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Ballett für alle

Leben

Ballett für alle

  • Text: Barbara Achermann; Foto: Joan Minder

Das klassische Ballett kommt runter vom hohen Ross: In der Ballettschule von Armando Braswell in Basel sind alle willkommen – der Startänzer mag «all types of bodies».

Socken. Die Frau in der zweiten Reihe rechts tanzt in weissen Tennissocken. «Horrible», schimpft Ballettlehrer Armando Braswell. «Das sieht grauenhaft aus!» Er meint aber nicht die Fussbekleidung, sondern ihr Hohlkreuz: «So findest du nie die Balance.»

Das Ballett macht gerade einen Wandel durch, der sich in diesem Paar Socken auf den Punkt bringen lässt. Denn im Ballettunterricht waren lange nur Spitzenschuhe oder lachsrosa Schläppchen geduldet, getragen von Mädchen mit hervorstehenden Schlüsselbeinen, die langen Haare am Hinterkopf verknotet, mit einem Haarnetz fixiert, damit sich keine Strähne löste, wenn sie von der Lehrerin in den Spagat gedrückt wurden. Ballettstunden waren oft qualvoll und stets dünkelhaft. Niemand tanzte in Socken.

Das Training von Armando Braswell aber ist offen für Nonkonforme und Unförmige, Sockenträgerinnen, Männer mit Bauch und über Siebzigjährige, «for all ages and all types of bodies – für jedes Alter und jede Figur». In seinem Studio in Basel wird keine schräg angeschaut, wenn sie mit gut gepolsterten Hüftknochen auftaucht, aber sie wird deswegen auch nicht geschont. Das Training ist hart. Braswell lässt das klassische Repertoire an der Stange üben, geht durch die Reihen, motiviert und korrigiert. Das Ballett, das er lehrt, ist eine gesunde Variante der alten Schule, denn Braswell erzwingt keine Bewegung. Selbst Anfänger behandle er, als wären sie Profis, sagt er. Folglich begleiten Pianisten den Unterricht mit Livemusik. Die Nachfrage nach seinem «Ballett für alle» ist gross. Angefangen hat er vor einem Jahr mit neun Schülern, mittlerweile sind es über 200.

Die Stangen werden jetzt weggeräumt, Braswell zeigt ein paar Schritte in der Mitte des Raumes vor und singt vier Takte mit der Musik mit. Zwei Dinge werden dabei sichtbar: Er ist ein Entertainer und ein Spitzentänzer. Braswell war Solist des Metropolitan Opera Ballet in New York und tanzte lange beim Ballett-Rebellen Eric Gauthier in Stuttgart. Heute ist er Solist am Theater Basel, gilt mit 35 Jahren jedoch schon bald als Rentner. Das Braswell Arts Center ist für ihn eine Art Altersvorsorge – aber nicht nur. Es träumt schon länger davon, einen Kunstraum zu schaffen für Vernissagen, Konzerte und für die Workshops seiner illustren Tanzfreunde. Bei Braswell unterrichteten im vergangenen Jahr Weltstars wie Rasta Thomas und Crystal Pite, bildende Künstler und DJs gehen ein und aus. Die Atmosphäre im Studio ist kosmopolitisch und zugleich ungezwungen: Auf dem Boden sitzt Braswells Frau mit dem Laptop auf dem Schoss und macht die Administration, daneben beugt sich der achtjährige Sohn über die Hausaufgaben, an den Wänden hängen expressive Ölgemälde, und immer wieder schaut ein Passant durchs Fenster herein. Braswell nennt den ehemaligen Gewerberaum in der Nähe der Synagoge «ein kleines Stück New York in Basel».

Nach dem Unterricht schliesst er seine Familienkutsche auf, ein Elektrovelo mit eingebauter Kiste für die beiden Söhne, radelt vorbei am Theater und den Steinenberg hoch zum «Vapiano», seinem Lieblingsitaliener, wo er noch immer verschwitzt und in Trainerhosen seinem Körper die ersehnten Kohlenhydrate und Eiweisse zuführt. Braswell isst langsam, weil er viel redet. Etwa darüber, dass er auch zeitgenössische Stile wie Jazz und Modern Dance unterrichtet, seine Ballettklassen aber mit Abstand am beliebtesten sind. «Das Ballett erlebt ein Comeback«, sagt er. Die Menschen würden einsehen, wie deprimierend Fitnesscenter seien, wo man auf dem Laufband Fernsehen schaue. «Ballett ist das genaue Gegenteil vom kopflosen Anhäufen von Muskelmassen.» Durch die absolute Fokussierung auf die Bewegung werde man sich seiner selbst bewusst. Ballett nach Braswell ist Philosophie, ist Kunst und eine der präzisesten Körperschulen überhaupt.

Man sollte das Wort «Boom« mit Bedacht wählen. Vor allem wenn, wie beim Ballettunterricht der Fall, die statistischen Grundlagen dafür fehlen. Doch verschiedenen Exponenten der Schweizer Tanzszene fällt auf, dass die Nachfrage nach klassischem Ballett unlängst markant angestiegen ist. Boris Brüderlin vom Tanznetzwerk Reso glaubt, die Beliebtheit rühre daher, dass man wieder wegkomme vom individuellen Workout und das Erlebnis in der Gruppe suche. Liliana Heldner vom Berufsverband Danse Suisse stellt fest, dass Ballett seit einigen Jahren zugänglicher werde. So bietet Spoerli-Primaballerina Yen Han reine Männerklassen an, in anderen Schulen gibt es Kurse für über Vierzig- oder über Fünfzigjährige. Heldner sagt, keine Tanzlehre sei so durchdacht wie Ballett. Daran liege auch ihr Reiz. Spätestens wenn man professionell tanzen wolle, komme man kaum darum herum. «Die Balletttechnik ist wie eine Grammatik der Bewegung. Für Drehungen, Sprünge oder Hebefiguren liefert sie das beste Fundament.»

