Zopf geflochten, er fällt ihr bis zum Po (für einen Film, den sie in Lettland in lettischer Sprache dreht). Dann die Stirn, ein Stimmungsseismograf, von Falten zerknittert, von Heiterkeit geglättet.

Sabine Timoteo hat in über fünfzig Filmen mitgespielt, meistens in Deutschland, aber auch in Frankreich, Italien, Holland und der Schweiz. Vor einer Stunde drehte sie mit Regisseur Res Balzli eine Szene unten an der Aare für einen Film, der nächstes Jahr ins Kino kommt. «Schon komisch, es ist mein erster Film, der in Bern spielt», sagt die Bernerin. «Ich kann mit dem Bus zur Arbeit fahren.» Das Interview findet während der Drehpause in ihrer Wohnung im Lorraine-Quartier statt. Zwei Zimmer, Küche, Altbau, unsaniert. Matratze mit zerwühlter Decke und Topfpflanze auf nacktem Parkett. Im Arbeitszimmer eine mit Scherenschnitten übersäte Wand, federleichte Kunstwerke, entstanden aus Kritzeleien beim Lernen von Rollen. Zwischen zwei Türen stapeln sich Bücher. «Hier ist mein Refugium», sagt die Schauspielerin, geboren 1975 in Bern, aufgewachsen in den USA und Lausanne, Mädchenname Hagenbüchle, «einen Stock tiefer wohnen meine zwei Töchter und ihr Vater.»

Sabine Timoteo: tanzen, kochen, schauspielern

Der «Coop-Zeitung» sagte sie: «Ich mache nur Filme, bei denen man nicht berühmt wird. Berühmtsein ist wie Gift.» Dem gegenüber stehen Auszeichnungen wie der Bronzene Leopard, zweimal der Schweizer Filmpreis, der Adolph-Grimme-Preis und viel Kritikerlob. Ursprünglich wollte sie tanzen. 1994 schloss sie die Schweizerische Ballettberufsschule ab und folgte dem Choreografen Heinz Spoerli an die Deutsche Oper in Düsseldorf. Nach zwei Monaten warf sie das Handtuch, tourte mit der radikalen Butoh-Tanztruppe Compagnie Ariadone durch die Lande und schlitterte 1996 eher widerwillig in ihren ersten Spielfilm, «L’amour, l’argent, l’amour». Ein Film über die Kälte der Liebe, in dem Timoteo eine junge Prostituierte spielt. Physisch und psychisch erschöpft kehrte sie nach Bern zurück, um im Restaurant Harmonie eine dreijährige Lehre als Köchin zu absolvieren – mit Abschlussnote 5.7. Der Film blieb dann trotzdem ihr Schicksal: Sabine Timoteo gehört heute zu den meistbeschäftigten Schauspielerinnen der Schweiz.

annabelle: Sabine Timoteo, Sie werden Ende März vierzig. Wie sieht eine Rückblende auf Ihr Leben aus?
Sabine Timoteo: Verschwommen. Blass. Viele Eindrücke, keine klaren Umrisse.

Mit vierzig drängt es die meisten Menschen zu einer Bestandsaufnahme: Wo stehe ich, wohin wird mich das Leben noch führen?
Das beschäftigt mich enorm. Aber dazu muss man wissen, dass in meinem Leben krasse Dinge passiert sind. Wenn ich zurückblicke, darf ich mir auf die Schulter klopfen und sagen: Läck, du kommst von weit her, Meitschi.

