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Tierversuche: Schimpansen aus der Aidsforschung

Leben

Tierversuche: Schimpansen aus der Aidsforschung

  • Text: Frank Heer; Fotos: Daniel Gebhart de Koekkoek

Vierzig alte, kranke Schimpansen aus der Aidsforschung verbringen in der Nähe von Wien ihren Lebensabend. Leider war ihr Opfer vergebens.

Es war ein grosses Jahr für die Aidsforschung: 1995 boten sich Deutsche und amerikanische Teams ein Kopf-an-Kopf-Rennen auf der Zielgeraden zu einem molekularen Schutzschild gegen das unheimliche Virus. Sicher, es ging um Leben und Tod, aber auch um Ansehen und sehr viel Geld. Der Durchbruch war nur noch eine Frage von Monaten, Wochen, Tagen.

Unter «ferner liefen» forschte damals auch der österreichische Pharmakonzern Immuno. Er setzte auf Versuche an Menschenaffen, zum Beispiel Carmen: Mitte der Achtzigerjahre wurde die junge Schimpansin im Wiener Tierlabor mit dem HI-Virus infiziert, um an ihr die Wirksamkeit eines Impfstoffs gegen Aids zu testen. Rückblickend weiss man, dass Carmens «Dienst an der Menschheit» vergebens war; die Forschung konnte keine Erkenntnisse aus den Experimenten gewinnen, die sie an ihr und über vierzig anderen Schimpansen durchgeführt hatte. Weder in Wien noch in einem anderen Labor. Carmen ist heute 38 Jahre alt. Blickt man in ihre Augen, so starrt man ins Leere.

«Aidsaffen»

Als Immuno 1997 vom US-Pharmakonzern Baxter geschluckt wurde, sollen die Inspektoren geschockt gewesen sein, als sie die Wiener Tierlabors betraten. Die meisten Schimpansen hatten zwanzig Jahre in Käfigen verbracht, die nicht grösser waren als ein Schrank. Die Zellen waren in fahles Neonlicht getaucht, es gab kein Stroh, keinen Auslauf, keinen Kontakt zu anderen Tieren. Alles, was an Afrika erinnerte, war die Raumtemperatur von 28 Grad bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Baxter stand vor der Frage: Wohin mit vierzig schwer versehrten Schimpansen, von denen einige mit gefährlichen Erregern infiziert sind? Baxter wurde in Gänserndorf fündig, vierzig Kilometer ausserhalb von Wien, wo ein vom Pech verfolgter Safaripark von einem Konkursverfahren ins nächste schlitterte. Der Konzern beteiligte sich am Bau eines Affenhauses und holte Michael Aufhauser, den bekannten deutschen Tierretter und Schlagersänger, ins Boot. Dieser betreibt in Österreich eine Reihe von Gnadenhöfen für missbrauchte Tiere, darunter Gut Aiderbichl bei Salzburg. Die «Aidsaffen» passten nicht ins flauschige Merchandising-Image der Organisation, trotzdem hat sich Aufhauser durchgerungen, die Schimpansen in seine Obhut zu nehmen. Im Gegensatz zu den anderen Auffangstationen ist das Affenrefugium Gänserndorf aber kein Streichelzoo. Nur Spendern und «Plus-Paten» ist die Möglichkeit vorbehalten, Carmen und ihre Artgenossen in der Altersresidenz zu besuchen. Selbst für Journalisten ist es nicht einfach, einen Ortstermin zu vereinbaren. Erst nach etlichen Anläufen per Mail und Telefon stand das Datum für unseren Besuch.

Vor dem Fenster unseres Mietwagens ziehen zentrumslose Ortschaften vorbei, Industriekomplexe und Supermärkte vor riesigen Parkplätzen. Nach Gänserndorf wird das Land flach wie ein Brett, und die Agglomeration weicht Feldern und Waldfragmenten, ein bleierner Himmel erstreckt sich bis zu den Hügeln im Grenzgebiet zur Slowakei. Wir biegen in eine Schotterstrasse ein. Ein Schild, das wir erst übersehen, warnt uns, das Gelände zu betreten. Wer es dennoch tut, passiert eine verwaiste Minigolfanlage und zerfallene Gebäude, die einst zu Europas grösstem Safaripark gehörten. Wir gelangen zu einem eisernen Tor, das sich nicht öffnen lässt, es sei denn, man hat die Handynummer von Renate Foidl. Wählt man die Nummer, dauert es ein paar Minuten, bis sich ein Geländewagen nähert. Das Tor öffnet sich, und wir folgen dem Wagen bis zum Ende des Wegs. Zwischen den Resten eines Auenwalds stehen die holzverschalten Gebäude, die man von der Website kennt: das Affenhaus.

