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«Das Gras ist anderswo nicht grüner»

Leben

«Das Gras ist anderswo nicht grüner»

  • Interview: Leandra Nef; Foto: GettyImages

Gabi Baumgartner wanderte vor 22 Jahren nach Hongkong aus. Inzwischen hat sie drei Kinder und führt einen eigenen Tourenanbieter. Wir haben mit ihr über Integration, die Vereinbarkeit von Familie und Job und die AHV gesprochen. Plus: Ihre zehn Tipps zur Megametropole.

annabelle: Gabi Baumgartner, Sie sind 1996 nach Hongkong ausgewandert. Haben Sie sich damit einen Lebenstraum erfüllt?
Gabi Baumgartner: Gar nicht. Ich hatte nie geplant, auszuwandern. Ich war 27, hatte zwei Jahre zuvor meine Ausbildung zur Innenarchitektin in Zürich abgeschlossen und wollte für zwei, drei Jahre woanders arbeiten. Damals konnte man nicht einfach nach freien Stellen in fernen Ländern googeln. Ich habe nach Unternehmen gesucht, die Schweizer zum Arbeiten ins Ausland schicken. In Hongkong hat sich eine Chance eröffnet, also haben mein Partner und ich sie ergriffen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir überzeugt davon, in die Schweiz zurückzukehren.

Warum kam es anders?
Kurz nach unserer Ankunft in Hongkong haben wir unser erstes Kind bekommen. Irgendwann waren es drei, wir haben uns mit den Eltern ihrer Schulgschpänli angefreundet, uns beruflich eingenistet und sind schliesslich geblieben. Seither ist es so, als ob wir von Zürich nach Bern gezogen wären: Man überlegt sich nicht ständig, ob man zurück nach Zürich soll. Aber man sagt auch nicht: Ich geh nie mehr zurück. Man lebt halt einfach in Bern.

Was hilft ausser den Kindern bei der Integration?
Die Sprache! Da ich bei der Ankunft in Hongkong schwanger war, habe ich meine Stelle nie angetreten und stattdessen von Anfang an drei Stunden pro Tag in der Sprachschule verbracht. Nach eineinhalb Jahren konnte ich fliessend Kantonesisch. Dank der Sprache erfährt man auch viel über die Kultur eines Landes. Darum unbedingt einen Sprachkurs besuchen, und zwar den längsten! Auch wenn der vermutlich nicht günstig ist, diese Investition lohnt sich.

Helfen Expat-Events, um an einem neuen Ort anzukommen?
Nicht unbedingt. Ich war einmal an einer 1.-August-Feier in Hongkong. Das fand ich ganz komisch. Die Menschen, die an solchen Anlässen teilnehmen, sind oft nur kurz hier und bleiben lieber unter sich. Anschluss bei Hongkongern findet man so jedenfalls nicht, der wäre aber wichtig, um sich langfristig wohlzufühlen. Es wäre mir auch nie in den Sinn gekommen, meine Kinder auf eine Schweizer Schule zu schicken. Allgemein habe ich wenig Kontakt zu Schweizern in Hongkong.

Bewusst?
Nein. Aber die meisten meiner Freunde sind Menschen, die hier aufgewachsen sind. Oft haben sie selbst längere Zeit im Ausland verbracht – diese Erfahrung verbindet uns. Leute, die nur für zwei, drei Jahre wegen ihres Berufs hierherkommen, treffe ich im Alltag erst gar nicht.

Wie findet man einheimische Freunde?
Man sollte bei verschiedenen Aktivitäten mitmachen – auch bei solchen, die einem zunächst vielleicht nicht zusagen: Im Chor mitsingen etwa oder einen Mannschaftssport spielen. So trifft man Einheimische. Wenn an einem Ort viele Menschen in die Kirche gehen, kann man sich ab und zu anschliessen – auch wenn man das zuhause nie getan hätte. So lernt man die Kultur besser kennen.

Welche Fehler dürfen Auswanderer nicht begehen?
Nur auszuwandern, weil der Partner das möchte. Ich glaube, vor allem am Anfang – wenn das Auswandern durchaus manchmal schwierig sein kann – wäre es fatal, wenn man die Schweiz nicht aus eigener Überzeugung verlassen hätte. Was ich auch oft sehe und was mir sehr fremd ist: Expats, die schlecht über Einheimische sprechen. Ich fühle mich den Menschen hier sehr verbunden und bewundere vieles an ihnen, etwa wie sie mit ihren Grossfamilien auf engem Wohnraum leben. Klar, einen schönen Tag verbringe ich viel lieber draussen im Grünen als wie die Hongkonger in der Shoppingmall. In solchen Momenten muss man sich aber in Erinnerung rufen, dass man anders aufgewachsen ist, einen anderen kulturellen Hintergrund hat, andere Werte und Prioritäten. Das hilft dabei, tolerant zu bleiben.

Wie viel Geld sollte man zur Seite legen, bevor man auswandert?
Wir sind mit einem Budget von null Franken nach Hongkong geflogen. Aber wir hatten einen zugesicherten Job. Wenn man mit sechzig auswandert, um seine Pension zu geniessen, sollte man sich ein gewisses finanzielles Polster ansparen.

