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Courtney Love – Zerrissene Seele

Leben

Courtney Love – Zerrissene Seele

  • Text: Nancy Jo SalesFotos: Getty Images

Erst fand unsere Autorin zur Witwe von Kurt Cobain gar keinen Draht. Das änderte sich, als sie tiefer in die zerrissene Seele der alternden Rocksängerin sah.

Erst fand unsere Autorin zur Witwe von Kurt Cobain gar keinen Draht. Das änderte sich, als sie tiefer in die zerrissene Seele der alternden Rocksängerin sah.

Unterwegs zum Glorious Goodwood Ball rasen Courtney Love (47) und ich durch die englische Provinz. Die alljährliche Veranstaltung findet im 314 Jahre alten Goodwood House statt, dem Landsitz der Herzöge von Richmond; unser Gastgeber ist Charles Gordon-Lennox, der Graf von March und Kinrara. «Jetzt gehören wir dazu», sagt Courtney mit triumphierendem Strahlen. Sie sitzt neben mir auf dem Rücksitz, rank und schlank, längst eine Ikone, und strahlt eine Energie aus, die wie ein Elektroschock britzelt. Sie trägt eine überdimensionale Sonnenbrille, eine lange Hose, Highheels und ein klassisches pfirsichfarbenes Bettjäckchen mit Schulterpolstern, das, wie sie befürchtet, «zu sehr nach ‹Meine liebe Rabenmutter›» aussieht.

Im Radio läuft «Teenage Kicks» von The Undertones, der Pop-Punk-Band aus den Siebzigern. Courtney bittet den Fahrer, lauter zu drehen. «Das mag ich so an diesem Land – die lieben ihre Musik», sagt sie. «Mein Plan war es von Anfang an, zuerst hier gross rauszukommen, durch die Hintertür.» «Pretty on the Inside» (1991), das erste Album ihrer Band Hole, erreichte als Erstes in Grossbritannien die Spitzenplätze der Charts; die britische Musikpresse mochte ihren knalligen Stil und den bissigen Witz.

Zwanzig Jahre später äussert Courtney ihren Wunsch, in den britischen Hochadel einzuheiraten und Lady Love zu werden. Sie ist vom Königshaus fasziniert, auf ihrem Couchtisch in New York liegt ein zerlesenes Exemplar des englischen Adelsregisters «Debrett’s Peerage & Baronetage». «Ich habs satt, mit Leuten auszugehn, die ärmer sind als ich», sagt sie. «Ich fände es richtig schön, wenn mein Lover echte Spitzenanwälte hätte.» Sie spielt damit auf ihre berüchtigte Finanzmisere an, ein Chaos von so epischem Ausmass, dass Courtneys Halbschwester Jaimee sie in Anlehnung an einen der grössten US-Wirtschaftsskandale das «menschliche Enron» nennt. Seit Jahren lässt sich Courtney auf My Space und Facebook darüber aus und twittert ohne Ende – in fast unverständlicher Prosa à la Kerouac –, beschuldigt andere des Betrugs und ruft um Hilfe. Und jetzt soll ich ihr anscheinend helfen. Sie will, dass ich herausfinde, wo ihre verlorenen Nirvana-Millionen geblieben sind (über 250 Millionen Dollar, behauptet sie). Aber damit habe ich so meine Probleme, also nimmt sie mich zu einem Ball mit, bei dem sie als Sängerin auftreten soll.

«Ich möchte einen Song namens ‹Fancy Like a Princess› schreiben», sagt sie. Sie plappert über alles Mögliche, vom chinesischen Füssebinden bis zur britischen Etikette. Courtney hört keine Sekunde auf zu reden. Oder zu rauchen. Sie raucht sogar auf ihren 1992 am Waikiki Beach in Hawai entstandenen Hochzeitsfotos. Damals trug sie ein Kleid, das mal ein Kostüm der Schauspielerin Frances Farmer gewesen war. Kurt Cobain kam im Pyjama.

