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Die Zeit der Frauen

Leben

Die Zeit der Frauen

  • Text: Tobias Asmuth; Fotos: Anne Ackermann

Eine Reise in die Hauptstadt Tirana und ins Hinterland zu vier Frauen, die um ein besseres Leben ringen. Weil sie wie viele andere genug haben von Bevormundung und Ungleichheit.

 

«ICH WAR JEDEN TAG IN PANIK»

Ina Balla (40) wurde jahrelang von ihrem Mann geschlagen. Jetzt lebt die Strassenhändlerin von ihm getrennt.

Es ist der beste Ort, den sie sich vorstellen kann. Um den Zogu i Zi, den Amselplatz, in Albaniens Hauptstadt Tirana schieben sich die Autos, laut hupend machen die Fahrer in der abendlichen Rush Hour ihrem Ärger Luft. Auf dem Trottoir drängeln sich die Passanten vorbei an Bettlern und Männern, die an einem Tischchen seelenruhig Backgammon spielen. Gleich daneben steht der Tisch von Ina Balla (40), auf dem sie ihr Sortiment ausgebreitet hat: Lippenstifte, Parfumfläschchen, Duschgels, Nagelschneider, Schlüsselanhänger, Zauberwürfel. Alle sechs Monate muss Ina Balla die Standerlaubnis verlängern, die Gebühr kostet umgerechnet 160 Franken. Jedes Mal fragt sie sich: «Was sollen ich und meine Kinder essen, wenn es nicht klappt?» Ina Balla ist eine kleine Frau, in ihr Gesicht hat die Angst tiefe Linien gezeichnet. «Ich schlafe schlecht», sagt sie, «ich bin immer in Sorge.» Und doch habe sie jetzt wieder so etwas wie Frieden gefunden. «Früher habe ich mich immer gefragt, wann mein Mann kommt, um mich zu schlagen. Ich war jeden Tag in Panik.» Ina Balla versucht zu lächeln, was ihre dunklen Augen noch trauriger aussehen lässt. Ihr Mann war ihre erste Liebe, sie haben sich in einer Markthalle kennengelernt. Vor einem Jahr hat sie ihn das letzte Mal gesehen. Er hat sie über viele Jahre immer wieder verprügelt. Ina Balla versteckte sich bei Freunden, irgendwann schaffte sie es, eine kleine Wohnung zu finden, und erwirkte vor Gericht, dass er sich ihr nicht mehr nähern darf. «Unsere Töchter Giselda und Sarah kann er alle zwei Wochen sehen, aber er hat kein Interesse an ihnen.» Im Bericht der Vereinten Nationen «Öffentliche Wahrnehmung von Geschlechtergleichheit und Gewalt gegen Frauen in Albanien» von 2018 heisst es: «Gewalt gegen Frauen ist tief in den patriarchalischen Traditionen der albanischen Gesellschaft verwurzelt, in strengen Geschlechteridentitäten, in der Achtung des Ehrenkodex, in der Kontrolle der älteren Generationen über die Familie, in Armut, in Ungleichheit in den Bereichen Arbeit oder Bildung.» Ardiana Jaku (36) kennt natürlich den Bericht. Sie ist stellvertretende Ministerin für Gesundheit und Soziales. Tatsächlich sei Gewalt gegen Frauen ein Problem, sagt sie im Gespräch in ihrem Büro im Ministerium. Aber es gebe Fortschritte. So wurde das Gesetz geändert: «Nicht mehr nur Gewalt in der Ehe, sondern auch in Beziehungen ist jetzt strafbar.» Und es sei gut, dass immer mehr Frauen sich auf dieses Gesetz beriefen und sich trauten, Männer anzuzeigen. Weniger gut sei, dass es in Albanien nur ein staatliches Frauenhaus gebe. Wohin sollen die Frauen gehen, die Gewalt erfahren? Ohne die Häuser privater Initiativen sehe es schlecht aus, gibt Ardiana Jaku zu. Aber man habe Verbündete. Der wichtigste sei Awen (Albanian Women’s Empowerment Network). Fast 1500 Frauen hat die Frauenrechtsorganisation 2017 aus gewalttätigen Beziehungen geholt. Oft höre sie, der Kanun, das jahrhundertealte Gewohnheitsrecht der Albaner, sei schuld an der Gewalt, sagt Irena Shtraza (38), die Awen-Geschäftsführerin. Männer hätten das Recht zu strafen, Frauen müssten eben gehorchen. Dabei wisse kaum ein Albaner, was wirklich im Kanun steht. «Nicht das Mittelalter ist schuld an der Gewalt, sondern Arbeitslosigkeit, Armut und Alkohol.» Awen bietet daher auch Aufklärungsprogramme für Männer an. «Wer Frauen helfen will, muss den Männern helfen», sagt Shtraza. In Workshops lernen junge Männer, dass es nichts mit Ehre zu tun hat, eine Frau zu schlagen, und dass es keine Schwäche ist, seiner Frau im Haus zu helfen. Ina Balla bekommt Hilfe von ihrer besten Freundin Lisa. Sie wohnen seit einiger Zeit zusammen und kümmern sich gemeinsam um Inas Töchter.

