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Kolumne aus New York: Zeitraffer im Big Apple

Leben

Kolumne aus New York: Zeitraffer im Big Apple

  • Text: Bruno Ziauddin; Illustration: Antony Hare

Bruno Ziauddins Rückblick auf seine zu Ende gehende Zeit in New York. Eine Stadt, ein Fazit.

Ob es an der Stadt liegt? Die Wochen zerbröseln, die Monate verschwinden. Weil ich schlecht im Abschiednehmen bin, veranstalte ich schon jetzt eine kleine Finissage: Worüber ich nicht mehr werde schreiben können, weil mein Aufenthalt in New York respektive diese Kolumne allzu bald zu Ende geht.

Velofahrer: Weniger aggressiv als in der Heimat. Aber nicht weniger gefährlich. Vor allem die mexikanischen Pizzakuriere schwanken über Strassen und Trottoirs, als sässen sie erstmals auf so einem Gefährt.

Autofahrer: Weniger aggressiv als in der Heimat. Und weniger gefährlich. Nur seitwärts parkieren können die wenigsten.

Hunde: Mein Verhältnis zu besagten Tieren ähnelt dem der katholischen Kirche zu Kondomen. Man weiss um ihre Existenz, will aber nichts mit ihnen zu tun haben. Trotzdem finde ich es faszinierend, wie sehr die New Yorker Hunde lieben. Täglich erlebt man, wie Halterinnen von fletschenden Doggen oder Herrchen von Pitbulls auf der Strasse von Passanten angesprochen werden: «Soo herzig! Darf ich mal streicheln?»

Handwerker: Seit Wochen steigen jeden Morgen drei Arbeiter aufs Dach unseres Nachbarhauses. Dort schweissen und hämmern sie an einem Blechkamin herum. In der Schweiz hätte man in derselben Zeit eine Einfamilienhaussiedlung erstellt. Und neulich donnerte ein schwerer Ast vor mir aufs Trottoir – das Gartenbauamt in Aktion. Eine Freundin, die vor vielen Jahren nach New York ausgewandert ist, sagt: «Ein fähiger Schweizer Handwerker bringt es hier innerhalb von drei Jahren zum Millionär.»

Kleiderstil: Vor der Sommerpause fanden an der nahen Columbia University die Diplomfeiern statt. Die Strassen waren voll mit herausgeputzten Studierenden und ihren herausgeputzten Angehörigen. Das heisst: Es sah so aus wie in Mailand an einem normalen Werktag. An der Upper West Side gilt die Regel: Fashion weak statt Fashion Week.

Lieblingsrestaurant: ilili an der 5th Avenue. Fabulöse libanesische Gerichte für Vegetarierinnen und Fleischesser. Dafür nimmt man auch die unmediterranen Air-Con-Temperaturen in Kauf. Lieblingsort: Riverside Park. In der Abendsonne auf den Hudson blinzeln, der hier fast so breit ist wie der Zürichsee; zwischen knorrigen Ulmen spazieren und auf die prunkvollen Stadthäuser schielen, in denen – so typisch für diese Stadt der Städte – zahlreiche Geistesgrössen des 19. und 20. Jahrhunderts wohnten: die Philosophin Hannah Arendt, der Komponist Sergei Rachmaninoff, der Atomphysiker Robert Oppenheimer. Im Herbst knallen die Farben, im Winter baumeln Eiszapfen von den Bäumen, das Rauschen der sechsspurigen Schnellstrasse wirkt eigenartig beruhigend. Gibt es einen grandioseren Stadtpark?

Hässlichster Ort: New York mag die Metropole mit den schönsten Gebäuden und den meisten Sehenswürdigkeiten sein. Trotzdem pilgern täglich Hunderte von Touristen zum Peace Fountain, einem scheusslichen, vierzig Tonnen schweren, mit wilder Symbolik überladenen Brunnen (Erzengel Michael, Giraffen, Mond, Arche Noah u. v. m.). Der Brunnen befindet sich neben der Kathedrale Saint John the Devine, der viertgrössten Kirche der Welt, und gegenüber dem Hungarian Pastry Shop, dem besten Café der Welt. Weil ich jeden Tag dort sitze, um an meinem Roman zu schreiben, muss ich jeden Tag den Peace Fountain ertragen. Dennoch müsste ich heulen, würde jemand dieses Machwerk in die Luft sprengen. Heimat ist, wo einem selbst das Hässliche ans Herz wächst.

Grüsse aus der Schweiz werden erbeten an: [email protected]

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