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Die Geister, die wir rufen

Leben

Die Geister, die wir rufen

  • Text: Helene Aecherli; Illustration: Marcos Chin 

Tarot und Engel, Yoga und Superfood: Spirituelle Lebenshilfen sind heute Lifestyle. Die Vernunft, seit der Aufklärung Entscheidungshilfe Nummer eins, hat Konkurrenz erhalten. Ist uns noch zu helfen?

Alexandra Kruse bittet die Frauen jeweils zu dritt zu sich, denn der Andrang ist gross. In der Mitte ihres Tischs thront ein Bergkristall, daneben eine Madonnenstatue, ein Becher mit Tee und zwei Prosecco-Gläser, die Stimmung ist beschwingt. «Tee und Tarot» steht auf dem Programm, Alexandra Kruse (38), Autorin, Stylistin und Orakel, blickt an diesem Abend in die Karten der Göttinnen, um die «Menschen», wie sie sagt, «in ihre Kraft zu bringen».

Sie sieht die drei Frauen vor sich an, «verbindet sich mit dem Göttlichen», legt dann die Karten. «Es stehen grössere Veränderungen bei Ihnen an», erklärt sie, als die Schmetterlingsfrau erscheint, der Engel der Transformation. «Aber was auch geschieht, denken Sie daran, die Regenbogenflügel auf dem Bild sind nicht so zerbrechlich, wie sie aussehen. Die Veränderungen werden Sie mit aller Kraft vollziehen können.» Die Empfängerin der Karte nickt. «Stimmt!», ruft sie. Ihre beiden Begleiterinnen applaudieren spontan. Diese Szene spielte sich nicht etwa an einer Esoterikmesse ab, sondern fand am vergangenen Weltfrauentag zur besten Einkaufszeit statt, abends an der Zürcher Bahnhofstrasse, in einem der grössten Modegeschäfte der Stadt. Man hat nebst Livemusik, sinnlichen Märchen, Quick-Manicures und dem Talk mit der Herstellerin von «Swiss Made – Nischenprodukte»-Ballerinas auch der Spiritualität einen Platz geben wollen. Eine überaus smarte Marketingstrategie; denn «Tee und Tarot » steht für einen gesellschaftlichen Trend, der schon fast kosmische Ausmasse angenommen hat: En vogue ist, wo spirituell draufsteht.

Doch so einfach sich diese Feststellung machen lässt, so schwierig ist es, die Facetten dieses Trends vollständig erfassen, ja auch nur näher eingrenzen zu können. Denn die gelebten Formen des Neospirituellen sind verzettelt, ineinander verästelt und zeigen sich in unendlichen Variationen. Als ich für diese Geschichte zu recherchieren begann, war es, als hüpfte ich mit einer Taucherbrille bestückt in ein Meer schillernder Fischschwärme – um dann auch noch festzustellen, dass mir das eine oder andere Fischchen ja gar nicht so unbekannt ist: So erklärt mir ein Zahnarzt, dass er von Schutzengeln umgeben sei, die ihn durch den Alltag geleiten; eine Kollegin lässt sich von der Magie der Einhörner inspirieren und vereint sich während der Yogastunden mit ihrem höheren Selbst, die Yogamatte zur Gebetsdecke hinaufstilisierend. Bei einem Cüpli erzählt eine Freundin, sie habe einen Familienstreit mithilfe des hawaiianischen Vergebungsrituals Ho’oponopono beilegen können, gleichzeitig schreibt sie Gojibeeren und Chiasamen fast schon extraterrestrische Wirkungen zu. Meditation, Hypnose, probiotische Joghurts? Ach, das ist so 1990. 2017 reitet selbst die Sextoy-Industrie auf der Spiritualitätswelle mit. Sie bringt Dildos aus Heilkristallen auf den Markt, die Chakrubs. Die sollen einem auf dem Weg zum Orgasmus einen «Sinn von Heiligkeit» vermitteln und den Körper von negativen Energien befreien. Immerhin, im Universum spiritueller Spielarten sind Dildos zumindest was Handfestes.

Die Anhänger dieses spiritualisierten Lebensstils nennen sich selbstbewusst holistisch oder ganzheitlich, aber vor allem eben: spirituell. Der Begriff esoterisch hingegen wird kaum mehr in den Mund genommen. Zu einengend wirkt er, heisst es, zu sehr wird er mit Scharlatanerie und billigem Eso-Ramsch assoziiert. Das ist überraschend, beschreibt er doch gemäss dem französischen Religionswissenschafter Antoine Faivre genau das, worauf sich die modernen Gläubigen beziehen: Es geht um die Verbundenheit zwischen allen Teilen des sichtbaren und unsichtbaren Universums. «Die Natur ist beseelt, Rituale, Engel und Geister vermitteln zwischen Irdischem und Himmlischem. Man versucht, sich hin zu einer höheren Bewusstseinsstufe zu entwickeln, die sich als Teil des zusammenhängenden Ganzen, des Kosmos, versteht.» Wunderbar stimmig, eigentlich. Wieso also dieser Abwehrreflex?