Eine Schicksalsgemeinschaft

Renate Foidl springt aus dem Truck und wirft die Tür ins Schloss, eine zackige Frau Anfang vierzig, sportliche Brille, kritischer Blick, Rossschwanz. Sie trägt einen roten Overall mit der Aufschrift «Gut Aiderbichl Team», rückt ihr Funkgerät zu recht, grüsst uns knapp. «Das ist eine Risikozone», sagt sie streng. «Ihre Sicherheit ist nur gewährleistet, solange Sie sich an die Regeln halten.» Renate Foidl leitet ein Team von drei Betreuerinnen, die sich um die Schimpansen kümmern. Es ist ihr wichtig, dass es bei unserer Reportage nicht um ihre Person geht. Ein Wunsch, den wir ihr nicht erfüllen können, denn das Leben der vierzig Schimpansen ist zu eng mit der Frau im roten Overall verbunden, als dass man sie ausklammern könnte. Eine Schicksalsgemeinschaft, die 1992 mit einer Lehre als Tierpflegerin bei Immuno begann. Renate Foidl gehörte zu den wenigen Befugten, die Zutritt zum Hochsicherheitstrakt hatten, wo die Menschenaffen untergebracht waren. Bei der Arbeit trug sie luft- und wasserdichte Schutzkleidung, die über einen Schlauch mit Sauerstoff versorgt wurde. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Käfige sauber zu machen und die Tiere zu füttern. Obwohl diese nur die Augen ihrer Betreuerinnen sehen konnten, wussten sie genau, wer in den futuristischen Hygieneverpackungen steckte. «Wir waren ihre einzigen sozialen Kontakte. Sie sehnten sich förmlich nach unserer Nähe.»

In den Achtzigerjahren verfügte Immuno über den grössten Schimpansenbestand Europas: Je nach Quelle waren es zwischen vierzig und sechzig Tiere. Die Tatsache, dass das Erbgut von Schimpansen zu fast 98 Prozent dem des Homo sapiens entspricht, machte sie zu interessanten Objekten für die Wissenschaft. Der berühmte US-Aidsforscher Robert Gallo sagte damals: «Wer gegen Versuche an Schimpansen ist, ist ein Fall für die Psychiatrie.» Die Verhaltensforscherin Jane Goodall, welche die Laboratorien von Immuno besuchte, bezeichnete die Haltung der Tiere als Folter. Nie mehr, schrieb sie in der «New York Times», werde sie «die Augen der in tiefe Depression versunkenen Schimpansen vergessen». Eine Ausgabe der «Zeit» von 1987 zitierte den Geschäftsführer von Immuno: «Jane Goodall war positiv beeindruckt von unseren Haltungsbedingungen.» Seit 2005 sind Versuche an Menschenaffen in Österreich verboten, in der Schweiz wurde eine Petition vor wenigen Jahren abgelehnt.

Wir stehen im Besprechungszimmer, an den Wänden hängen Poster und Fotos der Immuno-Schimpansen. Die meisten sind heute fast vierzig Jahre alt. In freier Natur hätten sie ihre Lebenserwartung bereits überschritten. Auf einem Tisch liegen Broschüren und ein selbst verlegtes Buch mit dem Titel «Ganz nah bei unseren Schimpansen». «Da steht drin, was Sie über die Tiere wissen müssen», sagt Renate Foidl. «Es hat keinen Sinn, wenn ich Ihnen das jetzt alles erzähle. Sie könnten es sich sowieso nicht merken.» Wir kaufen das Buch und kommen nicht umhin zu denken, dass es Frau Foidl mit den Menschen nicht so kann wie mit den Schimpansen. Aus den Gehegen dringen Schreie und furchterregendes Gebrüll, manchmal kocht ein Poltern über wie bei einem Gefängnisaufstand. «Die spüren gleich, wenn jemand da ist, den sie nicht kennen. Man kann sich nicht vor ihnen verstecken.»

ANNABELLE: Renate Foidl, hatten Sie keine ethischen Bedenken, als Sie bei Immuno angefangen hatten?
RENATE FOIDL: Nein, ich habe mir meinen Beruf ausgesucht, weil ich gern Tiere versorge und beschütze. Andere Kolleginnen haben ein ähnliches Dilemma. Sie arbeiten im Zoo oder im Tierheim, wo Kaninchen verfüttert oder Hunde und Katzen wie Ware abgegeben werden.