Ikone des Feminismus

Als ich mich im letzten Juni das erste Mal zu Courtneys Stadthaus in New Yorks West Village aufmachte, war mir beklommen zumute. Ich hatte monatelang überlegt, wie ich sie vermeiden könnte, aber wenn sie einem zustösst, hat das etwas von einem Wirbelsturm. «Nur 59?», sagte eine gemeinsame Freundin, als ich die Zahl der SMS erwähnte, die ich von Courtney an einem einzigen Abend bekommen hatte. «Du Glückspilz!»

Nicht, dass ich sie als Künstlerin nicht zu schätzen wusste. Ich mochte das Album «Live Through This» (1994) ihrer Band Hole, das zusammen mit Nirvanas «Nevermind» zu den wichtigsten Platten der Neunzigerjahre zählt. Ich würde auch sofort unterschreiben, dass Courtney zu den grössten Rocksängerinnen aller Zeiten gehört und eine Ikone des Feminismus war. «Sie ist und bleibt wichtig», sagt ihr Freund Michael Stipe. «Sie ist aber auch ihr grösster Feind.»

Dass ich anfangs nichts mit ihr zu tun haben wollte, lag auch nicht daran, dass sie ständig ihre Ernsthaftigkeit unterminierte wie beispielsweise 2004, als sie drogenbenebelt ins New Yorker Bellevue Hospital eingeliefert wurde. «Die Aufnahme war der wunde Punkt», sagt Courtney zerknirscht über ein Foto, das sie in Handschellen auf einer Krankenbahre zeigt. Oder dass sie 1995 bei der Oscar-Party von «Vanity Fair» mit Quentin Tarantinos Oscar-Statue auf die damalige «Vanity Fair»-Autorin Lynn Hirschberg losgegangen war, weil die über Courtneys Heroinkonsum in der Schwangerschaft geschrieben hatte. «Ein Glück, dass die Leute Sie zurückgehalten haben», sagte ich ihr. «Sonst wären Sie in den Knast gewandert.» – «Aber heute wäre ich wieder draussen», antwortete sie.

Nein, Sorgen machte mir, dass fast alle Geschichten, die ich über sie gehört hatte, auf dasselbe hinausliefen: eine verrückte Courtney, eine arrogante und furchteinflössende Courtney, ein menschgewordenes Chaos, das Courtney selbst «das Courtneymonster» nennt. Doch dann lernte ich sie von einer anderen Seite kennen. Wenn man all die Ausfälle, das Chaos und die Spekulationen über das Schicksal ihres zerronnenen Nirvana-Erbes hinter sich liess – ein gordischer Knoten an Beschuldigungen, die so gut wie jeden Anwalt, Buchprüfer und Plattenlabelmanager einbezogen, den sie je gekannt hatte –, stiess man auf eine intelligente und sensible Frau, eine Künstlerin, die nicht anders konnte, als sich sehr lyrisch Ausdruck zu verschaffen.

The Girl with the most cake

Als wir uns zum ersten Mal trafen, wartete ich über eine Stunde im Wohnzimmer ihres gemieteten Stadthauses aus den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts. «Wenn Sie Courtney kennen lernen wollen, müssen Sie über Cupcakes Bescheid wissen», riet mir ihr Hausverwalter Hershey. Wie ich schnell merkte, waren Cupcakes ein Hauptbestandteil von Courtneys karger Diät – was nur zu gut passt, schliesslich schrieb sie in einem Song, sie wolle «the girl with the most cake» werden.

Ihr Couchtisch war mit Blumenvasen und Kerzen übersät, Zigaretten, Aschenbechern, einem Servierteller mit Cupcakes und interessanten Büchern: «Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe» von Mike Davis, Leo Braudys Kulturgeschichte des Ruhms «The Frenzy of Renown». Als ich Courtney näher kennen lernte, stellte ich fest, dass man im Gespräch mit ihr in schwindelerregendem Tempo von Robert Graves über Sigmund Freud auf die Drogensucht von Hollywoodstars kommen konnte. «Sie hat eine versteckte Seite, die absolut hochintellektuell ist», sagt ihre Freundin Gwyneth Paltrow. «Sie ist gebildet und blitzgescheit, versteckt das aber unter diesem auffälligen Punk-Äusseren.»

