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Ian McEwan: Eine Begegnung mit dem englischen Star-Autor

Leben

Ian McEwan: Eine Begegnung mit dem englischen Star-Autor

  • Text: Christian Seiler;  Fotos: Urban Zintel

Privacy ist dem englischen Bestsellerautor heilig. Und doch war seine eigene Lovestory der beste Einstieg, um mit ihm über sein neues Buch «Honig» zu reden. Denn McEwans Ähnlichkeit mit seiner Romanfigur Tom ist alles andere als zufällig.

Interviews mit Ian McEwan sind nicht frei von Nebenwirkungen. Manchmal, wenn man mit dem englischen Schriftsteller nur über ein neues Buch sprechen möchte, wird man nach dem Interview geheiratet. 1995 befand sich McEwan, damals bereits Autor von mehreren äusserst erfolgreichen Romanen wie «Der Zementgarten» oder «Unschuldige», am Ende seiner ersten Ehe. Die Trennung verlief nicht gütlich. Es gab einen vergifteten Streit um das Sorgerecht für die beiden Söhne. In dieser Zeit schrieb McEwan das Kinderbuch «Der Tagträumer», und weil auch dieses Zwischenprodukt seines literarischen Schaffens Öffentlichkeit brauchte, bestand McEwans Verleger darauf, dass sein Autor ein paar Interviews gebe. «Nicht mehr als zwei», entschied McEwan und bestand darauf, nur mit Zeitungen zu sprechen, die ihn noch nie interviewt hatten. Sein Verleger wählte den «Daily Express» aus, ein britisches Revolverblatt, und die «Financial Times». McEwan, der nichts von seinen privaten Problemen nach aussen dringen lassen wollte, empfing die Journalisten nicht zuhause, sondern im Büro seines Verlegers.

Als Annalena McAffee in den Besprechungsraum kam und ihr Aufnahmegerät einschaltete, begrüsste McEwan sie mit der Bemerkung «Sie sind also die Kinderbuch-Redaktorin der ‹Financial Times› …». McAffee war für die gesamte Kulturberichterstattung des Weltblatts verantwortlich, aber sie klärte den Irrtum nicht auf, sondern fand schnell in ein Gespräch mit McEwan, das dieser als «faszinierend» empfand. Als die 45 Minuten vorbei waren – McEwan meinte damals und meint heute, dass in drei Viertelstunden alles Notwendige gesagt werden muss –, klopfte die Pressefrau vereinbarungsgemäss an die Tür und hauchte «Letzte Frage bitte», aber nicht McAffee, sondern McEwan bat um «noch fünf Minuten». Nach fünf Minuten schlug McEwan noch einmal fünf Minuten heraus, aber irgendwann musste er auch mit dem «Daily Express» sprechen. Doch das Gespräch mit Annalena McAffee wirkte nach. «Der Gedanke an sie suchte mich regelrecht heim», sagt McEwan. Er rief Annalena McAffee an und lud sie zum Abendessen ein.

Ungewöhnlicher Beginn einer Liebesgeschichte

Sie war verwundert, zumal sie dachte, McEwan sei der glücklich verheiratete Familienmensch, als der er in den Zeitungen immer beschrieben wurde. Es dauerte schliesslich sechs Monate, bis die beiden ein Paar wurden. 1997 heirateten sie. Für beide war es die zweite Ehe. Der ungewöhnliche Beginn dieser Liebesgeschichte bietet sich für Scherze natürlich an. Als McEwan bei Erscheinen seines neuen Romans «Honig» von der «Financial Times» zum Lunch eingeladen wurde, sagte er der Journalistin Caroline Daniel: «Normalerweise heirate ich meine FT-Interviewerin, aber diesmal wird das nicht klappen.» Mir antwortet er auf die Frage nach Nachwirkungen des Initialinterviews mit seiner jetzigen Frau, dass er sich seither nicht mehr verpflichtet fühle, jemanden zu heiraten, der ihn interviewt. Trotzdem ist eine Liebesgeschichte ein guter Start, um über noch eine Liebesgeschichte zu sprechen. In seinem eben bei Diogenes erschienenen Spionageroman «Honig» trägt der junge Schriftsteller Tom Haley, von dem sich die Heldin des Buchs, Serena Frome, angezogen fühlt, die Züge des jungen Ian McEwan.