Aber Immuno machte Tierversuche. Ist das nicht schwieriger auszuhalten?
Die Versuche waren nicht das Schlimmste. Unerträglich war die Isolationshaft.

Warum hatten Sie nicht einfach den Job gewechselt?
Weil mich die Tiere brauchten. So konnte ich ihnen wenigstens helfen.

Empfanden Sie Wut oder Ohnmacht?
Eher Traurigkeit.

Schuldgefühle?
Ich empfinde heute gegenüber allen Tieren dieser Welt Schuldgefühle. Aber auch das Gefühl einer Chance, helfen zu dürfen.

Von aussen betrachtet gleicht das Affenhaus einer rustikalen Ferienlodge mit riesigen Fenstern, Holzverkleidung, modernem Grundriss. Von der Veranda blickt man über Grünanlagen mit Kletterbäumen, Felsen und Wassergräben. Sie sind umgeben von hohen Mauern, die mit Dschungelmotiven bemalt sind. Betritt man über eine Brücke das Gebäude, so führt eine überdachte Passage zu den elf Wohnräumen, in denen die Schimpansen in Gruppen leben. Es sind grosse, hohe Räume mit Fenstern aus Panzerglas, ausgestattet mit Seilen, Klettergerüsten, Schaukeln, Stroh und Nestplätzen. Carmen streicht sich langsam übers Kinn und mustert ihre Besucher. Sie teilt ihren Lebensraum mit Pumuckl und Dorli, beide HIV-positiv. «Carmen ist eine sensible Schimpansin und liebt die Stunden in ihrer Hängematte», steht im Buch über das Affenrefugium. Ihre Biografie unterscheidet sich kaum von den Lebensläufen der anderen Schimpansen: 1977 kommt sie im Dschungel von Sierra Leone zur Welt. Kurz nach ihrer Geburt wird sie ihren Eltern entrissen und nach Europa verschleppt. Schnell verliert sich Carmens Spur. Mitte der Achtzigerjahre kommt sie zu Immuno nach Wien. Durch die Einzelhaft im Labor ist ihr Rückgrat so verkrümmt, dass sie nicht mehr aufrecht gehen kann. Eigens für sie aufgestellte Leitern und Brücken helfen der ergrauten Dame, sich im Gehege zu bewegen.

Seit wann kennen Sie Carmen?
Seit ich vor über zwanzig Jahren bei Immuno angefangen hatte.

Sie kommunizieren mit ihr und den anderen Tieren nur durch Gitterstäbe und Glasscheiben?
Mehr liegt nicht drin. Schimpansen sind achtmal stärker als Menschen. Selbst wenn sie nur spielen wollen, sind sie sich ihrer Kraft nicht bewusst. Ganz abgesehen davon ist Carmen Trägerin des Aidsvirus. Ein direkter Kontakt wäre schon deshalb viel zu gefährlich.

Kann man durch eine Scheibe eine Beziehung aufbauen?
Ich gehöre zum Personal der Tiere und bin dazu da, ihnen ein Altern in Würde zu bereiten. Dazu muss ich sie nicht streicheln.

Als 2011 die neuen Aussengehege eingeweiht wurden, ging ein Video um, das Hunderttausende rührte. Es zeigt den Moment, als sich die Türen zu einer Welt hin öffneten, die den Tieren bisher nur mit Blick durchs Panzerglas erschliessbar war. Ein Affenmann blinzelt in die Sonne, richtet sich auf und beginnt zu laufen und zu laufen und zu laufen. Andere klammern sich aneinander und zögern minutenlang, bevor sie nach draussen taumeln. Möglich, dass bei einigen die Erinnerung an eine kurze Kindheit in Freiheit aufblitzte, bevor sie ihren Familien entrissen wurden. Um leichter an die Babys heranzukommen, erschossen die Jäger zuerst die Eltern und Geschwister.

