Werbung
Die Klischee-Falle

Leben

Die Klischee-Falle

  • Redaktion: Claudia Senn; Fotos: Stephan Schacher

Die Harvard-Professorin Iris Bohnet erforscht, warum es noch immer so wenige Frauen in Spitzenpositionen gibt – und weiss, wie sich das ändern lässt.

annabelle: Iris Bohnet, in jeder grösseren Firma gibt es heute ein Frauenförderungsprogramm. Doch der Anteil der weiblichen Führungskräfte ist dadurch nur marginal gestiegen. Was läuft schief?
Iris Bohnet: Meistens haben solche Programme eine reine Alibifunktion. Sie sollen Frauen dazu ermutigen, sich für eine Führungsposition zu bewerben. Doch wenn sie das tatsächlich tun, kommen sie trotzdem nicht zum Zug – weil viele Unternehmen von echter Chancengleichheit weit entfernt sind. Schon in den Bewerbungsprozessen ist der Wurm drin. Um zu illustrieren, was ich damit meine, werde ich Ihnen von Howard und Heidi erzählen.

Legen Sie los.
Howard Roizen ist ein erfolgreicher Risikokapitalgeber im Silicon Valley. Er sitzt im Verwaltungsrat mehrerer renommierter Unternehmen, ist mit Bill Gates befreundet und war ein Vertrauter von Steve Jobs. Howard ist also das Paradebeispiel einer erfolgreichen Führungspersönlichkeit. Als Studierende an der Columbia Business School seine Leistung beurteilen mussten, stuften sie ihn als überaus kompetent ein und wollten gern für ihn arbeiten. Die Sache ist nur, dass Howard gar nicht existiert. In Wirklichkeit heisst er Heidi.

Er ist eine Frau?
Genau. Legen wir den Studierenden den absolut identischen Lebenslauf vor, diesmal aber mit dem richtigen Namen, dann finden sie Heidi Roizen – die es übrigens wirklich gibt – zwar ebenso kompetent wie Howard, aber mit ihr zusammenarbeiten möchten sie trotzdem nicht. Weil sie glauben, eine so brillante Frau könne nicht auch noch sympathisch sein – ein weit verbreitetes Vorurteil. Wenn eine Frau gemocht werden will, dann sollte sie lieber nicht zu selbstbewusst und wettbewerbsorientiert auftreten, sondern kooperativ, warmherzig und sanftmütig. Denn was bei einem Mann als Unternehmergeist, Selbstbewusstsein und visionäre Kraft gelobt wird, kommt bei einer Frau als Arroganz und Aggressivität rüber.

Müssten es Studierende an einer Elite-Universität nicht besser wissen?
Sie sind eben auch nur Menschen – die sich nicht bewusst sind, wie sehr Vorurteile und Geschlechterstereotype ihre Entscheidungen prägen. Inzwischen ist das Experiment mit Howard und Heidi an vielen Business Schools wiederholt worden, um den Studierenden dabei zu helfen, solche Denkmuster zu entlarven. Niemand ist ohne Vorurteile, nicht einmal ich selbst.

Erzählen Sie.
Als ich meinen kleinen Sohn mit vier Monaten zum ersten Mal in die Krippe brachte, öffnete mir ein Erzieher die Tür. Ich war total konsterniert. Ein Mann! Kann der sich überhaupt fürsorglich um ein Baby kümmern? Meine Reaktion kam tief aus dem Bauch. In diesem Moment habe ich mich wohl ziemlich sexistisch verhalten, muss ich zu meiner Schande gestehen, auch wenn diese Reaktion nur ein paar Sekunden dauerte. Leider sind wir Menschen so: Immerzu müssen wir andere in Schubladen stecken.

Sie sagen, das gesamte Personalwesen sei durchdrungen von solchen Klischees.
Das fängt schon bei den Jobinseraten an, die oft so formuliert sind, dass sie vor allem Männer ansprechen und auf Frauen abschreckend wirken. Umgekehrt gilt das ebenso: Verwendet man in einer Annonce, mit der man eine Kindergärtnerin oder einen Kindergärtner sucht, stereotype Adjektive wie warmherzig, kooperativ und empathisch, werden sich weniger Männer bewerben. Zum Glück gibt es aber bereits Software, die mithilfe von Algorithmen feststellen kann, wie frauen- oder männerfreundlich ein Inserat formuliert ist und die bei Bedarf Vorschläge für neutralere Wörter macht. Eine tolle Entwicklung, die für mehr Gerechtigkeit bei der Personalrekrutierung sorgen wird und es Unternehmen möglich macht, tatsächlich von 100 Prozent des Talentpools zu profitieren.

Altgediente HR-Verantwortliche berufen sich lieber auf ihre Erfahrung und Intuition als auf solche Technologien.
Schade, denn leider trügt uns die viel gepriesene Intuition öfter, als wir glauben. Unbewusste Vorurteile legen auch erfahrene Personalverantwortliche nicht ab. Deshalb werden sie nicht jene Person aussuchen, die für den Job tatsächlich am besten geeignet ist, sondern jemandem, der ihnen selbst ähnlich ist – das schliesst die anderen oft im Vornherein aus. Alles wird heute mit Daten abgesichert und auf seine Effizienz hin überprüft. Warum sollte ausgerechnet das Personalwesen nicht von Big Data profitieren?