 

«DAS SELBSTBEWUSSTSEIN DER MÄNNER IST ANGEKNACKST» 

Fernsehmoderatorin Erjona Rusi (35) hat im Internet das erste feministische Magazin Albaniens gegründet.

Um acht Uhr sitzt Erjona Rusi (35) in der Maske. Wie jeden Morgen kämmt Ada ihr die Haare, steckt sie hoch und föhnt sie, tupft ihr Puder ins Gesicht, Lidschatten und Wimperntusche, fertig. Erjona Rusi geht noch einmal vor die Tür, steht neben den Technikern und raucht eine dünne Zigarette, Rothmanns Leggero. Um neun Uhr beginnt «Preze Dielli» (Sonnenstrahlen) im Sender TV-Report. Erjona Rusi, grauer Hosenanzug, silberne Pumps, in der Hand eine rote Nescafé-Tasse, moderiert mit Schauspieler Albon Musa einen Mix aus Talkshow und Nachrichten. Am beliebtesten ist die halbe Stunde, in der Albon eifrig einer strengen Köchin assistiert; heute gibt es Gemüsesuppe. Erjona Rusi hat eine Lehrerin in die Sendung eingeladen, die an Brustkrebs erkrankt ist. Die Frau erzählt von ihrer Therapie und ihrem Leben nach der Krankheit. Erjona Rusi ist begeistert von ihrer Energie. Am Ende sagen beide Frauen zur Kamera gewandt: «Lasst euch untersuchen. Nehmt euch ernst!» Die Zuschauerinnen lieben Erjona Rusi. Aber nach vier Jahren ist sie angeödet von der Routine im Studio, von den Witzchen des Kollegen und von der Hausmannskost der Köchin. Sie hat im Internet das erste feministische Magazin Albaniens gegründet: «Bitch!» Dafür hat sie ein wenig Geld von der US-amerikanischen Botschaft bekommen, für das Programmieren der Website. Der erste Artikel hatte die Überschrift: «Ich liebe Sex, ich bin keine Hure.» Auf «Bitch!» stellt Erjona Rusi Fragen: Warum dürfen junge Frauen keinen Freund haben? Wieso wird nicht über Liebe gesprochen und wird Sex tabuisiert? Warum lassen sich Männer ihre Ehefrauen von der Familie aussuchen? Erjona Rusi sitzt nachmittags in einem der vielen Kaffeehäuser in den Blloku, im schicken Zentrum Tiranas, und raucht ihre dünnen Zigaretten. «Ich bin eine Feministin, die lieber mit Männern als Frauen ein Bier trinkt», sagt sie. Albanische Frauen nervten sie oft, immer dieselben Gesprächen über Küche und Kinder. Doch langsam änderten sich die Dinge. Junge Frauen hätten heute mehr Selbstbewusstsein als ihre Generation. «Mehr Mädchen bekommen die Wahl: Willst du dich verloben oder weiter zur Schule gehen? Viele machen die Matura.» Frauen gingen abends auch alleine aus. Ein Akt des Widerstandes sei das gegen eine altertümliche Schamkultur, die Liebe und Sex tabuisiere, und gegen den Machismo, der Männer feiere, die viele Frauen ins Bett bekämen. «Genau diese Männer wünschen sich dann aber in ihren arrangierten Ehen eine Jungfrau.» Deshalb gebe es immer noch Ärzte, die gut von der Wiederherstellung des Jungfernhäutchens leben können. Erjona Rusi verdreht die Augen und schnalzt missbilligend mit der Zunge. Zum Glück würden immer weniger Frauen sich einer solchen Operation unterziehen. Ein Kameramann im Sender habe zu ihr gesagt, albanische Männer ertrügen es nicht, wenn andere Männer wüssten, dass ihre Frauen schon mit jemand zusammen waren. Warum das so sei, habe sie wissen wollen. Seine Antwort, albanische Männer hätten nicht das nötige Selbstbewusstsein, überzeugte Erjona Rusi: «Das ist wirklich angeknackst.» Vor zu viel Mitgefühl bewahrt sie zuverlässig der albanische Mann. Gerade hat sie einen Kommentar auf «Bitch!» veröffentlicht: «Ich bin eine Schlampe. Und du?» Den Anlass lieferte ihr ein bekannter TV-Moderator, der in seiner Sendung erklärte, in Albanien seien 99 Prozent der Frauen Schlampen. Ob der Typ eigentlich geschieden sei, habe sie eine Freundin gerade über Whatsapp gefragt? Erjona Rusi zuckt mit den Achseln. Sie hofft es: «Sich scheiden zu lassen, ist ein Zeichen von Stärke. Immer mehr albanische Frauen lassen sich scheiden .»