Plötzlich kam sie die Treppe hinaufgestapft. «Ich habe noch 894 Dollar auf dem Konto!», brüllte sie. Sie wirkte panisch und verdrehte vor Angst die aquamarinblauen Augen. Sie trug ein Sommerkleid, das ihre festen, runden Brüste zur Geltung brachte. Schockiert sah ich, wie dünn sie war. Sie hatte kaum etwas mit der drallen Courtney Love gemeinsam, die ich von Fotos kannte. Ohne Make-up wirkte ihr Gesicht fast zerbrechlich. «Die geben erst Ruhe, wenn ich tot bin!», klagte sie. Ihre Stimme war die alte: eine Stimme für die Wut. Bei ihr gab es weder Förmlichkeiten noch Smalltalk. Sie legte sofort mit einem Monolog über Kurt Cobain los und griff nach einem Bildband mit dem Foto ihres verstorbenen Mannes auf dem Cover.

«Er hat dreimal versucht, sich umzubringen!», sagte sie. «Und mindestens fünfmal eine Überdosis genommen. Ich war die Scheiss-Rettungssanitäterin. Ich hab ihm immer Nadeln in die Eier gestochen. Ich hatte Narcan dabei!» – ein Medikament zur Wiederbelebung von Heroinsüchtigen nach einer Überdosis. Und dann musste sie weinen. Der plötzliche Gefühlsausbruch machte mich erst ratlos.
Aber dann merkte ich, dass sie mit den Furien haderte, die sie auf Schritt und Tritt verfolgen, mit den Gerüchten, an die ihrer Meinung nach alle glaubten: dass sie Yoko Onos böse Zwillingsschwester wäre, die die Auflösung von Nirvana bewirkt und Cobains Tod verschuldet hätte. Im Internet quillt der Hass auf Courtney über. Ihr Vater Hank Harrison – Manager einer frühen Inkarnation der Grateful Dead – schrieb ein Buch, in dem er spekulierte, ob seine Tochter beim Tod ihres Mannes die Hand im Spiel gehabt hätte. Auf demselben Terrain bewegt sich auch Nick Broomfields vernichtender Dokfilm «Kurt & Courtney» von 1998. «Wussten Sie, dass die Witwe früher zusammen mit dem Selbstmörder beerdigt wurde?», fragte sie mich plötzlich.
Wirklich auffällig fand ich in Michael Azerrads Buch «Nirvana. Come As You Are: Die wahre Kurt-Cobain-Story» und in Charles Cross’ Biografie «Der Himmel über Nirvana: Kurt Cobains Leben und Sterben», dass bei den Mythen um Kurt und Courtney eines nie zur Sprache kommt: wie sehr sich die beiden liebten. «Ich bin vor Liebe wie geblendet», sagte Cobain 1992. «Ich bin einfach überwältigt von der Tatsache, dass ich sie so unfassbar liebe.»

«Sind Sie sauer auf ihn, weil er sich umgebracht hat?», fragte ich. «Sauer?», rief Courtney. »Was glauben Sie denn?! Wenn der jetzt zur Tür reinkäme, würd ich ihn umbringen, weil er uns das angetan hat. Ich würde den Scheisskerl umbringen. Aber zuerst würd ich ihn ficken.» Genau dafür – für ihre Ehrlichkeit und ihren schwarzen Humor – hatte Cobain sie geliebt, und genau das bringt sie ständig in die Klemme.

«Was glauben Sie, was ich dafür kriegen kann?», fragte sie, zog Cobains Exemplar von «London Calling» von The Clash aus einem Karton und hielt die Platte hoch. Wir waren inzwischen in einem Zimmer im oberen Stockwerk. «Die sollten Sie nicht verkaufen», meinte ich.