Null Franken – ohne Geld braucht es aber zumindest einen Plan B?
Man sollte sich natürlich bewusst sein, dass man scheitern kann mit seinem Vorhaben. Wenn man allen sagt, wie blöd man sie und die Schweiz findet – ja, dann wird es relativ schwierig, zurückzugehen. Hongkong ist nicht besser als die Schweiz, das Gras ist anderswo nicht grüner. Wenn jemand unzufrieden mit sich selbst ist, ist er woanders nicht zufriedener.

Wie sieht es mit Versicherungen aus?
Das kommt darauf an, in welches Land man auswandert und wie die Versicherungssituation vor Ort aussieht. In jedem Fall lohnt es sich zu überlegen, die AHV in der Schweiz freiwillig weiterzuzahlen. Bei der Altersvorsorge hat die Schweiz den meisten Ländern etwas voraus. In Hongkong etwa gibt es nichts Vergleichbares. Hier sind die Kinder die Altersvorsorge – was oft dazu führt, dass sie keine richtige Kindheit haben, weil sie schon im jungen Alter akademisch gepusht werden, um später einen guten Job zu bekommen.

Apropos Job: Wie sieht es mit der Vereinbarkeit von Job und Familie in Hongkong aus? Sie leiten einen Tourenanbieter in der Metropole.
In Hongkong ist es ganz normal, dass beide Partner arbeiten. Es bleibt niemand zuhause bei den Kindern, sonst könnte man sich das Leben hier nicht leisten. Diese Selbstverständlichkeit hat es sicher auch für mich einfacher gemacht, beides unter einen Hut zu bekommen.

Zehn Hongkong-Tipps von Gabi Baumgartner

  • Im Stadtzentrum von Hongkong Island sind die ersten 400 der 800 Meter langen Rolltreppe ein Muss, sie bringt einen hangaufwärts in die kleinen Strassen der Innenstadt. Das ganze Gebiet rund um die Hollywood Road und die Rolltreppe eignet sich wunderbar zum Schlendern und Entdecken der kleinen Läden, Imbisslokale und Galerien
     
  • Die Auswahl an gutem und günstigem Essen in Hongkong ist überwältigend. Ich empfehle einen Besuch in einem der vielen typischen China-Restaurants, die mittags Dim Sum servieren
     
  • Gutes Essen gibt es aber nicht nur im Restaurant, sondern auch auf der Strasse: Vom frischen Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch an der Gage und der Graham Street kann ich nicht genug bekommen. Ausserdem sehr zu empfehlen: der Nudelsuppen-Stand an der Gough Street 
     
  • Wer Tee mag, sollte im «Gong Fu Teahouse» vorbeischauen
     
  • Am Abend lohnt sich ein Drink in der Rooftop-Bar des «The One», eines Hochhauses in Tsim Sha Tsui. Von da hat man einen tollen Blick auf Hafen, Skyline und die Lichter der Stadt
     
  • Zu Fuss der Hafenpromenade entlang schlendern, entweder auf der Kowloon-Seite von Hung Hom bis zur Anlegestelle der Star Ferry in Tsim Sha Tsui, oder aber auf der gegenüberliegenden Seite auf der Insel von Wan Chai bis Sai Ying Pun. Die beste Tageszeit dafür: abends, bei Sonnenuntergang
     
  • The Peak, Hongkongs Hausberg, ist zwar kein Geheimtipp, aber der Ausblick von da ist tatsächlich umwerfend. Wer den Rundweg um den Peak wählt, kann den Massen ausweichen
     
  • Als Tourenanbieterin und Naturfan liegen mir natürlich die Wanderungen in Hongkongs Umland am Herzen. Der Klassiker: der Besuch des Drachenrückens – eine kurze, sportliche Tour mit toller Aussicht. Oder aber man besucht die Deserted Beaches. Das ist ein Tagesausflug, auf dem man Strände entdeckt, die man so in Hongkong vermutlich nicht erwartet hätte
     
  • Im PMQ – Police Married Quarters, das Haus wurde ursprünglich als Wohnhaus für Polizeibeamte errichtet – findet man unzählige kleine Läden. Die Stadt unterstützt hier Jungunternehmer mit günstigeren Mieten. Ein Besuch durch die offenen Stockwerke lohnt sich, die Betriebe sind kunterbunt gemischt, aber sie alle sind kreativ, jung und lokal
     
  • Wer sich für Handwerkskunst und Flora entscheidet, sollte im Nan Lian Garden und im Chi Lin Nunnery in Diamond Hill vorbeischauen. Hier zeigt sich die chinesische Handwerkskunst von der besten Seite, der Tempel aus Holz und die Ausstellung der Bonsai und Steinskulpturen geben dem Ort eine ganz besondere Atmosphäre. Der Garten wird mit grosser Sorgfalt von den buddhistischen Nonnen und Helfern gepflegt, und das Restaurant unter dem Wasserfall im hinteren Teil des Gartens serviert ausgezeichnetes buddhistisch-vegetarisches Essen

 

Gabi Baumgartner leitet seit 2013 den Tourenanbieter «Walk Hong Kong». Sie beschäftigt acht Tourguides, die Touristen in Deutsch, Französisch und Englisch durch die Megametropole führen und entlang der Küste des südchinesischen Meeres, wo Naturverbundene ausgiebig wandern können

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