Mit welchen Massnahmen könnten wir denn tatsächlich mehr Chancengleichheit erreichen?
Es wäre schon viel geholfen, wenn wir die Bewerbungsunterlagen anonymisierten: kein Name, kein Foto, kein Alter und Geschlecht. Wie viel diese einfache Massnahme bewirken kann, zeigt eine Studie über die fünf wichtigsten Sinfonieorchester der Vereinigten Staaten. 1970 hatten sie einen lächerlich geringen Frauenanteil von gerade einmal 5 Prozent. Doch dann übernahmen sie eine Praxis, die das Boston Symphony Orchestra schon länger eingeführt hatte: Neue Bewerberinnen und Bewerber liessen sie hinter einem Vorhang vorspielen, sodass der Dirigent in seiner Entscheidung weder vom Geschlecht noch von der Hautfarbe oder anderen Äusserlichkeiten beeinflusst werden konnte. Heute haben die Orchester über 35 Prozent Frauen – während etwa die Wiener Philharmoniker erst 1997 die erste Frau aufnahmen und bis heute nur wenige Musikerinnen haben. In Wien gibt es eben keinen Vorhang.

Klingt bestechend einfach.
Ist es eigentlich auch. Wir müssen die Vorurteile aus den Prozessen eliminieren, nicht aus unseren Köpfen. Denn Letzteres ist sowieso fast unmöglich.

Propagieren Sie die Frauenquote?
Ich bin nicht dagegen, aber auch nicht wirklich dafür, denn die Quote hat einen gewaltigen Nachteil: Wer möchte schon eine Quotenfrau sein? Wenn andere glauben, man habe seinen Job nicht wegen seiner Kompetenz bekommen, steht man ziemlich unter Stress. Andererseits kann eine Quote tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Das zeigt sich am Beispiel Indien, wo Frauen aufgrund ihres Geschlechts häufig diskriminiert werden. Seit 1993 steht jedoch in der Verfassung, dass Frauen einen Drittel aller Bürgermeisterschaften innehaben müssen. Seither gibt es überall im Land weibliche Vorbilder, und immer mehr Eltern wünschen sich, dass ihre Töchter in die Politik gehen. Sie fördern sie, trauen ihnen etwas zu, messen ihnen mehr Wert bei – eine grossartige Entwicklung, die ohne diese Quote nicht möglich gewesen wäre. Interessanterweise müssen die Menschen aber zwei Bürgermeisterinnen erlebt haben, um ein politisches Amt wirklich als weibliche Karriereperspektive zu begreifen. Eine allein schätzen sie bloss als Ausnahme-Erscheinung ein.

An der Harvard Kennedy School, wo Sie unterrichten, gibt es ein Seminar, das Frauen auf eine politische Karriere vorbereiten soll. Sorgen Sie damit für einen höheren Frauenanteil in der Politik?
In den USA gilt es als diskriminierend, Männer von einer Lehrveranstaltung auszuschliessen, deshalb sind bei unserem Seminar «From Harvard Square to the Oval Office» auch Studenten willkommen. Aber die meisten Teilnehmenden sind tatsächlich Frauen, ein Drittel kommt von ausserhalb der Vereinigten Staaten. Einige unserer Absolventinnen sind bei den französischen Wahlen grad in hohe Exekutivämter gewählt worden.

Was haben Sie ihnen beigebracht?
Sie haben hier das politische Geschäft von der Pike auf gelernt: Wie lanciert man eine Kampagne? Wie macht man Fundraising? Wie reisst man die Wählerinnen und Wähler mit einer flammenden Rede von den Stühlen? Unter welchen Vorzeichen hat eine Kandidatin am ehesten die Chance zu gewinnen? Wir vermitteln eine Menge politisches Wissen – und die Fähigkeit, damit strategisch umzugehen. Hillary Clinton kam als Gastreferentin, ebenso Nancy Pelosi, die frühere Vorsitzende des Repräsentantenhauses und treibende Kraft hinter Obamas Gesundheitsreform, die ehemalige republikanische Gouverneurin Christine Todd Whitman oder die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Für mehr Frauen an der Spitze braucht es schliesslich unbedingt inspirierende Vorbilder.

Die Verhaltensökonomin Iris Bohnet ist Verwaltungsrätin von Credit Suisse und Professorin an der Harvard Kennedy School of Government, wo sie kommende Staatsoberhäupter und Kronprinzen auf ihre Führungsrolle vorbereitet. Die 51-jährige Luzernerin war die erste Schweizerin, die in Harvard eine ordentliche Professur bekam. Mehr über ihre Person und ihren Werdegang finden Sie in der aktuellen annabelle Heft 13/17.

Werbung

1.

Beschloss früh, dass Duckmäusertum kein Lebenskonzept ist: Iris Bohnet