Womöglich, so scheint es mir, ist das Selbstbewusstsein in Bezug auf den eigenen Hang zu spirituellen Verheissungen doch noch nicht ganz so eingemittet, wie es den Anschein geben soll. Denn in «Esoterik» schwingt ein Anachronismus mit, wabern Glaubenssätze aus finsteren Zeiten, in denen die Menschen – frei nach Immanuel Kant – noch in ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit harrten und aus der sich der heutige Weltbürger kraft der Aufklärung befreit hat oder zumindest befreit haben sollte. Denn Vernunft, Rationalität und Wissenschaftlichkeit sind in einer modernen Hochleistungsgesellschaft überlebenswichtig, da haben Engel, Einhörner und Ho’oponopono keinen Platz – es sei denn, man unterzieht sie eben einem Rebranding.

Wie viel Umsatz unter dem Banner des Spirituellen gemacht wird, ist kaum zu eruieren. Klar ist nur: Spirituelles ist Hardcore-Kommerz. Zwar kursieren für den deutschen Markt jährliche Umsatzahlen zwischen 25 und 35 Milliarden Euro (im Vergleich dazu: Der weltweite Jahresumsatz von Ikea belief sich 2016 auf gut 35 Milliarden), der Schweizer Markt wird auf etwa eine Milliarde geschätzt. Doch sind diese Zahlen umstritten, denn die Szene ist inzwischen so unübersichtlich geworden, dass man kaum feststellen kann, wie viele Geschäfte und 900er-Nummern es gibt und wer was wo verkauft. Zumal sich die Branche längst auch ins Fernsehen und ins Internet verlagert hat und eine unendliche Plattform bietet für Online-Beratungen, Shops, Orakel-Apps oder Webinare wie der 195 Euro teure Vierwochenkurs «Die Engel der Fülle» von Doreen Virtue: «Ein Mentorship-Programm, das dir beim Überqueren der Grenze zwischen angstbasiertem Leben und dem Leben, das auf Vertrauen gründet, die Hand hält.» Die Umsätze der Spiritualitätsindustrie sind ungefähr so schwer zu fassen wie jene der Online-Pornoindustrie, doch bewegen sie sich, das ergab unsere Recherche, in ähnlichen Dimensionen.

Zugegeben, die Allgegenwärtigkeit der Verheissungen, die über das rational Fassbare hinausgehen, prallt nicht einfach an mir ab, auch wenn ich sie zu objektivieren versuche. Sie fordert mich heraus, mich darin einzuordnen, denn auch ich bin Spirituellem gegenüber nicht unaffin. So bin ich überzeugt davon, dass es zwischen Menschen energetische Beziehungen gibt, und ich glaube daran, dass man kraft seiner Gedanken zumindest sich selber beeinflussen kann. Und bin ich nicht geradezu beunruhigt darüber, dass elektronische Geräte – ich könnte es schwören! – regelmässig abstürzen, just wenn ich gestresst bin? Ich halte mich dann gern an das Mantra der Sci-Fi-Serie «Akte X»: «Die Wahrheit ist irgendwo da draussen.» Dabei ist die Antwort womöglich viel simpler: alles bloss Zufall.

Den Dingen wissenschaftlich auf den Grund gehen, das ist der Anspruch, den eine aufgeklärte Gesellschaft an sich selber stellt. Gerade deshalb wundere ich mich darüber, dass die Affinität für spirituelle Verheissungen, aber auch die Hoffnung auf Orientierung, die man in sie setzt, heute so hoch sind. Ausgerechnet heute, da man unter dem Schreckgespenst postfaktisches Zeitalter den Wert hart errungener Tatsachen in Gefahr sieht. Ein Paradox? Oder befinden wir uns gar schon im parallelfaktischen Zeitalter, wo Fakten und spirituelle Verheissungen gleichwertig betrachtet werden?

Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Zürich und auf die Erforschung religiöser Gegenwartskulturen spezialisiert, analysiert dieses vermeintliche Paradox als eine Akzentuierung des individuellen Lebensstils, dessen Entwicklung in den Nachkriegsjahren ihren Ursprung nahm. Diese Jahre waren geprägt von wirtschaftlichem Aufschwung, der es den Menschen erlaubte, sich anderen Dingen zuzuwenden als dem nackten Überleben. Sie waren geprägt durch die beginnende sexuelle Revolution, die Öffnung gegenüber bewusstseinserweiternden Substanzen sowie die aufkeimende Hippiebewegung (Sie erinnern sich sicher an das Musical «Hair»?), aus der sich Ende der Siebzigerjahre die New-Age-Bewegung entwickelte.

