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Sexuelle Übergriffe nehmen zu

Leben

Sexuelle Übergriffe nehmen zu

  • Interview: Helen AecherliIllustration: Silke Werzinger

Der öffentliche Raum wird gefährlicher, sagt Strafrechtler Martin Killias. Das liege an der 24-Stunden-Party-Gesellschaft.

Martin Killias, 666 Mal kam es 2009 zu einer Anzeige wegen Vergewaltigung, so viel wie nie zuvor. Es wurden aber nur 133 Täter verurteilt. Lässt man viele einfach laufen?
Nein! Man kann von der Zahl der Fälle nicht auf die Zahl der Täter schliessen. Denn ein Täter kann beispielsweise mehrere Vergewaltigungen begangen haben.

Trotzdem: Die Zahl der Verurteilungen ist im Vergleich zu den Anzeigen gesunken.
Oft werden Vergewaltigungen von Unbekannten verübt, die nicht ermittelt werden können. Von den ermittelten Verdächtigen sind sechzig Prozent ausländischer Herkunft, davon setzen sich viele in ihr Heimatland ab. Dass die Zahl der Verurteilungen gesunken ist, kann nun daran liegen, dass es sich vermehrt um Fälle mit unbekannten Tätern handelt, die nicht ermittelt werden konnten.

Aber dass 666 Vergewaltigungen angezeigt wurden, 50 Prozent mehr Fälle als im Jahr 2000, zeigt doch, dass Übergriffe drastisch zugenommen haben, oder?
Ja. Sexuelle Übergriffe, dazu gehören auch Verfolgungen auf einsamen Strassenabschnitten, haben auch nach unseren Dunkelfeldstudien massiv zugenommen, und zwar hauptsächlich im öffentlichen Raum. Diese Übergriffe werden grösstenteils von Unbekannten verübt. Am meisten gefährdet sind dabei Frauen bis 25. Danach nimmt die Opferzahl rapid ab.

Woran liegt das?
Das ist schwer zu sagen. Viele Täter scheinen bei jüngeren Frauen weniger Hemmungen zu haben als bei älteren. Zudem sind jüngere oft sehr viel später auf der Strasse unterwegs.

Ist das Freizeitverhalten Ursache für die zunehmende Gewalt im öffentlichen Raum?
Ja. Die 24-Stunden-Party-Gesellschaft ist der Motor der Gewalt in westeuropäischen Ländern.

Unter welchen Umständen zeigen Opfer sexueller Übergriffe ihre Peiniger an?
Eine Anzeige erfolgt vor allem dann, wenn die Tat von einem unbekannten Täter begangen wurde. Das heisst, wenn das Opfer überzeugt ist, dass es sich selber nichts vorzuwerfen hat.

Was, wenn sich Opfer und Täter kennen?
Dann ist – bei allen Delikten – die Hemmschwelle für eine Anzeige erhöht und auch die Beweisführung schwieriger. Wenn ein Unbekannter bestreitet, dass er mit einer Frau Sex hatte, kann man dies mit DNA-Proben schnell widerlegen. Wenn er behauptet, sie habe «es» gewollt, glaubt ihm keiner. Wenn aber in einer Paarbeziehung laufend Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, vielleicht sogar nach der Tat, wird es diffizil. Wem soll man glauben?

Wie oft geschieht es, dass eine Frau einen Mann aus Rache anzeigt?

Das gibts leider ab und zu, aus diversen Gründen. Ein Mann kann etwa eine Frau tief enttäuscht haben, und dafür will sie ihn büssen lassen. Solche Fälle werden aber oft schnell durchschaut, auch weil die Person, die eine Falschanzeige gemacht hat, dies meist rasch zugibt.

Falschanzeigen sind verheerend für Frauen, die wirklich vergewaltigt worden sind, da sie ihre Glaubwürdigkeit mindern.
Richtig, aber sie sind auch verheerend für den zu Unrecht Beschuldigten. Eine Vergewaltigung wird in jedem europäischen Land hart verfolgt, ein Vergewaltigungsvorwurf bringt den Angeschuldigten am sichersten in Untersuchungshaft. Wenn eine Frau eine einigermassen kohärente Beschuldigung äussert und der Mann kein gutes Gegenargument hat, hat er miserable Karten. Zudem sind Polizei- und Gerichtsstellen längst nicht mehr die Machovereine, als die sie zuweilen noch hingestellt werden.

Martin Killias ist Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich