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«Wir haben ja auch keine Antworten auf diese Fragen»

Leben

«Wir haben ja auch keine Antworten auf diese Fragen»

  • Interview: Kerstin Hasse; Foto: Cyrill Müller 

Was soll das alles? Die beiden Zürcher Philosophinnen Vanessa Sonder und Patrizia Hausheer treffen sich regelmässig in Bars, um diese und andere grosse Lebensfragen zu diskutieren. Aus diesen Begegnungen ist nun ein Buch entstanden. Wir trafen die beiden auf ein Glas Wein - und hatten da auch noch ein paar Fragen.

Es ist 19 Uhr, Vanessa Sonder (36) und Patrizia Hausheer (35) betreten das Restaurant Certo am Werdplatz in Zürich. «Ah, Sie haben schon ein Glas Wein bestellt?», fragt Vanessa Sonder. «Ja, ich dachte, das passt zu Ihrem Buch. Da wurde ja eigentlich auch immer über ein Glas hinweg diskutiert», sage ich. «Sehr gut. Was trinken Sie?», fragt Vanessa Sonder. «Ripasso.» Die beiden bestellen auch je ein Glas.

annabelle.ch: Patrizia Hausheer und Vanessa Sonder, Sie sagen im Buch einmal, es gebe für Sie nichts Wichtigeres, als über Dinge nachzudenken. Das ist der Satz, der Sie zwei verbindet, oder?
Patrizia Hausheer: Es gibt niemanden, mit dem ich so reden kann, wie mit Vanessa. Das schätze ich sehr. Ausserdem teilen wir die grosse Leidenschaft für die Philosophie. Ich fühle mich mit ihr sehr verbunden – nicht nur freundschaftlich, sondern auch in der Lust zu diskutieren, das können nicht alle Leute.

Vanessa Sonder: Ja, uns verbindet diese Lust am Denken, und die ist ja auch typisch für die Philosophie. Nachzudenken ist ein Lebenselixier für uns. Uns treiben diese grossen Fragen um und deshalb treffen wir uns regelmässig zu einem Glas Wein oder einem Cocktail und diskutieren miteinander.

Wie kamen Sie auf die Idee, aus diesen Gesprächen ein Buch zu machen?
Vanessa Sonder: Die Idee zum Buch kam uns bei einem unserer Treffen. Wir redeten miteinander und dachten plötzlich: Wir könnten ja die Gespräche mal aufnehmen und irgendwann ein Buch machen.

Wie viel Nachbearbeitung war bei den Gesprächen nötig?
Patrizia Hausheer: Die grösste Arbeit war, das Ganze zu transkribieren. Was ist brauchbar, was ist trivial …

Es wurden keine Theorien oder Fakten im Nachhinein hinzugefügt? Im Kapitel Rausch fand ich es recht beeindruckend, dass Sie Apollon und Dionysos erwähnten. Das würde ich im Rausch nicht schaffen.
Patrizia Hausheer: Das ist auch das einzige Kapitel, das konstruiert ist. Den Anfang habe ich tatsächlich im Rausch geschrieben, der ist wirklich so entstanden. Der Rest des Kapitels wurde zusammengeführt aus verschiedene Gesprächen, die wir an verschiedenen Treffen geführt haben.

Sie sagen, Sie treiben die grossen Fragen im Leben um. Nerven Sie Ihr Umfeld manchmal auch mit Ihrer Philosophie?
Vanessa Sonder: In meinem Fall ist es eigentlich nicht so. Es gibt in meinem nahen Umfeld auch nicht so viele Leute, mit denen ich so reden kann, wie mit Patrizia. Leute, die einen ähnlichen Hintergrund haben und mit denen das Gespräch auf Augenhöhe stattfindet.

Patrizia Hausheer: Manchmal stoppt das Gespräch einfach. Wenn ich zum Beispiel mit einem Freund darüber spreche, ob es den Geist auch ohne den Körper gibt oder es den Körper für den Geist braucht, dann merke ich, dass er irgendwann nicht mehr weiterreden will. Vanessa und ich haben ja auch keine Antworten auf diese Fragen, aber wir haben Lust, weiter darüber zu diskutieren.

Vanessa Sonder: In der Philosophie lernt man – das tönt jetzt vielleicht ein bisschen prosaisch –, den Mut zu haben, nachzudenken. Man kann jede These mal durchdenken und es braucht auch die Gewissheit, dass es manchmal keine Lösung gibt.

Patrizia Hausheer: Genau.

Was ich mir aber überlegt habe: Was macht das mit einem, wenn man sich beruflich ständig die grossen Fragen stellt und alles hinterfragt?
Vanessa Sonder: Also wenn man ständig so kritisch durchs Leben geht?