In jener Zeit entstand ein Freiraum für spirituelle Techniken, es stieg das Bedürfnis nach flexibleren religiösen Praktiken sowie der Anspruch, seine Glaubensinhalte individuell gestalten zu können. «Das heisst», sagt Lüddeckens, «ich allein will entscheiden, was mir gut tut, wer ein Guru ist oder welches Buch mir einleuchtet. Es geht mir darum, eine Inspiration zu erhalten, eine Energie, die über das Offensichtliche hinausgeht.» Der Einfluss der Kirche und Vorstellungen von Hölle und Paradies haben zwar abgenommen, doch die existenziellen Fragen nach dem Sinn des Lebens sind geblieben. Und damit nicht genug. Denn hinzu kamen die Herausforderungen einer zunehmend technisierten und globalisierten Gesellschaft, in der das Individuum so vernetzt, aber auch so allein auf sich gestellt werden sollte wie nie zuvor.

In diesem Zusammenhang liegt es mir fern, über die kalte, kapitalistische Gesellschaft zu wettern, das wäre letztlich doch zu simpel. Frühere Zeiten werden gern verklärt, waren jedoch nicht zwingend besser. Doch sind traditionelle Sicherheiten weggefallen, lineare Lebensentwürfe gibt es kaum mehr, der Leistungsdruck auf den Einzelnen ist enorm und damit auch der Druck, Arbeit und Leben angemessen auszubalancieren. Der fast schon blinde Glaube daran, dass alles machbar ist, wenn man sich nur genug darum bemüht, trägt das seine dazu bei. Längst macht in der Businesswelt das Akronym VUCA die Runde. Es steht für Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Unklarheit). Dies sind die Pole, zwischen denen wir uns zurechtfinden müssen – dabei haben wir schön, fit und erfolgreich zu sein und uns erst noch geistig weiterzuentwickeln. Eine geradezu übermenschliche Aufgabe. Da drängt sich spiritueller Input regelrecht auf – was den Yoga-Boom oder die Überhöhung von Lebensmitteln zum Superfood erklären mag. Religionswissenschafterin Lüddeckens drückt dies so aus: «Der Anspruch, über sich selber hinauszuwachsen, ist demokratisiert worden. Einst galt er nur für Eliten oder Heilige. Heute gilt er für jedermann.»

Dass innerhalb dieser Demokratisierungswelle oft auch Methoden beigezogen werden, die bar jeglicher Rationalität sind, eben gerade etwa Tarotkarten, ist für Dorothea Lüddeckens eine Art moderner Stilmix. Menschen, sagt sie, hätten schon immer gut parallel fahren können. Peter Brugger, Professor für Neuropsychologie am Universitätsspital Zürich, vertritt gar die These, dass ein guter Schuss Aberglaube oder der Drang, überall versteckte Botschaften zu sehen, Menschen einen evolutionären Vorteil beschert. Der Wahrnehmungsapparat sei besser bedient, wenn er im Zweifelsfall mehr sieht, als tatsächlich da ist. Brugger erklärt dies anhand eines Neandertalers in der Savanne: Was tut er, wenn sich plötzlich was im Gras bewegt? Setzt er ganz rational auf Zufall, wird er mit Sicherheit bald aufgefressen. Sieht er einen Tiger, selbst wenn gar keiner dort ist, ergreift er zwar ständig die Flucht – bleibt aber länger am Leben.

Im Modegeschäft hält sich die Schlange der Wartenden vor dem Tisch des Tarot-Orakels hartnäckig. Kaum hat eine Dreiergruppe das Rund verlassen, setzt sich die nächste. Die Frauen sind zwischen dreissig und sechzig Jahre alt, vielleicht etwas jünger, vielleicht auch etwas älter. Ärztinnen, Lehrerinnen, Sekretärinnen, Mütter, Kinderlose, Verheiratete, Singles. Alexandra Kruse zieht Dana, die Hohepriesterin, Maria-Magdalena, die Schmetterlingsfrau. Meist geht es um Liebe, ab und zu um Entscheidungen. Die Frauen nicken sich immer wieder vielsagend zu. Alexandra Kruse folgt in ihren Erklärungen stets jener Intuition, der sie auch vertraut, wenn sie jemandem beim Styling hilft. «Eigentlich unglaublich», sagt sie, «ich sitze an der Bahnhofstrasse und orakle. Früher hätte man mich als Hexe verbrannt».