Wie dieser studiert Haley an der Universität in Sussex Literatur, wie dieser schrieb er zu Beginn seiner Karriere «etwas besserwisserische» (McEwan) Aufsätze und Kurzgeschichten – etwa ein Pamphlet gegen Deutschlands Autoren, die nicht über die Berliner Mauer schreiben wollten, weil sie fürchten, dass sie ihre Kritik an der DDR ins rechte Eck rücken würde. Solche Wortmeldungen passten ins Beuteschema des Inlandgeheimdiensts MI 5 – und schlagen damit auch Serena in ihren Bann, die als untere Charge beim Geheimdienst arbeitet und Tom für dessen Zwecke gewinnen will. Die Geschichte spielt in der Zeit des kulturellen Kalten Kriegs, London, Anfang der Siebzigerjahre. Damals hatten die Nachrichtendienste der USA (CIA) und Grossbritanniens (MI5) ein erstaunliches Budget dafür freigeschlagen, die demokratischen Werte der Meinungsfreiheit und der offenen Gesellschaft zu verteidigen, indem sie in Kultur investierten. «Mit erstaunlich gutem Geschmack», sagt McEwan. Über eine Reihe von Tarnorganisationen wurden Literaten, Maler und Musiker von der CIA unterstützt – heimlich, wohlgemerkt, was die Sache einigermassen paradox machte. Der Westen investierte Millionen in die Freiheit der Kunst – und gab es nicht zu.

«In mir begann sich die Idee zu verfestigen», sagt McEwan, «einen Spionageroman darüber zu schreiben, wie Nachrichtendienste die Fantasie unterwandern, indem sie in die Kultur eindringen. Dazu gehörte natürlich auch eine Liebesgeschichte.» Serena reist also nach Sussex, um Tom Haley anzuwerben. Sie ist als Repräsentantin der Stiftung Freedom International getarnt, deren Zweck es ist, hoffnungsvolle Künstlerkarrieren anzustossen. Sie bietet Tom Haley ein Gehalt an, das ihn für mehrere Jahre finanziell unabhängig macht. Hier endet übrigens die Parallele zwischen dem Romanheld Tom Haley und dem Autor Ian McEwan. «Bei mir», sagt McEwan, «stand nie eine schöne Frau im Zimmer, die mir ein gutes Gehalt versprach.» Es ist ein Vergnügen zu lesen, wie McEwan sich selbst porträtiert, durch die Augen der jungen Adorantin betrachtet, seiner Ich-Erzählerin Serena: «Ich hatte mich zu Recht auf eine Enttäuschung gefasst gemacht. Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein schmächtiger Mann, der sich aber immerhin die Mühe machte, seinen etwas krummen Rücken gerade aufzurichten. Er war schlank wie ein Mädchen, hatte dünne Unterarme, und als ich seine Hand schüttelte, kam sie mir kleiner und weicher vor als meine eigene. Sehr blasser Teint, dunkelgrüne Augen, lange dunkelbraune Haare, zu einer Art Bob geschnitten.

In den ersten Sekunden fragte ich mich, ob mir in seinen Erzählungen ein transsexuelles Element entgangen sei.» Serena und Tom werden ein Paar, heimlich, wie es sich für eine Spionagegeschichte gehört, und die Handlung nimmt ihren Lauf – spannend, unkonventionell und so unterhaltsam, dass «Honig» auch der ruhelosen Vielleserin Serena gefallen würde, obwohl ihre literarischen Qualifikationen bescheiden sind. Ganz im Gegensatz zu Tom, dessen Liebe zu Borges oder Pynchon die Latte für eine akzeptable Geschichte deutlich höher legt. Aber auch Tom käme bei der Lektüre von «Honig» auf seine Rechnung. «Genau das war der Punkt», sagt McEwan. «Ein Buch zu schreiben, das Serena und Tom gefällt. Die beiden haben sehr ausgeprägte literarische Ansätze. Der von Serena ist tief, ein bisschen vulgär und einfach – ich finde das im übrigen nicht unsympathisch, denn es zwingt den Schriftsteller dazu, permanent Neugier zu erzeugen. Serena wünscht sich einen Roman, der mit ‹Heirate mich› endet, und das bekommt sie. Tom Haley wünscht sich einen postmodernen Roman, der sich mit der eigenen Kunstfertigkeit beschäftigt – auch das bekommt er.» «Honig» ist Ian McEwans 13. Roman. Mit «Der Zementgarten» und «Saturday» sind ihm veritable Welterfolge gelungen.