Ja. Sie sagen zum Beispiel im Buch, dass Sie nicht an das Füreinanderbestimmtsein glauben. Ich bin vielleicht etwas naiv und ziehe mir die romantischen Scheuklappen über. In einer Beziehung kann diese Romantik nämlich helfen, zum Beispiel, um über eine Krise hinwegzukommen. Die Naivität hilft, alles ein bisschen in Watte zu packen.
Patrizia Hausheer: Wir gehen da schon nüchterner an die Sache ran – auch an die Liebe. Also wenn Sie Vanessa und mir erzählen würden, dass Sie sich frisch verliebt haben, wäre ich schon kritischer. Frei von der Philosophie würde ich vielleicht sagen: Cool, vielleicht heiratet ihr mal! Aber eigentlich wäre meine Haltung: Ja, cool, mal schauen, wie es in drei Monaten aussieht. (lacht)

Vanessa Sonder: Ich könnte Ihnen gleichzeitig aber auch zugestehen, dass verliebt zu sein ein supertolles Gefühl ist. Ich würde Ihnen das ja nicht nehmen wollen.

Patrizia Hausheer: Nein, aber ich meine nüchterner im Sinne von pragmatischer. Du würdest mir auch nicht sagen: Du und dein Freund, ihr seid füreinander bestimmt.

Vanessa Sonder: Nein, das würde ich nicht. Aber das ist natürlich auch nicht meine Auffassung. Als Philosophin hat man schon die Tendenz, kritisch zu sein, auch was diese lebensweltlichen Sachen angeht. Glück, Liebe – all diese Dinge betrachtet man mit Skepsis. Aber ich glaube, wir beide können auch mal die Dinge so stehen lassen und annehmen. Einfach mal geniessen. Es gab immer mal Leute, die mir gesagt haben: Vanessa, Mensch, du denkst viel zu viel nach. Früher habe ich das noch mehr an mich herangelassen. Jetzt sage ich eher: Denkt doch ihr einfach auch ein bisschen mehr über Sachen nach! Es ist auch etwas sehr Gutes, nachzudenken. Man muss vielleicht das Glück, also ich meine dieses unreflektierte Judihui-Glück, auch vom Thron stossen und sagen: Das ist möglicherweise nicht das höchste Ziel im Leben.

Gibt es dieses Füreinanderbesitmmtsein nicht auch in der Freundschaft? Sie beide sind nicht füreinander bestimmt?
Patrizia Hausheer: Ich finde, das ist ein schöner Gedanke! Aber ich bin die Romantische von uns beiden.

Vanessa Sonder: Füreinander bestimmt zu sein, ruft bei mir den Gedanken nach etwas Metaphysischem wach, etwas, das ausserhalb unserer Sphäre passiert und dafür sorgt, dass wir zueinander finden. Daran glaube ich nicht. Für mich gibt es viel eher die Frage des guten oder nicht guten Zusammenpassens.

Patrizia Hausheer: Aber gell, du glaubst gar nicht an magische Momente?

Vanessa Sonder: Also was meinst du?

Patrizia Hausheer: Im Sinn von: Aber hey, jetzt habe ich diesen Menschen dreimal heute gesehen und jetzt kommt der in die Bar hinein und spricht mich an.

Vanessa Sonder: Ich sehe diese Momente schon auch, diese Zufälle. Aber ich vermute dahinter keine Magie, ich vermute nichts dahinter, das sich nicht mit physikalischen Gesetzen erklären lässt. Ich glaube auch nicht an ein Wunder. Du denn schon?

Patrizia Hausheer: Eher, ja.

Vanessa Sonder: Wie erklärst du dir das?

Patrizia Hausheer: Ich weiss es nicht. Ich kann es nicht physikalisch erklären. Weil ich glaube, es ist etwas, dass sich dem Physikalischen entzieht.

Eine weitere Frage aus Ihrem Buch, die mich, die schon lange in einer Beziehung ist, beschäftigt hat: Kann man aus freien Stücken lieben?
Patrizia Hausheer: Wie lange sind Sie denn in einer Beziehung?

Seit zehn Jahren …
Patrizia Hausheer: Ah … ich bin auch schon lange in einer Beziehung. Ja, das ist schon ein sehr interessantes Konzept mit der bedingungslosen Liebe. Der Rest vom Leben ist eben nicht bedingungslos, alles hat immer einen Zweck, das ist Teil unseres Neoliberalismus. Die bedingungslose Liebe scheint aber keinen Zweck in sich selber zu haben. Ich finde es aber interessant zu fragen: Warum hat es überhaupt etwas Verwerfliches, wenn es einen Zweck bedient? Man geht zur Arbeit, um Geld zu verdienen, man liebt einen Menschen, weil er einem das Gefühl gibt, dass man liebenswert ist. Etwas, das frei von Zweck ist, hat intuitiv gleich mehr Wert.

Weil es frei von allem ist.
Patrizia Hausheer: Genau.

Vanessa Sonder: Kant hat das in Bezug auf den Umgang der Menschen untereinander gesagt: Man darf als Mensch den Menschen nie nur als ein Mittel zum Zweck benutzen, es muss immer auch Selbstzweck sein.

Patrizia Hausheer: Das ist aber nicht auf die Liebe bezogen.

Vanessa Sonder: Nein, aber er hält fest, dass es eine Entwertung sei, wenn etwas ausschliesslich als Mittel zum Zweck verwendet wird.

