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Grosi in der Burnout-Falle: Eine Grossmutter erzählt

Leben

Grosi in der Burnout-Falle: Eine Grossmutter erzählt

  • Redaktion: Stefanie Rigutto; Fotos: Frank Blaser

Grosi schafft das schon! Grossmütter arbeiten gratis und oft fast bis zum Umfallen. Und keinen scherts. Eine 62-Jährige spricht über ihre Zerrissenheit zwischen Glück und Überforderung beim Enkelhüten.

Heute kocht Magi Kraner Ghackets mit Hörnli und Apfelmus. «Ich mache nur noch Kindermenüs», sagt sie. Aufwendige Gerichte lohnten sich nicht bei Kindern – die nähmen einen Bissen und fänden: «Wäh, hani nöd gärn!» Nach dem Mittagessen will sie mit den Kindern Brezel backen, am Nachmittag gehts auf den Spielplatz. Magi Kraner hütet fünf Enkel gleichzeitig. Zwei Tage pro Woche. Sie liebt es. Aber sie merkt auch: Es wird mit jedem Jahr anstrengender. «Ich mag nicht mehr so gut, ich werde älter.» Die Finger tun ihr weh von der Arthrose. Die Hüfte musste sie auch operieren. Nach einem Tag mit den Enkeln sinkt sie abends um 20 Uhr ins Bett. «Glücklich, aber todkaputt.»

An Schlaf ist trotzdem nicht zu denken. Stattdessen denkt Magi Kraner an ihre Enkel. Hätte sie dem Kleinen heute etwas länger zuhören sollen? Oder das andere mehr unterstützen bei den Hausaufgaben? «Bei meinen eigenen Kindern machte ich mir nie Sorgen. Ich war jung, unkompliziert, viel beschäftigt – alles lief rund.» Jetzt, mit dem Alter, hingegen seien auch ihre Ansprüche gestiegen. «Man will nur ja nichts falsch machen.»

Ihre Tochter spürte die Überforderung, schlug vor, die Enkel nur noch einen Tag pro Woche zu hüten. Magi Kraner stritt alles ab, wurde wütend, Tränen flossen. Erst nach einer weiteren schlaflosen Nacht konnte sie sich eingestehen: Mir wächst das Hüten wirklich über den Kopf.

Normalerweise wollen Grossmütter nicht über ihre Probleme reden. So jedenfalls empfindet es Magi Kraner: «Untereinander sprechen die Grossmütter kaum darüber, dass sie überfordert sind, dass ihnen alles zu viel wird.» Sie jedoch wollte reden. Nach der Diskussion mit ihrer Tochter schrieb sie annabelle ein Mail: «Ich fühle mich als Grossmutter allein gelassen mit meinen Problemen.» Die Teenager, die Midlife-Criser, die Mütter – alle hätten sie ihre Foren. Nur die Grossmütter nicht. «Ist es, weil es nicht sein darf? Weil man in dieser Welt ewig jung sein muss? Oder weil man sich schämt?» Wir wollten mehr wissen und verabredeten uns mit Magi Kraner in einem Café im Zürcher Kreis 3, da, wo sie ihre Enkel hütet.

Magi Kraner (62) ist eine gepflegte Frau, kurze graue Haare, weisse Leinenbluse, blaue Quiksilver-Turnschuhe. Sie kommt ursprünglich aus Herisau, wohnt in Rapperswil am Zürichsee. Sie hat vier Kinder und sieben Enkelkinder. Sieben? Sie lacht. «Andere haben zehn!»

Schweizer Grosseltern leisten 100 Millionen Betreuungsstunden

Eigentlich hatten Magi Kraner und ihr Mann nicht geplant, Enkel zu hüten. Als die Kinder aus dem Haus waren, fanden sie: Jetzt kommen wieder mal wir dran! Sie kauften ein altes Haus in Graubünden, fingen an, es nach ihren Wünschen umzubauen. Doch dann wurde die jüngste Tochter schwanger und hatte keinen Partner. «Es war klar: Wir helfen.» Magi Kraner war damals 53 – also genau im Alter, in dem Frauen in der Schweiz durchschnittlich das erste Mal Grossmutter werden.