Kritik am Kommunismus

Für «Amsterdam» bekam er den begehrten Booker-Preis. Sein Roman «Abbitte» wurde mit Keira Knightley verfilmt, der Film gewann einen Oscar und verkaufte vier Millionen Exemplare Bücher. In «Unschuldige», seiner ersten Agentengeschichte, die in Berlin spielt, sagte McEwan 1989 den Fall der Berliner Mauer voraus, der unmittelbar darauf erfolgte: «Zu meiner eigenen Überraschung, um ehrlich zu sein.» – «Aber Sie hatten es doch vorhergesagt …» – «Man kann etwas auch prophezeien, ohne zu glauben, dass man recht hat.» In «Honig» beamt McEwan sich gleichwohl selbst noch einmal zurück in die Zeit, als diese Erfolge alle noch vor ihm lagen. Eine Zeit, als er noch kinderlos war, tagsüber hart arbeitete und abends mit den Kumpels in der Kneipe sass, trank und über Politik diskutierte. Im neuen Buch ist ein Nachhall dieser Diskussionen zu vernehmen. «Es gab damals die Angst», sagt McEwan, «dass man durch Kritik am Kommunismus automatisch als Freund der CIA gelten würde. Dieses schreckliche binäre Denken war das Produkt des Kalten Kriegs. Aber nur weil dein Feind etwas für falsch hält, muss es noch lange nicht richtig sein.»

Seit seinen Anfängen in den Siebzigerjahren ist McEwan mit den Schriftstellern Martin Amis und Julian Barnes befreundet, die wie er weit über den literarischen Korridor hinaus bekannt sind. Amis, dessen Lebenswandel (und Zahnbehandlungen) zeitweise Thema der Klatschpresse waren, bekommt in «Honig» sogar einen kleinen Auftritt. In der Runde, der die drei Freunde angehörten, wurde jeden Abend die Kontroverse, das eigenständige, autonome Denken geübt, wie es auch McEwans Alter Ego Tom Haley im Roman tut. McEwan, obwohl ein Linker, kritisierte die Sowjetunion genauso wie die DDR und andere totalitäre Regimes. Auch 2003 stellte er sich gegen den linken Mainstream, indem er den Militärschlag gegen Saddam nicht verurteilte. «Ich fand es schwierig, gegen die Entfernung eines faschistischen Diktators aus seinem Amt demonstrieren zu gehen.» Er änderte seine Meinung aber, noch bevor der Militärschlag geführt wurde, «weil ich das Gefühl hatte, dass die Amerikaner keine gute Show aus dem Ganzen machen würden».

Die Kritik, die er sich mit seiner öffentlich vertretenen Meinung einhandelte, strahlte radioaktiv auf sein nächstes Buch «Saturday» aus, dessen Hauptfigur sich nicht eindeutig gegen den Krieg stellt und von grossen Teilen der Literaturkritik reflexartig als rechter Spiesser diskreditiert wurde. Der «New Yorker» bezeichnete McEwan kürzlich in einer Eloge als den gegenwärtigen «Nationalautor Englands». Dieses Prädikat schmeichelt McEwan vielleicht, für seine Gültigkeit tut er jedoch herzlich wenig. Er führt ein reiches soziales, aber kein öffentliches Leben, meidet die grossen Bühnen und zieht sich eher in den Kokon der Privatheit zurück. Sowohl McAffee als auch McEwan kochen gern, sie schätzen klassische Musik und besuchen regelmässig Kammerkonzerte. Das Interesse für Rockmusik ist bei McEwan spätestens seit Punk erloschen. Zu seinem Sechzigsten, den er im Londoner Zoo ausrichtete, liess er eine scheppernde Bluesband auftreten. Fasziniert und intellektuell angezogen ist McEwan, der Analytiker, von der Welt der Wissenschaften.

Mehrere seiner Hauptfiguren haben eine akademische Karriere hinter sich und nahmen ihren Schöpfer auf ihre geistigen Reisen mit. Die komplementäre Erfüllung findet McEwan auf langen, oft mehrtägigen Wanderungen, die er in Gesellschaft enger Freunde oder seiner Frau absolviert, im englischen Lake District oder sonst wo in der Welt. Bei seiner Lesung in Berlin begrüsste der Moderator Ian McEwans Frau, die im Publikum sass, mit «Herzlich willkommen, Miss Ian McEwan.» McEwan kommentierte das trocken: «So hat meine Frau wirklich noch niemand genannt.» Annalena McAffee hat als Kulturjournalistin eine herausragende Karriere gemacht. Sie verantwortete das Kulturressort der «Financial Times» und schrieb Theaterkritiken für den «Evening Standard». Bis 2006 leitete sie die Literaturbeilage des «Guardian» und bekleidete im literarischen Leben Englands einige wichtige Positionen, bevor sie beschloss, nach ein paar Kinderbüchern selbst einen Roman zu schreiben. McAffees Witz ist schlagend, ihre Bildung stupend.