«In meiner Generation gibt es reiche Leute, für die Kurt Jesus war und die für das Zeug hier ein Vermögen hinblättern würden», sagte sie. Dann: «Ich will sie nicht verkaufen», und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. «Aber ich weiss nicht mehr, was ich machen soll!» «Ich versteh einfach nicht, dass Sie kein Geld mehr haben sollen», sagte ich. «Haben Sie sich die ganzen Dokumente von Jessica mal angeschaut?», grummelte sie nur. Hatte ich. Monatelang hatte ich Mails von Jessica Labrie bekommen, einer 33-jährigen Verwaltungsassistentin aus Vancouver, die mir erklärt hatte, Courtneys Musik habe ihr «das Leben gerettet»; sie war dann Teil der sogenannten Twitter Army von Fans geworden, die Courtney per Twitter gebeten hatte, ihr bei der Aufklärung des «Betrugs» zu helfen.

Der «Betrug» frass sie auf

Courtney sagte, sie hätte sich 2005 mit dem FBI getroffen, aber anscheinend versandeten die Ermittlungen irgendwann. Und ihre Anzeige gegen unbekannt wegen «Betrugs» führte dazu, dass man ihr den Prozess machte.

Bei späteren Besuchen erzählte Courtney mir Einzelheiten zum «Betrug». Sie stakste durchs Zimmer und redete und rauchte. Wenn ich nachhause kam, entdeckte ich im Spiegel, dass sich dort, wo ich immer die Stirn gerunzelt hatte, zwei Falten eingekerbt hatten. «Versuchen Sie, es mir wie eine Geschichte zu erzählen», flehte ich sie an. «Das kann ich nicht», sagte sie entschuldigend. «Das hab ich schon so oft probiert. Dafür denke ich einfach nicht linear genug.» Ihre Erzählung schlug Haken wie eine Flipperkugel. Sie wusste, dass ihre fixe Idee des «Betrugs» sie auffrass und dass Menschen deswegen einen Bogen um sie machten, aber sie konnte nicht anders.

Courtneys Musikmanager Jonathan Daniel wird ungeduldig, wenn jemand den «Betrug» erwähnt. «Es zerreisst mir das Herz», sagt er, «dass sie auch ohne Nirvanas Hilfe jederzeit siebenstellige Summen verdienen könnte, dass sie aber nicht arbeiten kann und niemand mit ihr zusammenarbeiten will, weil sie an nichts anderes als an diesen Betrug denkt.»

Als sich Cobain am 5. April 1994 im Gewächshaus von Courtneys und seinem Anwesen in Seattle mit einem Kopfschuss umbrachte, starb er nach dem Urteil der Gerichte von Washington, ohne seine Hinterlassenschaft geregelt zu haben. Es gab zwar ein Testament oder mehrere verschiedene Testamentsentwürfe, aber nichts davon wurde anerkannt. Also beauftragte der Bundesstaat Washington einen Anwalt mit der gerichtlichen Nachlassverwaltung. Den Löwenanteil des Legats machte Cobains Plattenlabel End of Music (EOM) aus. Courtney wurde als Erbin anerkannt und 1997 ein Treuhandfonds für ihre Tochter Frances Bean eingerichtet. Wegen der anhaltenden Beliebtheit von Nirvanas Musik und dem Kultstatus von Cobain ist EOM auch heute noch eine Goldgrube; nicht nur die Verlagsrechte, sondern auch sein Name und seine Porträts werden immer wieder neu vermarktet.

«Sie hat keinerlei Kontrolle über ihre Ausgaben»

Wenige Wochen nachdem wir uns kennen gelernt hatten, gingen Courtney und ich ins Restaurant Dell’Anima in ihrer Nachbarschaft essen. Ich übernahm die Rechnung, weil sie so klamm war – was ich noch immer nicht nachvollziehen konnte, immerhin erwähnte sie, sie wolle nach Cannes und dort eine Jacht mieten. «Ach, die werden mir schon was geben», sagte sie. EOM erwirtschafte Geld, meinte sie, und Frances’ Treuhandfonds und sie erhielten mehrmals im Jahr ihre Ausschüttungen. Der Besitz eines grossen Plattenlabels sei ein bisschen wie der Besitz eines angesagten Apartmentblocks; das Gebäude selbst habe einen Wert und sei ausserdem eine ständige Einnahmequelle. «Wie viel?», fragte ich. Courtney zufolge geht mit jedem regelmässigen Check eine sechsstellige Summe bei ihr ein.

