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Angst vor der Dunkelheit: Die dunkle Seite der Nacht

Leben

Angst vor der Dunkelheit: Die dunkle Seite der Nacht

  • Text: Yvonne Eisenring; Illustration: Andrew Rae

Wenn andere tief schlafen, liegt unsere Autorin wach und hat Angst. Angst vor der Dunkelheit.

Ohne Rico wär ich heute müder. Rico, der Nachbarsbub, gab mir nämlich den Tipp, der mir manch schlaflose Nacht ersparte: «Du musst deine Füsse unter der Decke behalten, dann hackt sie dir der böse Mann nicht ab.» Ich war damals fünf und ein zufriedenes, unbekümmertes Kind. Tagsüber jedenfalls. Wurde es Abend und, wie meine Mutter entschied, «höchste Zeit, ins Bett zu gehen», fing der Horror an. Kaum war es dunkel und ich allein im Zimmer, kletterte der böse Mann die Hauswand hinauf (wir wohnten im fünften Stock, aber das ist ein Detail). Er stieg durchs Fenster (es war meist geschlossen, aber das ist ein Detail), schlich zu meinem Bett, sah meine Füsse unter der Decke hervorlugen, und zack, hackte er sie ab. Nun, dank Rico wusste ich, dass der böse Mann wieder umkehrt, wenn er die Füsse nicht findet. Ich verschmachtete im Sommer zwar fast unter der Decke, doch im Vergleich zu einem fusslosen Erwachen ist das ein kleines Übel.

Richtig entspannt waren die Nächte aber auch mit zugedeckten Füssen nicht. Bevor ich ins Bett ging, musste mein Vater mit mir jeden Winkel der Wohnung absuchen. Könnte sich ja irgendwo ein Räuber verstecken. Dann installierte er in meinem Zimmer drei bunte Leuchtstecker. Nun war es beinah taghell – für meine Horrorvorstellungen aber immer noch dunkel genug.

Ja, so war das, als ich noch klein war. Heute ist natürlich alles anders. Ich wohne nicht mehr bei meinen Eltern, besitze keine Leuchtstecker, und Rico gibt mir keine Schlaftipps mehr. Nur etwas ist geblieben: die Angst vor dem Dunkeln.

Bin ich allein zuhause, lasse ich nachts im Bad das Licht an. Schlecht für mein Öko-Karma, ich weiss. Aber was soll ich machen? Nachts muss man andere Prioritäten setzen. Hilft das Licht nicht, liege ich wach im Bett. Bei jedem Geräusch zucke ich zusammen. Dass ich stark kurzsichtig bin, macht die Sache nicht besser. Mit minus 5.5 Dioptrien wird ein verschwommener Kleiderständer schnell zu einer unheimlichen Gestalt. Aber nicht was ich sehe noch was ich höre, raubt mir den Schlaf. Meine Fantasie ist viel schlimmer. Kein Gedanke ist zu absurd, keine Vorstellung zu brutal für mich. In der Dunkelheit würde sich das magische Denken entfalten, sagen Psychologen. Für Kinder ist die Angst vor der Dunkelheit – Achluophobie wird sie genannt – «wichtig für die Entwicklung». Die meisten würden diese Angstform mit dem Älterwerden überwinden. Schön, ich nicht.

Woher meine Angst kommt, ist mir ein Rätsel. Ich wurde nie überfallen. Bei mir wurde nie eingebrochen. Ich kann auch von keinem schlimmen Kindheitserlebnis berichten, das jeden Therapeuten wissend nicken lässt. Dass Horrorfilme und Thriller meine Fantasie angekurbelt haben, muss ich mir auch nicht vorwerfen. Aus Prinzip schaue ich nur Komödien und Liebesfilme. Hinzu kommt, dass meine Schwester praktisch kein Problem mit der Dunkelheit hat. Genetisch bedingt ist das also nicht.

Evolutionsbiologen sehen den Ursprung der Angst in jenem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, als unsere Vorfahren die Geborgenheit der Baumwipfel verliessen und in die Freiheit der offenen Savanne hinauszogen. Seit diesem Moment kämpfe der Mensch gegen die Furcht im Dunklen, besonders vor dem, was ihn von hinten anspringen könnte. Neurologen wiederum loben die Hormone und Botenstoffe dafür, wie sie bei Gefahr unsere Wahrnehmungsfähigkeit steigern. Wie schön, dass dies auch funktioniert, wenn die Gefahr nur in unserem Kopf existiert. Und Psychologen sehen den Grund wie immer in einem seelischen Defizit: Die Furcht vor Kontrollverlust und ein fehlendes Urvertrauen seien schuld. Blöd nur: Ich bin zuversichtlicher als mancher Zeitgenosse, und als Kontrollfreak wurde ich noch nie bezeichnet.