Zuerst empfanden sie und ihr Mann das Hüten fast als Pflicht. Da geht also unsere Freiheit flöten, dachten sie. Doch ihre erste Enkelin verzauberte sie so, «alles andere wurde nebensächlich». Magi Kraner genoss jede Sekunde – viel mehr, als sie es als Mutter je gekonnt hatte. «Da war man ja immer so erschöpft und musste funktionieren.» Sie erlebte alles viel intensiver, war berauscht vom Wunder des Lebens. «Es hat mir richtig den Ärmel reingenommen.» Schlag auf Schlag folgten die nächsten Enkel. Und wenn man schon eines hütet, kann man ja auch zwei oder drei versorgen, fand Magi Kraner. «So sind wir reingerutscht.» Fünf Enkel, zwei Tage pro Woche.

Die hütenden Grosseltern sind längst keine Ausnahme mehr: Rund ein Viertel kümmert sich regelmässig um die Enkel, davon betreut die grosse Mehrheit diese mindestens einmal pro Woche. Der Generationenforscher François Höpflinger hat errechnet, dass Grosseltern in der Schweiz 100 Millionen Betreuungsstunden leisten, was etwa 50 000 Vollzeitstellen entspricht. Noch nie war die Bindung so eng: Heute sehen 60 Prozent der Grosseltern ihre Enkel mindestens einmal pro Woche. Noch vor fünfzig Jahren war das anders: Da sahen sie sich oft nur zweimal im Jahr – an Ostern und an Weihnachten.

«Wir leisten so viel als Grosseltern, geben so viel von unserer Lebenskraft – und die Gesellschaft merkt es nicht einmal», sagt Magi Kraner. Sie wolle keinen Orden verliehen bekommen, aber mehr Anerkennung wäre schon schön. «Als Rentner spielt man einfach keine Rolle mehr in der Gesellschaft. Dabei sind wir ja noch gar nicht so alt. Heimatland, wir sind erst sechzig! Manchmal denke ich: Das kanns doch nicht schon gewesen sein!»

Sie will noch gebraucht werden, ihren Beitrag leisten. «Die Enkel zu hüten, gibt einem eine Aufgabe.» Zudem halten sie fit und verzögern das Älterwerden. «Man bewegt sich, vergisst die Beschwerden, lacht viel und ist dauernd unterwegs. In der Badi gehe ich wieder auf die Rutschbahn – ohne Enkel hätte ich das nie gemacht.»

Gleichzeitig, sagt Magi Kraner, führe einem niemand das Altern so brutal vor Augen wie die Enkel. «Man fragt sich: Werde ich den Schulabschluss der Jüngsten noch erleben? Mit Enkeln wird einem bewusst, wie zeitlich begrenzt alles ist.» Vielleicht würden sich die Grosseltern deshalb so engagieren, man wolle die verbleibende Zeit so gut wie möglich nutzen.

Magi Kraner und ihr Mann («Er ist der ruhende Pol im Hintergrund») fahren morgens von Rapperswil nach Zürich, holen die Kinder ab, die nicht in Schule oder Kindergarten sind, und gehen dann erst einmal einkaufen fürs Mittag- und Abendessen. Dann gibts einen Kaffee («Den brauchen wir!»), anschliessend geht Magi Kraner nachhause kochen. Immer am Mittwochnachmittag machen die Grosseltern mit den Kindern einen Ausflug, in den Zoo zum Beispiel oder auf den Uetliberg. Man hole schon etwas nach mit den Enkeln, sagt Magi Kraner. «Als wir junge Eltern waren, hatten wir für Ausflüge mit den Kindern weder Zeit noch Energie und auch nicht das Geld.» Erzieht sie auch mit? «Wenn ich allein mit den Enkeln bin, darf ich es machen, wie ich es will – das haben mir meine Kinder so gesagt.» Sobald diese jedoch da seien, halte sie sich zurück. «Das fällt mir manchmal extrem schwer, aber man muss einfach ‹uf d Schnurre› sitzen können.» Jeder erziehe anders, und wenn man dreinrede, gebe es nur Streit. Was nicht heisst, dass sie den Enkeln nicht etwas mitgeben will. «Ich möchte ihnen Entschleunigung vorleben.» Man müsse die Freizeit nicht vollpacken mit Kursen und Hobbys, man könne auch einfach auf einer Wiese spielen und die Ameisen beobachten. Das Leben der Kinder habe heute ein unglaubliches Tempo. «Wenn ich sehe, wie viele Hausaufgaben sie haben – das finde ich wahnsinnig.» Magi Kraner trinkt den letzten Schluck ihres Kaffees. Es ist 11 Uhr, sie muss los, sonst steht das Mittagessen nicht rechtzeitig auf dem Tisch.