 

«WENN DU ES ANDERS MACHST, ZAHLST DU EINEN PREIS» 

Sängerin Blerina Matraku (38) findet keinen Partner, der ihr selbstständiges Leben akzeptiert.

Sie steht mitten unter den Tanzenden, dreht sich, deutet einen Hüftschwung an, ganz langsam führt sie das Mikro an den Mund. Sie beginnt zu singen, lächelt mit geschlossenen Augen, der Kreis um sie herum wird kleiner und grösser, die Menschen drehen sich immer schneller, erst links dann rechts herum. In Albanien sind Hochzeiten Konzerte. Blerina Matraku (38) singt auf ihnen die ganze Nacht. Die Fotografen vom Studio Viana Professional fahren mit einem Kamera-Arm über die Menge. Im Auftrag der Familien drehen sie ein Video über die Hochzeit von Noja und Ditmira aus Skodra im Norden Albaniens. Auf den Tischen stapeln sich Koteletts und Köfte, Männer laufen durch die Reihen und verteilen Zigaretten. Blerina Matraku singt: «Warum geht ihr nach Deutschland, wenn bei euch in den Bergen die schönsten Frauen leben?» Sie hat vor fünf Jahren angefangen, auf Hochzeiten zu singen. Die Heiratssaison geht von Juni bis September, dann steht die Sängerin oft jede Woche zwischen tanzenden Menschen. Wie ist das Leben als Künstlerin in Tirana? «Ich habe etwas von meinen Vater gelernt, der bei der Armee war: je härter, desto schöner ist es.» Es ist sechs Uhr abends. Blerina Matraku sitzt in der Bar Museum Komiteti und trinkt zwei Espressi. Sie ist erst morgens von der Hochzeit in Skodra zurückgekommen und hat den ganzen Tag geschlafen. Ab Mitternacht wird sie wieder singen, Chansons im Club Amsterdam. Für den Auftritt gibt es umgerechnet 100 Euro. Auf der Hochzeit hat sie 500 Euro verdient. Wenn sich Blerina Matraku mit der Hand durch die Haare fährt, bändigt sie ihre schwarze Mähne nur einen Augenblick. Die Stylisten wollen sie vor ihren Auftritten immer glatt bügeln, sie hasst das, es ist sowieso vergeblich. «Eine eigene Rolle als Frau wird nicht geschätzt in diesem Land. Das, was du zu tun hast, steht fest. Wenn du es anders machst, zahlst du einen Preis.» Wie hoch ist der? Blerina Matraku knipst ein Lächeln an und sagt auf Französisch: l’amour. Es sei schwer einen Mann, sie korrigiert sich, einen Partner zu finden, der ihr Leben akzeptiere. «Du musst Opfer bringen, du kannst nicht mit Kindern eine Karriere als Sängerin starten, nicht in Albanien.» Sie hat mit sechs Jahren im Pionierheim angefangen zu singen (heimlich, weil es die Eltern nicht wollten), mit 19 lief im Radio ein Song von ihr, mit 24 trat sie das erste Mal im Fernsehen auf. Im Augenblick arbeitet sie an neuen Songs. Morgen gibt es einen Dreh für ein Video. Blerina Matraku will jetzt unbedingt ihre Texte und Arrangements zeigen. Durch ihr Auto kugeln auf der Rückbank die Pumps vom letzten Auftritt. Daheim streift sie sich einen rosa Hausmantel aus Frottee über. Blerina Matraku wohnt noch nicht lang in der Zweizimmerwohnung am Liqeni Artificial, dem künstlichen See, am Rand Tiranas. Von der Decke baumeln nackte Glühbirnen. In den Küchenschränken gibt es Reis und Öl, der Kühlschrank ist leer. Das Lied, an dem sie arbeitet, heisst «Lema gemrèn» (Give me your heart), den Refrain singt sie auf Englisch: «Love my spirit without any condition, because only you can give me full love.» Wichtiger als Liebe ist Blerina Matraku ihre Unabhängigkeit. Die meisten Frauen in Albanien seien von Männern abhängig. Auch wenn sie oft müde und manchmal einsam sei, abhängig wolle sie nie sein. Oft singt sie für Paare, deren Ehen arrangiert wurden, auch Noja und Ditmira aus Skodra haben sich vorher nicht gekannt. Blerina Matraku würde sich ihren Mann selbst wählen: «Ich weiss, wo ich suchen müsste. Albanische Männer sitzen meist in Cafés herum.» Die Hochzeit wäre eine Cocktailparty mit viel Champagner und Obst statt Bergen von Fleisch. «Und die Gäste», Blerina Matraku lächelt, «müssten für mich singen.»