Ganz egal, woher die Angst gekommen ist, es ist nun an der Zeit, dass sie wieder geht. Das entschied ich vor zwei Jahren. «Laufe vor einem Gespenst fort, und es wird dich verfolgen. Gehe auf es zu, und es wird verschwinden.» Ganz nach diesem alten irischen Sprichwort fragte ich eine Bekannte, die völlig abseits vom Schuss einen alten Bauernhof im Berner Oberland besitzt, ob ich einige Tage dort wohnen dürfe. Ich durfte und fuhr also das schmale Strässlein zum wirklich sehr hübschen, aber sehr alten und sehr grossen Haus hinauf. Ein wunderschöner Ort zum Entspannen. Weit und breit nichts. Nur Gras und Hügel und Schafe. Ich war guten Muts. Auch Spinnenphobien werden schliesslich mit dem Kontakt zu Spinnen therapiert. Schaffte ich drei Nächte in einem Haus, wo die nächste Strassenlaterne fünf Kilometer weit entfernt steht, würde ich auch in meiner Wohnung im nie schlafenden Zürcher Kreis 4 keine Angst mehr haben.

Nun, mein Feind, die Dunkelheit, liess sich von meinem aufkeimenden Mut kein bisschen beeindrucken. Schon um 20 Uhr konnte ich ihn nicht mehr ignorieren. Ich versuchte mich abzulenken. Schaute fern. Schon war ich in der Klemme: Liess ich den Fernseher an, bekam ich Angst, den Räuber nicht zu bemerken. Machte ich ihn aus, bemerkte ich ihn, ohne dass er da war. Mir blieb nichts anders übrig, als schlafen zu gehen. Zu meinem Pech standen die Betten im oberen Stock. So weit weg von der Haustür traute ich mich nicht. Kann ja sein, dass ich flüchten muss. Ich legte mich also aufs Sofa. Es war schrecklich unbequem, und am nächsten Morgen konnte ich meinen Kopf nicht mehr drehen, weil er so schräg auf der Lehne lag. Immerhin: Ich habe die Nacht überlebt. Meine Angst hat sie leider auch überlebt.Den ganzen Tag versuchte ich mich mit rationalen Überlegungen zu beruhigen. Niemand wird den weiten Weg hierher machen, um einzubrechen. Und wenn doch, macht er es nicht nachts. Gemäss der Schweizer Einbruchstatistik wird zwischen 11 und 13 Uhr am meisten eingebrochen. Zwischen Mitternacht und 9 Uhr morgens ist es am friedlichsten. Aber was nützt eine Statistik gegen Panik. Die nächste Nacht auf dem Sofa war genauso schlimm. Am dritten Tag brach ich das Experiment ab.

Ich musste einsehen: Die Dunkelheit sitzt am längeren Hebel. Erbarmungslos bringt sie die Angst Nacht für Nacht zu mir. Bin ich in Gesellschaft, traut sie sich weniger. Bin ich allein, umso mehr. Ihr mit Logik beikommen zu wollen, ist vergebene Liebesmüh. Letzte Woche fuhr mein Freund für zwei Tage ins Ausland. Ich traf zwei Kolleginnen und erzählte, dass ich das immer sehr blöd fände. «Jöö, bist du herzig.» – «Nenei, nicht vor lauter Sehnsucht. Ich schlafe so schlecht, weil ich Angst habe, nachts allein zuhause.» Wie das so ist, bekam ich vorerst nur plumpe «Das kennt doch jeder»-Sätze zu hören. Sie würden auch nur ungern allein durch den Wald spazieren, wenn es schon dunkel ist. Ich musste lachen. Nachts allein durch den Wald ist für mich keine Frage der Präferenz. Es ist schlicht keine Option. Sogar wenn ich abends durch die belebte Zürcher Innenstadt laufe, umklammere ich das Handy. Würde hinter einer dunklen Hausecke einer lauern, hätte ich noch Zeit, um auf den Anrufknopf zu drücken. Aber das sagte ich natürlich nicht. Mit der Zeit kamen erstaunlicherweise auch handfeste Ratschläge. Ich müsse vor dem Zubettgehen alle Schränke und Betten kontrollieren, das würde sie auch immer machen, sagte eine der beiden. Die andere gab zu, im Gang immer ein kleines Lämpchen brennen zu lassen. Und wenn sie nachts aufs WC müsse, gehe sie doppelt so schnell wie tagsüber.

Am nächsten Morgen – natürlich schlief ich schlecht – fragte ich einen Kollegen, ob er ebenfalls nächtliche Sicherheitsvorkehrungen treffe, wenn er allein zuhause ist. Tut er! Er würde immer die Türen so energisch aufmachen, dass sie an die Wand knallen. Einfach für den Fall, dass ein Einbrecher dahinter steht. Und was, wenn die Tür tatsächlich mal auf Widerstand stösst? «Dann würde ich sofort ohnmächtig!» Aber seine Vorstellung sei eh nur ein Hirngespinst. Das sagte auch die Kollegin, die gestand, immer hinter den Duschvorhang zu schauen, wenn sie spätabends ins Badzimmer gehe. Dass noch nie von einem Fall berichtet wurde, wo der Räuber in der Wanne wartete, sei ihr bewusst. Sie macht es trotzdem. Irgendwie beruhigte mich das.

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