Dass sich gerade Frauen – von der Location mal abgesehen – vom Tarot-Orakel angezogen fühlen, ist kein Zufall. Gemäss einer Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2014, in der erstmals religiöse und spirituelle Praktiken und Glaubensformen in der Schweiz erhoben wurden, sind Frauen gegenüber Metaphysischem affiner als Männer. So glauben 56 Prozent der befragten Frauen, dass es Personen gibt, die über die Gabe des Heilens oder Hellsehens verfügen (bei den Männern sind es immerhin 42 Prozent). Knapp zwei Drittel – gegenüber 37 Prozent Männer – sind sicher, dass Engel oder übernatürliche Wesen über uns wachen, ebenso viele halten es für gegeben, dass es neben der materiellen Welt noch eine andere Wirklichkeit gibt.

Warum Frauen magieanfälliger sind, darüber lässt sich nur spekulieren. Über Klischees kommt man dabei jedoch kaum hinaus. Frauen sind durch Menstruation, Schwangerschaft und Geburt stärker mit der Natur verbunden, heisst es oft, Spirituelles liegt ihnen eben. Neuropsychologe Peter Brugger erklärt die erhöhte Affinität der Frauen damit, dass ihre Hirnhälften, die linear denkende linke und die rechte, eher ganzheitlich denkende, besser zusammenarbeiten. Dadurch hätten Frauen mehr Spass an einem erweiterten Assoziieren. Kann sein. «Vielleicht», sagt Alexandra Kruse, «sind Frauen ganz einfach intuitiver.» Vielleicht aber auch einfach – naiver?

Bevor Sie nun aufschreien: Naiv muss nicht schlecht sein. Möglicherweise ist eine Portion gesunde Naivität gar wohltuend in den Mühlen eines eng getakteten Alltags. Denn schon oft habe ich erlebt, dass Frauen wie Männer mit einem Hang zum Spirituellen sehr viel genussfreudiger sind, etwa einem frisch duftenden Magnolienstrauss mehr abgewinnen können als Skeptiker. Woraus man nun natürlich folgern könnte, dass aufgrund der Menge der heute Spiritualisierten eine gesamtgesellschaftliche Heiterkeit vorherrschen müsste. Doch das tut es nicht. Im Gegenteil, die Zahl der Depressionen und Burn-out-Fälle nimmt zu, selbst bei jungen Menschen. Warum greifen Engel, Einhörner und Yoga-Posen nicht? Kann es sein, dass die spirituellen Helfer am Ende bloss zum Eskapismus verhelfen? Zur Flucht vor der Realität in eine Fantasiewelt?

«Spirituell überhöhte Praktiken haben immer geboomt in Zeiten, die durch ein Zuwenig an sinnstiftendem Geheimnis gekennzeichnet waren – sei es aufgrund wissenschaftlicher Entzauberung oder, wie heute, eines spirituellen Anything-Goes», meint Franz Schlenk, Fachpsychologe für Psychotherapie. Zeiten eben, die geprägt sind durch exzessive Kommerzialisierung, Karrierestreben und die Projektion von Gesundheit und Glück auf oberflächliche Schönheit. Schlenk bezeichnet die heute so populäre Spiritualitätswelle als Mischung aus «religiösem Durcheinandertal und Instantversprechen» und holt gleich zur Entmystifizierung aus: Heilende Steine, Geisteranrufung (Channeling) oder Astrologie aktivieren im besten Fall die Selbstheilungskräfte, wirken als Placebos. Im schlimmsten Fall lenken sie von den eigentlichen Problemen ab, können in die Irre führen oder gar schaden. So kommt es vor, dass Frauen wie Männer sich so in den Gedankenmustern ihrer spirituellen Optimierungsprogramme verheddern, dass sie sich den wesentlichen Fragen nicht mehr stellen (Worum geht es mir wirklich?) oder keine Entscheidungen mehr zu treffen wagen, ohne vorher die Numerologin angerufen zu haben. Gar manche, betont Franz Schlenk, geraten gerade aufgrund des omnipräsenten Angebots an spirituellen Lebenshilfen unter Druck, sich anders fühlen zu müssen, etwa ruhig und glücklich zu sein, obwohl sie es nicht sind – weil es doch möglich sein sollte. Ganz einfach. Vermeintlich. «Es gibt halt nicht immer schnelle Lösungen.»

Dann bleibt uns – Engeln und Einhörnern zum Trotz – nur eines übrig: die Situation auszuhalten. So schmerzhaft oder sinnlos sie auch sein mag. Dies klingt zwar banal und liegt so quer zum Zeitgeist wie ein Festnetzanschluss mit Wählscheibe. Aber manchmal gibt es keinen anderen Ausweg, als sich dem Schicksal einfach zu ergeben.»