Eine Bleibe in Berlin

Der Roman heisst «Zeilenkrieg» (Diogenes), eine äusserst unterhaltsame Satire auf die britische Zeitungswelt, von der sich McAffee mit ihrem Buch endgültig – und mit einigem Erfolg – verabschiedete. Literatur ist im gemeinsamen Haushalt von Annalena McAffee und Ian McEwan übrigens keineswegs das bestimmende Thema. McEwan ist ein begeisterter Leser von Fachzeitschriften und Wissenschaftsliteratur, sodass McAffee – «Ich war eine Wissenschafts-Analphabetin» – ein bisschen einschlägige Bildung nachholen musste, um an den «Familiengesprächen» teilnehmen zu können, bei denen McEwans Sohn William, Absolvent eines Genetikstudiums, den Ton vorgab. Dass zwei Romanautoren einander kritische erste Leser sind, versteht sich von selbst. Annalena McAffee hat darüber hinaus die Spezialaufgabe übernommen, die Besprechungen von McEwans Büchern zu lesen und ihn wenn nötig davor zu warnen. Nach dem Erscheinen von «Solar», einem komödiantischen Roman, in dem McEwan die Klimaerwärmung aufs Korn nimmt, befand er sich mit McAffee auf einer kleinen Tournee durch US-Städte, und «Solar» war bei den US-Kritikern nicht gut angekommen.

McAffee gab ihrem Mann, wie er sich erinnert, also eine klare Anweisung: «Tu, was du willst. Aber lies bitte nicht den ‹Boston Globe›. Oder die ‹New York Times›. Oder die ‹Washington Post›. Oder die ‹L. A. Times›. Oder den ‹Portland Examiner›. Oder die ‹Buffalo Evening News›. Wenn schon, dann lies …» Den Namen der Zeitung habe er vergessen, sagt McEwan, «ein kleiner Ort in Südkalifornien, der eine Zeitung hat, die ein Bee im Titel trägt. Das war meine einzige gute Kritik für ‹Solar› in Amerika.» Ich traf Ian McEwan in Berlin. Er ist Mitglied im Soho Club und logierte im Soho House, einem Hotel von industriellem Chic und abenteuerlichem Hipnessfaktor. McEwan liebt Berlin. Er hat schon in den Achtzigerjahren einige Monate hier verbracht, und als seine Frau und er den Beschluss fassten, jedes Jahr zwei bis drei Monate im Ausland zu verbringen, wählten sie als erstes Ziel die deutsche Hauptstadt. Anna, die Frau des österreichischen Bestsellerautors Daniel Kehlmann, half ihnen, eine Wohnung auf dem Prenzlauer Berg zu finden, von der McEwan noch heute schwärmt.

Er ist jetzt 65. Seine Haare sind grau und dünn, sein Teint ist blass, und die Art, wie er sich kleidet, unterstreicht diese Blässe. Aber sobald McEwan Gefallen an einer Idee findet, an einer Wendung des Gesprächs, die mit grosser Wahrscheinlichkeit er selbst induziert hat, beginnt sein Gesicht von innen zu leuchten, und seine Vitalität äussert sich in einem erstaunlichen Interesse an winzigen Details. Er müsse jetzt aufbrechen, sagte McEwan, Annalena habe einen, «wie sagt man, Hexenschuss?». Er hatte sich das deutsche Wort gemerkt, weil es ihm gefiel, und er drehte und wendete es, verglich es mit seiner englischen Entsprechung Lumbago, was eher klinge wie ein «exotischer Tanz». Interessant, warum dieselbe Sache in Deutschland so klinge und in England so. Jede Wette, dass Ian McEwan dazu inzwischen eine plausible Theorie hat. Ich fragte McEwan, ob er sich eigentlich das Band noch einmal angehört habe, auf dem die ersten Worte konserviert sind, die er mit McAffee gewechselt hat. Er schaute mich amüsiert an und schüttelte den Kopf. Noch nicht.

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1.

«Seit ich meiner Frau begegnet bin, fühle ich mich nicht mehr verpflichtet, jemanden zu heiraten, der mich interviewt» Ian McEwan

2.

Eine Frage der Liebe: Ehepaar Annalena McAffee und Ian McEwan

3.

— Ian McEwan: Honig. Diogenes-Verlag, 464 Seiten, ca. 33 Franken
 

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