«Zwischen Last und Liebe. Die neuen Grosseltern»

Nach den Sommerferien treffen wir sie noch einmal. Sie und ihr Mann waren zwei Wochen in der Bretagne. «Im Sommer bedingen wir uns ein Time-out vom Enkelhüten aus. Ich denke, da haben wir das Recht dazu.» Die Bretagne war allerdings nicht so, wie sie es sich gewünscht hatte. «Es war völlig überlaufen. Manchmal dachte ich, wir wären besser mit den Enkeln in unser Ferienhaus gegangen.» Mittlerweile hütet Magi Kraner nur noch einen Tag pro Woche. «Ich bin so froh», sagt sie. Zwei ihrer Schwiegersöhne hätten freigenommen, und das Kind der dritten Tochter gehe jetzt einen Tag mehr in den Hort. «Das tut mir weh, aber ich muss lernen loszulassen.»

Wir wollen über den Dokfilm «Zwischen Last und Liebe. Die neuen Grosseltern» sprechen, der in der Zwischenzeit im Schweizer Fernsehen gezeigt wurde. Darin porträtiert Filmautorin Eveline Falk verschiedene Grosseltern: Einige hüten voller Freude ihre Enkel und führen daneben noch ein Hotel, andere verweigern sich total und wollen die Gemeinsamkeit mit dem Partner geniessen.

Der Film war ein Erfolg: Jeder vierte Schweizer, der an diesem Abend den Fernseher einschaltete, schaute zu. Zwischen Last und Liebe – Magi Kraner sagt, diese Zerrissenheit spüre sie auch. Sie will die Enkel hüten, aber sie will auch Zeit für sich und ihren Mann haben. Sie will sich für die Familie engagieren und ihre Kinder entlasten, aber sie muss auch ihre Gesundheit respektieren. Was antwortet sie auf die Frage von Filmemacherin Eveline Falk: Zahlen die Grosseltern den Preis für die Freiheit ihrer Kinder? Magi Kraner schüttelt den Kopf: «Meine Kinder sind nicht frei. Sie müssen arbeiten, sonst reicht das Geld nicht.» Ihre Töchter würden teilweise 80 Prozent arbeiten, hinzu kämen der Haushalt und die Kinder – «nein, meine Töchter sind weit entfernt von Freiheit».

Kürzlich wurden sie und ihr Mann zu Freunden an den Comersee eingeladen. Sie mussten absagen. «Wir können nicht, wir hüten dann die Enkel.» Als selbstlos, sagt Magi Kraner, würde sie das nicht bezeichnen. Man verzichte ja auf nichts, man reduziere bloss die Wünsche etwas. Und sie bekomme so viel zurück von ihren Enkeln. Die Allerkleinste zum Beispiel habe gerade angefangen zu laufen. «Der Ausdruck in ihrem Gesicht, dieser Stolz, endlich die ersten eigenen Schritte zu machen, das entschädigt mich für zweimal Comersee. Das ist unvergesslich. Das ist für die Ewigkeit.» Sie hält inne, vielleicht überrascht über so viel Pathos, und sagt dann lachend: «Aber klar, an den Comersee wollen wir schon auch mal.»

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