Ballett entstand zu einer Zeit, als Tänzerinnen Korsetts und Tänzer Perücken trugen. Im 17. Jahrhundert spaltete sich der Bühnentanz vom Gesellschaftstanz ab. Manche machen noch heute Ballett, weil sie gern in dieser in Tüll gehüllten Vergangenheit schwelgen. Andere weil sie ihre hängenden Schultern korrigieren wollen, die Musik von Tschaikowsky lieben oder «Black Swan» im Kino gesehen haben. Die Popularität des Balletts stehe in einer Wechselwirkung zu seiner Popularisierung, sagt Tanzwissenschafterin Christina Thurner von der Universität Bern: Modeshootings und Musikvideos mit Ballerinen oder Ballettshows im Musicaltheater weckten das Interesse einer breiten Masse. «Ganz neu ist das aber nicht», so die Professorin, schliesslich habe Maurice Béjart bereits ab den 1970er-Jahren mit seinen Choreografien zu Popmusik ganze Stadien gefüllt. Zur Demokratisierung des Ballett trugen später Kinofilme wie «Billy Elliot» bei, der vermehrt Buben zum Ballett brachte, und unlängst die Autobiografien von Misty Copeland und Michaela De Prince, die beide darüber schreiben, wie aufreibend es für sie war, als dunkelhäutige Ballerinen Karriere zu machen. Die aus Sierra Leone stammende De Prince galt stets als zu stämmig.

Auch für Armando Braswell war keine Ballettkarriere vorgesehen. Vielleicht ist er deshalb seinen Schülern gegenüber so unvoreingenommen. Angefangen hat er mit den Tanzschritten der Unterschicht: Step und Breakdance. Doch war er bereits viel zu alt. Erst kurz nach seinem 14. Geburtstag wählte er in der Schule das Freifach Tanzen: «Weil sich dort die meisten Mädchen einschrieben.»

Es gibt ein Video, aufgenommen an einem TED-Talk, in dem Braswell seine Biografie tanzt. Der Anfang ist ein einziges Um-sich-Schlagen und Mit-den-Armen- Rudern, als müsse er sich mit aller Kraft über Wasser halten. Aus dem Off erzählt er seine Geschichte: Geboren wurde er in New York City. An seine Mutter, eine Puerto Ricanerin, erinnert er sich nur schwach. Sie litt an epileptischen Anfällen und starb früh. Sein Vater, ein Frauenheld aus Panama, driftete in die Drogen ab. Braswell wurde von einer Pf legefamilie zur nächsten gereicht, bis man ihn als Teenager endlich adoptierte. «Es war zu schön, um wahr zu sein», sagt er. Tatsächlich tönt seine Biografie wie ein zu dick aufgetragenes Hollywood-Drama: Das Haus seiner neuen Eltern brannte nur wenige Wochen nach der Adoption nieder, die neugegründete Familie zügelte in die Notschlafstelle. «Ich weiss nicht mehr, wie oft ich dort verprügelt und ausgeraubt wurde», erzählt er. «Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.» Er übernachtete bei Freunden auf dem Sofa, hatte oft Hunger. Tagsüber trainierte er für die Aufnahmeprüfung der Juilliard School, eine der grössten Kaderschmieden der Welt und Vorlage für den 1980er-Jahre-Kultfilm «Fame». Er scheiterte, begann eine Psychotherapie, trainierte noch härter und bestand die Prüfung im Jahr darauf. «Das war der Wendepunkt.»

Braswell hat seine Pasta noch immer nicht fertig gegessen. Er wird sie einpacken lassen und mit nachhause nehmen. «Ich verkörpere wohl das, was man eine amerikanische Erfolgsstory nennt.» Wie um diese Aussage ironisch zu brechen, deutet er eine Verbeugung an. In der Schule habe es stets geheissen: «Ihr könnt alles werden, was ihr wollt. Selbst Präsident.» Wer seine Ziele nicht erreiche, sei selber schuld. Das hat Braswell angestachelt. Heute weiss er, dass die Lehrer damals nicht ganz richtig lagen: Nur aus sich selber schöpfen, das geht nicht. Zu einer Vorzeigegeschichte gehören auch eine gute Portion Glück, engagierte Lehrer und Menschen, die einem unter die Arme greifen. Er selber möchte so ein Mensch sein. Im Braswell Arts Center bietet er gratis Tanzstunden für Kinder aus armen Familien an.

Als Braswell vor einem Jahr sein Kulturzentrum eröffnete, hat er ein grosses Brimborium veranstaltet. Und wie immer in der Schweiz, wenn einer laut auf sich selber aufmerksam macht, reagierte man skeptisch. So auch Ursula Haas vom Tanzbüro Basel. Unterdessen seien ihre Vorbehalte aber verflogen: «Er hat das erreicht, was andere Veranstalter seit Jahren mehr oder weniger vergeblich versuchen: sich gegenüber der Stadt zu öffnen.» Es stimmt. Armando Braswell lädt sie alle in sein Studio: Fasnächtler, Flüchtlingskinder, Hausund Geschäftsfrauen. Ein Tutu müssen sie nicht tragen, aber Haltung zeigen.

Armando Braswell tanzt aktuell in der Produktion «Tewje» am Ballett Basel. Zudem ist er beteiligt an der Produktion «Exklusiv für alle», bei der siebzig Laien innerhalb von sechs Monaten eine Performance entwickeln.