1986 trat Österreich dem Washingtoner Artenschutzabkommen bei, trotzdem bekam Immuno die begehrten Schimpansenkinder noch immer «kistenweise» nach Wien geliefert. Als die Dokumentarfilmer Christian Rost und Claus Strigel vor einigen Jahren mehr über das illegale Geschäft mit den Laboraffen erfahren wollten, fanden sich nur wenige Zeitzeugen, die vor laufender Kamera Auskunft gaben, etwa Ulrike Goldschmid, die damalige Beauftragte für Artenschutz der Stadt Wien. Sie erzählt, wie sie erfolglos gegen einen Filz von geschmierten Politikern, getricksten Gutachten und gefälschten Einfuhrpapieren kämpfte. Heute stellt sich am Beispiel der Immuno-Affen die Frage nach Schuld und Wiedergutmachung. Renate Foidl ist in diesem Drama die letzte Akteurin, die nie von der Seite ihrer Schimpansen gewichen war. Alle anderen Protagonisten – allen voran die Entscheidungsträger in den Hauptrollen – haben die Bühne über den Hinterausgang verlassen.

Clydes Stammplatz ist am Fenster zur Besucherpassage. Im Labor gehörte er zur sogenannten Kontrollgruppe. Ihm wurden unter Narkose Hunderte von Blut- und Gewebeproben entnommen. Heute teilt er das Gehege mit vier Schimpansendamen, die sein Imponiergehabe weit weniger beeindruckt als uns. Als wir vor der Scheibe stehen, beginnt er zu brüllen, fuchtelt mit den Armen und wirft sich mehrmals mit Wucht gegen das Glas. Nicht schlecht für einen älteren Herrn. Schliesslich drückt er die flache Hand gegen die Scheibe. «Er lädt Sie jetzt ein, sein Freund zu sein», sagt Renate Foidl, «legen Sie Ihre Hand auf die seine.» Clyde duckt sich und presst sein Gesicht ans Glas. Jetzt ist sogar Frau Foidl ein wenig gerührt: «Jesses, das macht er wirklich nur ganz selten. Na, geben Sie ihm ein Bussi.»

Baxter investierte über sechs Millionen Euro in den Bau des Affenhauses und kommt für den Grossteil der Unterhaltskosten auf. Wiedergutmachung oder Imagekorrektur? Den Affen kanns egal sein. Wichtiger ist die Tatsache, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Und dass das Resozialisierungsprogramm weltweit seinesgleichen sucht. Dabei wusste anfänglich niemand, ob es überhaupt funktionieren würde. Die Frage war: Können Schimpansen nach Jahren der Isolation und sozialen Verwahrlosung überhaupt wieder in Gruppen leben? Dazu gab es weder Erfahrungswerte noch verlässliche Einschätzungen. Die Zusammenführung fand paarweise und durch das Drahtnetz zweier Käfige statt. Verlief die Kontaktaufnahme positiv, wurden die Luken einen Spalt weit geöffnet, sodass erste Berührungen möglich waren. «Bei den meisten funktionierte das überraschend gut», sagt Renate Foidl. Einige hätten sich zärtlich umarmt, nachdem die Luken geöffnet wurden. Andere reagierten heftig: Peter riss seinem Gegenüber den Zeigfinger aus. Er gehört zu jenen fünf Schimpansen, bei denen eine Zusammenführung noch immer zu riskant wäre.

Sind Carmen und Clyde heute glücklich?
Sagen wir es so: Früher war ihr Leben eine Katastrophe. Heute erfahren sie so etwas wie spätes Lebensglück. Wobei viele unserer Schimpansen unter Minderwertigkeitskomplexen, Angstzuständen oder stereotypem Verhalten leiden. Einige verletzen sich selbst. Ein normales Sexualverhalten beobachten wir auch nicht. Die meisten kennen nur die Selbstbefriedigung. Dass man Sex mit einem Partner haben könnte, käme keinem unserer Tiere in den Sinn.

Gibt es etwas, was Sie von den Schimpansen gelernt haben?
Die Grösse zu verzeihen. Und dass ein Neuanfang möglich ist.

Und über uns Menschen?
Dass auf uns kein Verlass ist. Trotz des grossen medialen Interesses an unseren Schimpansen war keine Organisation bereit, ihnen zu helfen. Michael Aufhauser war der Einzige, der das Risiko auf sich nahm.

Ein Happy End?
Nein. Wenn es so weitergeht, werden frei lebende Schimpansen in wenigen Jahrzehnten ausgerottet sein. Erst wenn diese Gefahr gebannt ist, käme mir das Wort Happy End über die Lippen.

— DVD-Tipp: «Unter Menschen» von Christian Rost und Claus Strigel. Die berührende Geschichte der Affen von Gänserndorf. 90 Minuten, ca. 29 Fr.

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