Niemand konnte mir genaue Zahlen nennen, wie viel EOM zur Zeit von Cobains Tod wert war – alle Beteiligten sind wegen Courtney nervös, aber einen Eindruck der Grössenordnung vermittelt die Tatsache, dass Primary Wave Music 2006 für 50 Prozent des Unternehmens 19.5 Millionen Dollar gezahlt haben soll. Und trotzdem simste Courtney mir, sie hätte ihre letzten Reserven angebrochen und wüsste nicht mehr, «wie ich mir was zu essen kaufen soll». Wie war das möglich? «Sie hat keinerlei Kontrolle über ihre Ausgaben», hörte ich von einem ihrer Bekannten. Ich fragte mich, wie sie selbst mit den beträchtlichen EOM-Checks ihre verschwenderische Lebensweise finanzieren konnte – ihre vielen Angestellten, ihre Reisen, ihre Garderobe. Eine frühere Angestellte von ihr erzählte mir von einem Besuch in Courtneys Lagerraum in L. A., der so gross wie ein Supermarkt sei und eine Möbel- und Kunstsammlung à la Citizen Kane enthalte. «Wenn sie sich die Haare richten lassen will, lässt sie ihren Coiffeur und zwei Assistenten in der Business Class aus Los Angeles einfliegen», sagte ein anderer Bekannter von ihr.
Und jetzt sei sie so knapp bei Kasse, sagte Courtney, dass sie versucht habe, einen Kredit aufzunehmen. Sie hatte sich mit ihrem Freund, dem Regisseur Brett Ratner, darüber unterhalten, wie sie ihre Geldnot in den Griff kriegen könne. «Ich versuche, sie zu schützen», sagte Ratner, «und sie mit den richtigen Leuten zu vernetzen. Sie ist eine Künstlerin, und alle nutzen sie aus.»

«Ich war das Schnäppchen der Unterhaltungsbranche! Ich hatte null finanzielle Ausbildung!», sagte Courtney und jammerte wieder einmal über den «Betrug». Während eines Grossteils der 18 Jahre seit Cobains Tod war sie drogensüchtig. Bis auf rezeptpflichtige Medikamente gegen Depressionen und Schlaflosigkeit sei sie heute clean, sagt sie. Die von ihr zitierten und angeblich gefälschten Dokumente reichen allerdings in die Zeit zurück, in der sie an der Nadel hing. Sechs Monate nach dem Selbstmord ihres Mannes ging Courtney, am Boden zerstört und gegen ihre Abhängigkeit von Heroin und Buprenorphin (ein Substitutionsmittel bei Opioid-Abhängigkeit) ankämpfend, mit Hole auf Tour. Ihr Album «Live Through This» war vier Tage nach Cobains Tod auf den Markt gekommen. Interessanterweise gibt es zwar jede Menge Verschwörungstheorien zum Zusammenhang von Cobains Tod und Courtneys Karrieresprung, aber kaum jemand hat sich je gefragt, ob Cobain womöglich Angst hatte, sie zu verlieren.

«Ich glaube, der Verlust ist eine der treibenden Kräfte in ihrem Leben», sagt eine Freundin von Courtney. «Wenn Sie sich die Verschwörung anschauen, ist auch das nur Teil des Verlusts, der seit frühester Kindheit zu ihrem Leben gehört. Sie versucht immer herauszufinden, wohin etwas verschwunden ist – ob es nun Geld oder Liebe ist.»

Courtney Loves sorgenreiche Geschichte ist des Langen und Breiten untersucht worden – am intensivsten von ihr selbst. Es gibt kaum ein Gespräch mit ihr, in dem sie nicht das Empörende ihrer Kindheit in einer dysfunktionalen Hippie-Familie zur Sprache bringt: Dass ihr Vater ihr im Alter von vier Jahren LSD gegeben haben soll (was Harrison dementiert). Dass ihre Mutter, die heute als Therapeutin arbeitet, sie zweimal einfach bei anderen ablud, einer Freundin der Familie, als Courtney neun war, und einem Ex-Stiefvater, als sie zwölf war. «Meine Mutter will mich umbringen», sagte sie.

Courtney Love – geboren 1964 als Courtney Michelle Harrison in San Francisco – landete mit 13 im Jugendstrafvollzug von Oregon. Mit 16 beantragte sie die rechtliche Unabhängigkeit von ihrer Mutter, wurde erst Stripteasetänzerin und dann unglaublicherweise ein Rockstar. «Ich hatte mir geschworen, nie so wie meine Mutter zu werden, aber ich bin ganz genau so», meinte Courtney eines Tages traurig. «Sie hat alles weggeworfen, und ich hab alles weggeworfen.»

Und dann wäre da noch die Entfremdung von ihrer Tochter Frances Bean Cobain (19), die sich die Unabhängigkeit von ihrer Mutter vor zwei Jahren hatte notariell beglaubigen lassen. «Ich fühle nur, wie sehr ich sie liebe. Ich würde alles dafür geben, wenn ich nur hören könnte, wie ihre Sohlen über den Flur tappen.»

Wir standen in Courtneys Schlafzimmer inmitten von weiblichen Antiquitäten. Am Fussende des Betts stand eine elegante Mahagonikiste. «Schauen Sie», sagte Courtney. «Das sollte Frances’ Aussteuertruhe werden.» Sie öffnete sie. «Ihr Vater hat ihr das hier geschenkt.» Eine nackte alte Puppe. Cobain hatte ihr ein «Fuck You Bitch» auf den Rumpf gekritzelt. «Das ist ihr Tagebuch», sagte Courtney und schlug ein Buch auf. «Ich möchte Frances’ Tagebuch nicht lesen», sagte ich. «Ich möchte nur, dass Sie sich diese eine Seite anschauen.» Unter der Überschrift «Dinge, die mir Spass machen» stand eine Liste: «meine Katze, mein Pferd» – in der Mittelstufe war Frances eine erfolgreiche Reiterin –, «Sailor Moon» – der japanische Comic –, «New York im Winter …» Courtney wirkte am Boden zerstört. «Warum stehe ich nicht auf der Liste?», fragte sie mit feuchten Augen. «Warum hat sie nicht ‹mit Mum alte Filme anschauen› geschrieben?»

«Sie wurde ‹Crack-Baby› gerufen»

Ihre Beziehung hatte einen holprigen Start. Wegen einer hängigen Untersuchung von Courtneys Drogenmissbrauch nahm die Kinderfürsorge von Los Angeles Frances kurz nach der Geburt ihren Eltern weg. Unerwähnt bleibt oft, dass Courtney zum Arzt ging, als sie merkte, dass sie schwanger war, und sofort einen Entzug machte. «Weder sie noch ich hatten bei der Geburt Drogen im Urin», sagte sie und ist heute noch wütend, weil man ihr das Baby weggenommen hat.

Mit der Zeit erfuhr ich mehr über Frances. Wenn sie nicht über den «Betrug» sprach, redete Courtney von ihrer Tochter. Sie sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen, und bereute so vieles, was sie als Mutter falsch gemacht hatte. Sie sagte, Frances hätte erst mit sieben lesen gelernt: «Das war meine Schuld! Ich habe ihr nie vorgelesen! Warum bin ich mit ihr nie am Broadway ins Theater gegangen? Wo sie die Musicals doch so heiss geliebt hat!»