Inwiefern?
Ich weiss nicht, ob das hierhergehört. Aber was solls. Entscheiden Sie, ob Sies schreiben wollen: Mit fünf Jahren wurde ich missbraucht, sexuell, okay? Der Mann filmte mich dabei. Ich hatte das jahrelang verdrängt, flüchtete mich ins Tanzen. Meine Eltern dachten: Unsere Tochter ist ein bisschen speziell, ein Künstlertyp halt …

Sie haben ihnen nichts erzählt?
Nein, ich dachte, das wäre nur in meinem Kopf. Bis ich mit 19 meinen ersten Kurzfilm drehte. Darin spielte ich eine Szene, in der ich körperlich bedrängt werde – vor laufender Kamera, wie damals, als ich fünf war. Alles kam wieder hoch, wie ein Flashback. Nach dem Dreh erzählte ich alles meiner Mutter. Sie konnte mir nicht helfen, auch wenn sie es versuchte.

Der Täter wurde nie bestraft?
Er konnte erst vor einigen Jahren identifiziert werden, nachdem ihn seine eigene Tochter angezeigt hatte. Ins Gefängnis kam er nicht, die Übergriffe waren verjährt. Ich höre, er soll in Behandlung sein. Aber eigentlich interessiert mich das nicht.

Wie gehen Sie damit um?
Es ist ein Teil meines Lebens. Ich habe mein Trauma zu einer Gabe gemacht. Das Tanzen und später der Film waren für mich Orte, wo ich mich sicher fühlte. Ich flüchtete mich in eine Kunstwelt, auch wenn es mich lange viel Überwindung kostete, vor eine Kamera zu treten. Warum taten Sie es dennoch? Um das Trauma zu bezwingen. Mit dem Resultat, dass mein Unbehagen etwas auslöste, was Regisseure interessant fanden. Eine gewisse Spannung, etwas, was man nur spielen kann, wenn man diese Erfahrung gemacht hat.

Filme drehen als reinigender Prozess?
Statt ständig über den Missbrauch nachzudenken, stelle ich meinen Körper der Kunst zur Verfügung. Anfänglich war das wie ein Ventil für den Hass, den ich gegenüber meinem Peiniger verspürte. Die Schauspielerei ist für mich auf jeden Fall besser als Psychoanalyse.

Ist das Schauspiel auch eine Realitätsflucht?
Finde ich nicht. Es ist meine Art, zu überleben. Ich stelle mich einer Geschichte zur Verfügung, die nicht meine Geschichte ist. Aber ich löse mich ja nicht in Luft auf. Ich entscheide nur, wofür ich meine Lebenszeit hergeben, welches Abenteuer ich erleben möchte.

Aber Sie können in das Leben eines fremden Menschen schlüpfen. Ist das keine kleine Flucht?
Nein, ich kann ja meinen Körper nicht verlassen, behalte meine Stimme, meine Gedanken. Klar, beim Dreh wirst du durch eine Rolle geschleust. Du weisst nicht, wie und ob du durchkommst, und es bleibt dir nichts übrig, als dich darauf einzulassen. Ich weiss, wie es ist, wenn man Sachen verdrängt. Durch das Schauspiel habe ich mir mein Leben wieder angeeignet. Ich konnte mich darin üben, mich auf schwierige Situationen einzulassen.

Ist es noch immer qualvoll, vor eine Kamera zu treten?
Ich falle nicht mehr auseinander. Und ich habe genügend Angebote, um es mir leisten zu können, nur noch das zu drehen, was mich interessiert. Dafür musste ich lange und hart an mir arbeiten. Wenn man eine Familie zu ernähren hat, bleibt man auf dem Boden. Man muss Entscheidungen treffen, die greifen. Es dreht sich nicht mehr alles um mich. Heute finde ich, dass ich den schönsten Beruf der Welt habe. Ich lache auch wieder viel öfter als früher: Es geht wieder!

Wie fühlen Sie sich in Ihrem Körper?
Gut. Es ist der Körper einer 40-jährigen Frau. Ich mag ihn, wie er ist. Ich halte nichts von Schönheitsidealen und verabscheue alles, was Frauen zum Objekt macht. Ich würde mich nie vor der Kamera ausziehen, wenn es nur um den Effekt ginge. Aber ich entblösse meinen Körper gern, wenn er einer Rolle dient, einer Geschichte, der Kunst.

