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Solo-Reisen: Wie ich im Wald bei mir selbst ankam

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Solo-Reisen: Wie ich im Wald bei mir selbst ankam

Neues ausprobieren, heilen, Zeit für sich haben: Es gibt viele Gründe für eine Reise allein. In unserer Mini-Serie erzählen annabelle-Redaktorinnen davon. Heute: Co-Leiterin Digital Marie Hettich und ihr Wald-Retreat in Graubünden.

2021 ist unser Kind geboren, 2022 nach langer Krankheit mein Vater gestorben – ich war die letzten Jahre nonstop im Überlebensmodus. Dementsprechend unruhig bin ich, als ich an einem Sonntagmittag an der Tramhaltestelle stehe und weiss: Drei Tage lang wird es beim gebuchten Wald-Retreat im Hotel Ucliva in Waltensburg/Vuorz nur um mich gehen. Nur um mich – ich weiss kaum mehr, wie sich das anfühlt. Was wird da alles hochkommen?

Am Hauptbahnhof erwische ich mich dabei, wie ich vor der Abfahrt meines Zuges noch schnell ein paar Sachen erledigen will. Doch ich stoppe mich – ich muss jetzt mal gar nichts. Es kostet mich Überwindung, auf der Bank am Gleis zu sitzen und zehn Minuten zu warten. Einfach die Zeit verstreichen zu lassen – so, als hätte ich, seit ich Mutter bin, nicht ständig das Gefühl, viel zu wenig davon zu haben.

Verschluckt vom Alltag

Schon auf der immer grüner werdenden Zugfahrt in Richtung Graubünden fühle ich mich so frei wie lange nicht. Ich sitze einfach da und kann machen, was ich will. Wahnsinn! Als ich Lust bekomme, teils wochenalte Sprachnachrichten von Freund:innen und meiner Schwester abzuhören, springe ich wie ausgehungert von einer Memo zur nächsten.

Ich merke: Ich vermisse all diese Menschen so! Verrückt, wie einen der Alltag aus Familie und Erwerbsarbeit immer wieder verschluckt. Mein letztes Treffen zu zweit muss Wochen zurückliegen.

Ich schreibe einer Freundin und frage, wann wir uns endlich wiedersehen. In den darauffolgenden Tagen habe ich noch einige solcher Eingebungen, die wie aus dem Nichts und mit grösster Klarheit zu mir kommen.

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«Früh stellt sich bei mir das Gefühl ein, hier ganz viel zurücklassen zu können»

Direkt neben einem grossen, wilden, wunderschönen Wald liegt mein freundliches Zimmer im «Ucliva», dem ersten Öko-Hotel der Schweiz. Viel Holz, kein Fernseher. Alles an diesem Ort, wo Pächterin Ursula Wilhelm regelmässig die unterschiedlichsten Retreats stattfinden lässt, sagt: runter vom Gas, raus aus der Ablenkung. Früh stellt sich bei mir das Gefühl ein, hier ganz viel zurücklassen zu können.

In der ersten Nacht wache ich um vier Uhr auf und habe so vieles im Kopf, dass ich meinen Notizblock aus der Reisetasche kramen und alles runterschreiben muss. So viele Gedanken und Bedürfnisse, die im Alltag ständig weggedrückt werden, und sich dann in Form von Kurzatmigkeit, Herzrasen oder Nackenschmerzen bemerkbar machen.

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«Endlich mal wieder einen Gedanken zu Ende denken, ein Gefühl zu Ende fühlen»

Nein, entspannend im Sinne eines Spa-Wochenendes fühlt sich das Wald-Retreat für mich nicht an. Eher: klärend. Ich nehme mir vor, künftig jedes Jahr für ein paar Tage allein zu verreisen und in die Natur abzutauchen. Diese Stille hier! Endlich mal wieder einen Gedanken zu Ende denken, ein Gefühl zu Ende fühlen.

Das Wort «fühlen» fällt während des Retreats generell sehr oft. «Fühlt sich das für dich stimmig an?» ist eine Frage, die Nicole Schwalda, «Transformation Coach» und Leiterin des Retreats, häufig stellt. Sie hat etliche Ausbildungen, etwa die zur Meditationslehrerin, energetischen Heilerin und als Medium. Das Ziel ihrer Arbeit: Die weibliche und männliche Urkraft auf unserer Erde «wieder in Einklang bringen», so formuliert sie das. Spüren, empfangen, einfach sein.