Drei Mal besuchte Frances das Stagedoor-Manor-Theaterlager in den Catskills, sagte ihre Mutter, wo sie einige Enttäuschungen verkraften musste, die alle Jugendlichen erleben – in einer Produktion von «Grease» spielte sie beispielsweise Rizzo, obwohl sie Sandy hatte sein wollen –, und einige, die ihr als Tochter von Courtney Love und Kurt Cobain widerfuhren. «Sie wurde ‹Crack-Baby› gerufen», erinnerte sich Courtney traurig. Es war sonnenklar, wie sehr sie ihre Tochter liebte. Und doch gab Frances in den Unterlagen ihres Unabhängigkeitsantrags zu Protokoll, das Leben mit ihrer Mutter sei eine Qual gewesen. 2006 erhielt Courtney die gerichtliche Verfügung, über zwei Millionen Dollar zurückzuzahlen, die sie laut Aussage des Unternehmens in Seattle, das den Treuhandfonds ihrer Tochter verwaltete, unterschlagen hatte. «Das hatte ich längst zurückgezahlt», behauptete Courtney.

«Ich werde genau so enden wie Gloria Swanson in ‹Sunset Boulevard›», klagte Courtney eines Tages. Sie fühlte sich von der New Yorker Gesellschaft verfemt und ausgegrenzt. «Die Rabenmutter, die Drogenkiste. Den Ruf werd ich nie mehr los.» Dabei riss der Strom der Einladungen nie ab. Im Lauf des Sommers dinierte sie mit Julian Schnabel in Montauk und traf bei Partys in den Hamptons Donny Deutsch und Gordon Ramsay. Und im Juli wurde sie dann zum Goodwood Ball eingeladen und fragte, ob ich Lust hätte mitzukommen.

Wir erreichen den Westflügel von Goodwood House zum Höhepunkt der Festlichkeiten; wir sind spät dran. Das grosse alte Herrenhaus, das an Gosford Park erinnert, wird von Frauen umschwärmt, die sich als Kurtisanen aus dem 18. Jahrhundert verkleidet haben. (Der Abend ist ein Kostümball.) Auf dem Rasen vor dem Anwesen messen sich zwei Männer in antiquierten Ringkampftechniken. An den Wänden des prachtvollen Riesenbaus hängen jede Menge Ölgemälde von Familienangehörigen – bei Krönungen.

«Die feinen Pinkel wissen, wie man das Geld in der Familie hält», flüstert Courtney, als man uns im ersten Stock unsere Zimmer zeigt. «Das muss ich noch lernen.» Courtney bekommt ein herrschaftliches Zimmer zugewiesen. Ein Butler namens Monty macht uns seine Aufwartung. «Kann ich etwas für Sie tun, Ma’am?», fragt er. Courtney stösst mich in die Rippen. Der Graf von March schiesst herein. Ein attraktiver Mann im Massanzug. «Lord March», sagt er und drückt uns die Hand. «Für Sie einfach Charles.» Auf Courtneys Frage hin erörtert Lord March, welches Kleid sie zur Soiree anziehen solle. «Das hier!», sagt er und deutet auf eine schwarze Marchesa-Robe. «Gibt es Pimm’s Cup?», erkundigt sich Courtney. «Unten steht ein Krug mit Ihrem Namen drauf», sagt Charles herzlich. «Grossartig!», sagt Courtney. Sie arbeitet an einem britischen Akzent. «Verstehen Sie jetzt, warum ich die so mag?», fragt sie strahlend, als er gegangen ist. «Die feinen Pinkel haben einfach was!»

Was halten die «feinen Pinkel» von Courtney?