Sie betonen oft, dass Sie auch leichte Rollen spielen können, also nicht nur «diese Gestörten», wie sie selbst schon sagten …
Was heisst schon «gestört»? Ich musste ja selbst schon oft hören, dass ich spinne. Ein Mensch gilt als gestört, wenn wir ihn nicht verstehen. Wir kleben ihm dieses Etikett an, damit wir ihn einordnen können. Man muss nicht alle Menschen verstehen. Ich verstehe nicht einmal all meine Rollen, die ich spiele. Ich nehme sie, wie sie sind.

Was haften bleibt, sind die seelisch versehrten Rollen, auch in Ihrem neuen Film «Driften». Sie haben ein Herz für gebrochene Frauen.
Sicher, Empathie ist ja auch mein wichtigstes Instrument. Ich konnte mich schon als Kind leicht in die Figuren hineinfühlen, die in den Geschichten vorkamen, die mir meine Mutter erzählte. Wenn ich ein Drehbuch lese und nichts empfinde, lasse ich es bleiben.

In Ihrem früheren Leben waren Sie eine erfolgreiche Balletttänzerin. Bis Sie mit 18 die Notbremse zogen. Warum?
Weil ich die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, die mit dem Tanzen verbunden sind. Ich musste anders mit meinem Körper umgehen, wenn ich nicht draufgehen wollte.

Kaum hatten Sie 1996 den ersten Spielfilm gedreht, gaben Sie die Schauspielerei auf, um eine Kochlehre zu absolvieren. Wieder ein harter Bruch.
Die Dreharbeiten zu «L’amour, l’argent, l’amour» waren so erschöpfend, dass ich erst wieder auf den Boden finden musste. Ich sagte mir: Meitschi, du musst jetzt aufwachen! So habe ich die Kochlehre gemacht. Drei Jahre lang habe ich im Keller dieser Beiz gestanden. Für mich war es die beste Schauspielschule, denn ich erfuhr etwas über Demut, lernte, zu krampfen. Wie will man als Schauspielerin glaubhaft sein, wenn man noch nie einen normalen Job gemacht hat?

Das Gastgewerbe ist ja auch eine Art Kunstform, oder?
Total. Wobei ich es genossen habe, nicht im Service, sondern in der Küche zu sein, wo es kein Publikum gibt. Als Schauspielerin wird man ja zu dem, was die Zuschauer in einem sehen, auch wenn es nicht der Realität entspricht. Kürzlich fragte mich bei einem Dreh eine deutsche Schauspielerin, ob es stimme, dass ich auf einem Ziegenhof in den Bergen lebe (lacht).

Niemand tanzt, kocht oder schauspielert ohne Aussicht auf Applaus. Wie wichtig ist das Publikum?
Als Kind hatte ich eine Zeit lang zu reden aufgehört. Ich habe mich nur noch übers Tanzen ausgedrückt. Und dann, als das vorbei war, wollte ich nicht mehr mit Reden aufhören. Bis heute. Wer redet, braucht ein Publikum. Ich will gehört werden. Wir alle wollen gehört werden.

Oder geliebt werden?
Dem kann man sich nur schwer entziehen, gerade, wenn man jung ist. Man will gefallen: dem Regisseur, den Schauspielern, dem Publikum. Aber am Ende muss es einem egal sein, was die Leute denken. Einfach ist das nicht. Man bekommt ja immer eine Antwort auf das, was man tut. Das muss man aushalten können. Nicht nur Kritik, auch Lob kann einen durchschütteln.

— Ab 5. 3. im Kino: «Driften» von Karim Patwa. Mit Max Hubacher, der einen jugendlichen Raser spielt, der die Tochter einer Englischlehrerin (Sabine Timoteo) zu Tode fährt. Schweizer Drama mit Drive, auch wenn der Plot etwas konstruiert wirkt

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1.

Rollenspiel: Sabine Timoteo mit langem Zopf für ihren nächsten Film und unten in «Driften»