Nicole ist eine der Personen, die sagt: «Ich habe nicht nur schnell, sondern auch langsam fünf Minuten für dich.» Oder: «Meine Seelensprache ist Englisch.» Jedes Mal, bevor sie den Wald betritt, bittet sie ihn still um Erlaubnis. Wenn sie ein Nein spürt, wählt sie einen anderen Weg. Wer Nicole nur kurz erlebt, könnte denken: Okay, diese Frau erfüllt jedes Klischee einer abgedrehten Spirituellen.

Körperübungen gegen die Enge

Aber die 52-jährige Deutsche, die mit 38 als Führungskraft in der IT-Branche fast in ein Burnout schlidderte und sich anschliessend ihrer, wie sie sagt, «wahren Berufung» zuwandte, zeigt auch andere Facetten: Etwa wenn sie erzählt, dass sie kürzlich eine Phase hatte, in der sie sich jeden Abend ein Youtube-Video nach dem anderen reinzog – sie habe das einfach gebraucht. Und im Hotel-Restaurant lacht sie so schallend laut, dass man meinen könnte, die Bilder fallen gleich von den Wänden.

Nicole ist gut darin, auf unseren Ausflügen in den Wald immer wieder ganz spontan auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von uns vier Teilnehmer:innen einzugehen. Mir zeigt sie zum Beispiel eine Körperübung gegen das aufsteigende Engegefühl, wenn ich wieder einmal zu viel Verantwortung übernehme und mich im Lockerlassen schwertue. Oder sie fragt mich behutsam, ob ich eine Möglichkeit sehe, mit meinem Vater auch mal ausserhalb des Gefühls der Trauer in Verbindung zu treten.

Von den anderen Teilnehmer:innen erfahre ich während der drei Tage nur wenig Konkretes – und doch habe ich das Gefühl, dass wir uns in unserem Wesenskern, in unserer Verletzlich­keit, binnen weniger Stunden extrem gut kennenlernen. Das intime und wohlwollende Gruppengefühl, das im Wald entsteht, rührt mich.

Wir betrachten zusammen feuerrote Spinnen, sich aufrollenden Farn, ent­decken Heidelbeeren und eine Orchi­dee; wir bewundern blühenden Klee, riechen an Harz, weinen unter Rottan­nen und schweigen im Hotel beim ge­meinsamen Bärlauch-­Risotto. Einmal hören wir während einer Meditation mitten auf einer Lichtung ein tiefes Brummen und denken auf dem Rück­weg – halb lachend, halb panisch – alle möglichen Optionen durch, wer oder was das gewesen sein könnte.

«Wir sind wie eine kleine Familie auf Zeit»

Bei der gemeinsamen Barfuss­ Gehmeditation, beim Sinnieren über das Wort «Intuition» oder während der Achtsamkeitsübung, sich für das Ver­speisen einer einzelnen Praline 15 Mi­nuten Zeit zu lassen: Konstant fühle ich mich vom Wald und von der Gruppe gehalten und getragen. Obwohl ich weiss, dass wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden. Wir sind wie eine kleine Familie auf Zeit.

Zurück im Zug Richtung Zürich überlege ich, ob man eigentlich auch zu viel in sich reinspüren kann, und stopfe mir innerhalb weniger Sekunden ein Snickers in den Mund. Als ich mein Handy hervorholen und ein bisschen auf Insta rumscrollen will, spielt es plötzlich «New Shoes» ab – ein uralter Song, den ich längst vergessen habe und der offenbar immer noch auf irgendei­ner Playlist herumgeistert. «Hey, I put some new shoes on. And suddenly everything is right», singt Paolo Nutini. Wirklich erstaunlich, wie oft das Le­ben dann doch so ist wie im Film.

Hier gibts mehr Infos zu den Transformationsretreats bei Nicole Schwalda (ab 497 Franken) und hier mehr zum Hotel Ucliva (zwei Nächte ab 244 Franken).

Transparenzhinweis: Die Veranstalterin und das Hotel haben die Kosten für den Aufenthalt übernommen. Das Retreat wurde unabhängig ausgewählt, die annabelle-Redaktor:innen berichten jeweils frei und unter Einhaltung der berufsethischen Normen über ihre Erfahrungen.

Hier könnt ihr alle Texte aus der Miniserie «Solo-Reisen» nachlesen.

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