Später werden wir im riesigen Speisesaal an die Tafel von Lord March platziert, der jetzt als Tom Jones kostümiert ist (die Romanfigur von Henry Fielding, nicht der Sänger). Zu meiner Linken sitzt der britische Botschafter in Katar, zu meiner Rechten George Mountbatten, der Marquis von Milford Haven. «Sind Sie die verrückteste Frau der Welt?», will Mountbatten von Courtney wissen. Courtney runzelt die Stirn: «Sind Sie bei Ihrer vierten Frau angekommen oder schon der fünften?» Mountbatten, der zum zweiten Mal verheiratet ist, wirkt konsterniert. Sie geht zum Rauchen auf den Rasen vor dem Haus. Die anderen Gäste ziehen die Augenbrauen hoch. «Was halten Sie von Courtney?», frage ich ein katzenäugiges Luxusweibchen, als Courtney ausser Hörweite ist. «Ich glaube, für die meisten Anwesenden ist sie ein Schmuddeljunkie», sagt sie kichernd. «Manchmal verstehe ich, was sie sagt, und manchmal nicht, aber faszinierend ist es immer», sagt Mark Cornell. Cornell ist der Konzernchef von Edmiston & Company (Luxusjachten) und ein Schwager von Lord March. «Ich werde manchmal gefragt, warum ich mit Courtney Love befreundet bin, und sage immer: ‹Weil sie interessanter ist als ihr alle zusammen.›»

Es ist Zeit für Courtneys Auftritt. Sie tritt auf die Bühne, und plötzlich ist sie die Courtney Love, wie ich sie von ihrem Album «Live Through This» kenne: eine Naturgewalt; eine irische Todesfee, deren Schreie Tote aufwecken können. Die örtliche Begleitband spielt wie ein Taxifahrer, der sich plötzlich am Lenkrad eines Ferrari wiederfindet. Einige der feinen Pinkel verstehen die Sache falsch. «Titten zeigen!», brüllt ein junger Mann in Bühnennähe. Courtney Love bricht ab und weist ihn zurecht. «Das war jetzt richtig vulgär. Würde ich so was zu Ihnen sagen?» «Sing was von Kurt Cobain», ruft ein anderer junger Mann. «Mit Kurt Cobain kann ich nicht dienen», antwortet sie. «Er ist nicht hier.» Sie schafft noch einen Song, dann verlässt sie die Bühne. Lord March und Mark Cornell, beide noch in ihren Kostümen, flehen sie an, weiterzumachen. Courtney kehrt auf die Bühne zurück und singt noch einen ihrer langsameren Songs («Pacific Coast Highway») vor einem fast leeren Zelt. Sie klingt besser denn je.

«Ach, grämen Sie sich nicht. Sie waren grossartig», sage ich ihr später, als alle ins Bett gegangen sind. Wir sitzen im Pyjama auf der Terrasse. «Sie sind Courtney Love.» Courtney wirkte ungeduldig. «Das sagt Gwyneth auch immer. ‹Du bist Courtney Love.› Wenn ich noch einmal dieses blöde ‹Du bist Courtney Love› hören muss … Ich hab Courtney Love dermassen satt.» Sie zieht eine Grimasse. «Ich wollte schon als kleines Mädchen berühmt werden», sagte sie dann und betrachtet das Anwesen von Goodwood. «Weil ich dachte, im Rampenlicht würde alles gut werden. Ich habe Gott angefleht, mich berühmt zu machen, damit alle nett zu mir wären. Nett zu mir? Ha.»

Am Tag darauf gehen wir zum Pferderennen. Courtney trägt ein Teekleid von Miu Miu, und alle sagen, sie sähe toll aus. Courtney ist glücklich. «Wer ist dieses Mädchen? Courtney Love wirkt so damenhaft, wenn sie ein Federhütchen aufsetzt und ein Teekleid anzieht», heisst es am nächsten Tag im «Daily Mail». Und dann fliegt sie zu einem einwöchigen Seminar mit dem Motivationsguru Tony Robbins nach Australien. «Versuche, mich selbst zu mögen», textet sie. «Ganz fest.»

Nancy Jo Sales (47) ist preisgekrönte Autorin und redaktionelle Mitarbeiterin von «Vanity Fair»
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach

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Bild aus vergangenen Zeiten: Courtney Love mit ihrer Tochter Frances Bean und mit ihrem Mann Kurt Cobain 1993