Die Fragen zu Liebe, Zweck und Wert können einem eigentlich auch gut helfen, wenn man über Gleichstellung nachdenkt. Denn die grossen Fragen, die wir uns stellen, die gelten ja für alle gleich.
Patrizia Hausheer: Das finde ich eine gute Analogie. In der Philosophie geht es um die Fragen, in denen wir alle gleich sind. Was ich krass finde: Heute gibt es die Idee, dass, wenn du es gleich machst wie ein Mann, du dann als Frau emanzipiert bist. Ich finde aber, die Frau ist mehr und muss ihre Rolle erst noch finden und dabei ihre Weiblichkeit nicht verlieren.

Vanessa Sonder: Alle gleich zu machen, funktioniert nicht. Das ist schiefgelaufen. Gleiche Rechte ja, gleicher Lohn auch, aber es braucht keine Gleichmachung. Da hat sich die Frau dem dominanten Vorbild angeglichen.

Man orientiert sich halt an einem Vorbild.
Vanessa Sonder: Ja, das ist typisch. Der Mensch sucht immer Bilder, weil man Halt darin sucht. Ich bin auch Mutter und arbeite 50 Prozent. Mittlerweile machen das viele Frauen und ich arbeite, weil ich gerne arbeite und nicht, weil ich das Gefühl habe, arbeiten zu müssen. Aber ich glaube, es gibt durchaus auch Frauen, die auf andere Frauen hinunterschauen, weil sie «nur» Mutter sind und sich um die Kinder kümmern. Es ist in gewissen Kreisen schon fast ein No-Go, wenn man für seine Kinder da sein will.

Patrizia Hausheer: Aber eben, da stellt sich die Frage: Wie wäre denn die moderne Frau? Wie wäre denn die Erotik oder die Weiblichkeit der Frau, wenn sie sich über die Frau definiert und nicht über den Mann oder die Gesellschaft? Vielleicht ist das unser nächstes Buch …

Bevor Sie sich an das nächste Buch machen, kommen wir nochmal zurück auf Ihr aktuelles Werk. Sie sprechen darin auch das Thema Selbstverwirklichung an. Wie viel Selbstverwirklichung steckt in diesem Buch?
Patrizia Hausheer: Schon recht viel. Wenn ich das Buch öffne, lese ich, was ich denke.

Vanessa Sonder: Schon, aber es ist nicht Mittel zum Zweck. Der Begriff Selbstverwirklichung ist heute überall. Und es gibt diesen Zwang, sicher selber zu verwirklichen. Es ist heute ein Mittel, um sich selbst zu inszenieren.

Und darum geht es Ihnen nicht?
Vanessa Sonder: Nein, auch wenn dieses Buch niemand lesen würde, wäre das okay.

Stimmt das wirklich? Schreibt man ein Buch, macht man sich die ganze Arbeit, um dann zu sagen: Egal, wenn es niemand liest. Das tönt wiederum für mich zu romantisch.
Vanessa Sonder: Ja. Aber dass das Buch wirklich gelesen wird, wurde mir erst bewusst, als ich es in der Hand hatte. Vorher war es einfach ein kreativer Prozess. Wir haben das nicht geschrieben, damit es möglichst viele Leute lesen.

Ist diese Aussage nicht ein Schutzmechanismus? Ich kenne das als Autorin. Aber dass meine Artikel einfach verpuffen, will ich dann doch nicht.
Patrizia Hausheer: Ich weiss, was Sie meinen, ich kenne das von meiner Arbeit als Journalistin auch. Aber vielleicht ist es etwas anderes, weil dieses Buch mehr wie ein Tagebuch ist.

Aber trotzdem gibt es einen Grund, warum man es publiziert. Wenn es ein Tagebuch ist, könnte man es ja auch einfach für sich behalten.
Patrizia Hausheer: Das stimmt. Aber wenn wir einfach ein Sachbuch über Philosophie geschrieben hätten, dann würden wir vielleicht eher den Druck spüren: Das muss sich nun verkaufen.

Vanessa Sonder: Mir war wichtig, dass wir es durchgezogen haben. Ich habe das wirklich für mich selbst gemacht. Der Selbstzweck war wichtiger.

Patrizia Hausheer: Hoffentlich schreibt sie das nicht so. Das glaubt dir niemand.

(beide lachen)

Es ist schon nach 21 Uhr. Die Zeit ist im Flug vergangen. Die Weingläser haben sich gefüllt und wieder geleert. Mehrmals.

 

Zwei Philosophinnen und ihre Gespräche

Patrizia Hausheer und Vanessa Sonder lesen am 15. November an der langen Nacht der Philsophie in Zürich aus ihrem Buch «Was soll das alles?», die multimediale Lesung findet um 20 Uhr in der Rothaus-Bar statt. Der Eintritt – wie bei vielen Veranstaltungen der langen Nacht der Philosophie –  ist frei. Weitere Informationen erhalten Sie hier. Das Buch «Was soll das alles?» gibt es im Handel oder direkt beim Verlag mit 20 Prozent Rabatt: Einfach auf arisverlag.ch  im Warenkorb den Rabattcode Annabelle eingeben 

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1.

Die Kapitel setzen sich aus mehreren Gesprächen zusammen, die die beiden Freundinnen in Zürcher Bars geführt haben