 

«MEIN MANN FÄHRT HEUTE DIE PASTA AUS» 

Dasharie Zerja (48) hatte genug davon, sich nur um den Haushalt zu kümmern.

Heute leitet sie ihre eigene Pastamanufaktur. Die Zutaten für mehr Gleichberechtigung sind Mehl, Wasser, Salz und Eier. In der Pastamanufaktur Juvka Zerja füttern zwei Frauen ratternde Maschinen mit Teig, die ihn dünn und dünner walzen, und hängen die Lappen am Ende über Holzgestelle zum Trocknen auf. Duftende Fahnen des Aufbruchs. Dasharie Zerja (48) stellt seit 2009 Juvka her. Erst verkaufte sie die traditionelle albanische Pasta auf Märkten, dann eröffnete sie einen Laden, inzwischen beliefert sie Lebensmittelgeschäfte und Restaurants. In Peshkopi ist ihr Erfolg etwas Aussergewöhnliches. Hier müssen viele Frauen ihre Ehemänner fragen, ob sie das Haus verlassen dürfen, wenn sie einkaufen gehen wollen. Am Anfang war Dasharie Zerjas Mann eifersüchtig. Er hasste es, im Kaffeehaus von Männern zu hören: «Soso, deine Frau hat also ein erfolgreiches Geschäft aufgezogen.» Heute bringt er im Lastwagen die Pasta bis über die nahe Grenze nach Mazedonien. «Leider nicht nach Tirana. Das wäre ein grosser Markt», sagt Dasharie Zerja. Die schlechte Strasse dorthin verhindert, dass ihre Nudelmanufaktur weiter wächst. Wenn Dasharie Zerja durch ihren Betrieb führt, vom Lager mit den Mehlsäcken bis zum beheizbaren Trockenraum, wenn sie die neue Knetmaschine zeigt und die Hygienebestimmungen erläutert, tut sie das mit Stolz. Sie sei, erzählt sie, eine gute Schülerin gewesen, sie wollte die Universität besuchen, habe aber früh geheiratet und ihr Mann verbot ihr, zu studieren. Dann hatte sie genug davon, sich nur um den Haushalt zu kümmern. Sie besuchte einen Kurs der Frauenhilfsorganisation Agritra. Sein Thema: Selbstermächtigung. Danach ging sie in ein Seminar über Selbstständigkeit und belegte Kurse über Vertrieb und Marketing. Agritra ist Teil des Awen-Netzwerks, der grössten Frauenrechtsorganisation Albaniens. «In armen Ländern sind Geschlechterstereotype besonders zäh», sagt Irena Shtraza (38), Geschäftsführerin von Awen. «Männer verdienen das Geld und Frauen bleiben im Haus.» Wenn sie denn überhaupt Arbeit hätten, reiche das Einkommen vieler Männer aber nicht. «Seit fünf Jahren verlassen die Leute Albanien in Scharen.» Es seien die Frauen, von denen das Überleben der Familien abhänge. «Wenn wir Dasharie mit einem günstigen Kredit beim Kauf einer Knetmaschine unterstützen, helfen wir dem ganzen Land.» Tatsächlich entwickeln sich Länder besser, wenn Frauen ein aktiver Teil des Wirtschaftslebens sind. Für die Weltbank ist die Ausbildung von Frauen kluge Wirtschaftspolitik, der Internationale Währungsfonds möchte Unternehmerinnen stärken, und die Bill & Melinda Gates Foundation, die grösste private Stiftung der Welt, sieht in Frauen Agentinnen des Wandels. In Peshkopi hat der erwachsene Sohn einer solchen Agentin vor einer Weile gesagt: «Mutter sei nicht mehr traurig, dass du nicht studiert hast. Dein ganzes Talent steckt hier in deinem Geschäft.» Ihr Sohn, sagt Dasharie Zerja und lächelt dabei, sei nicht wie ihr Mann vor zwanzig Jahren.