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Der Schweizer Film «Les Paradis de Diane» beleuchtet die dunkle Seite der Mutterschaft

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Der Schweizer Film «Les Paradis de Diane» beleuchtet die dunkle Seite der Mutterschaft

Gibt es für eine Frau ein grösseres Tabu, als nicht mehr Mutter sein zu wollen? Der Film «Les Paradis de Diane» erzählt die Geschichte einer frischgebackenen Mutter, die ihr Baby verlässt. Die Filmemacher:innen Carmen Jaquier und Jan Gassmann – im echten Leben ein Paar und Eltern eines Sohnes – gewähren im Interview Einblick.

Carmen Jaquier («Foudre») und Jan Gassmann («Europe, She Loves») haben soeben ihren fünfjährigen Sohn ins Bett gebracht und schalten sich nun zum Zoom-Gespräch ein. Den beiden Filmemacher:innen ist mit «Les Paradis de Diane» ein auf brutalste Weise berührender Film über die Schattenseiten des Mutterseins gelungen. Es ist schon jetzt einer der besten Schweizer Filme des Jahres.

Während des Interviews hören sie sich gegenseitig aufmerksam zu, lassen einander zu Wort kommen und ergänzen die Gedanken des jeweils anderen. Sie sind auch nach jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Thema noch auf der Suche nach Antworten: Warum verlässt eine Mutter ihr neugeborenes Baby?

annabelle: Carmen Jaquier, haben Sie das Drehbuch zu «Les Paradis de Diane» geschrieben, bevor Sie selbst Mutter wurden?
Carmen Jaquier: Ja, Jan und ich waren schon ein Paar, aber wir hatten noch nicht darüber nachgedacht, gemeinsam eine Familie zu gründen. Ich schrieb das Script und während der Finanzierungsphase war uns so langweilig, dass ich dann schwanger wurde (lacht). Spass beiseite, das Thema hat für uns erst später im Prozess auch noch persönlich an Bedeutung gewonnen.

Warum hat Sie das Thema «Regretting Motherhood» besonders interessiert?
Carmen Jaquier: So wie wir aufgewachsen sind, wurde das Thema Mutterschaft nie in Frage gestellt: Wenn eine Frau Mutter wird, wird das in unserer Gesellschaft als etwas sehr Positives angesehen. Es ist gut für den Ruf einer Frau, es ist gut für die Familie, alle sind stolz. Ich kam früher gar nicht auf die Idee, das überhaupt in Frage zu stellen, ich dachte, mein Schicksal als Frau wäre es, irgendwann Mutter zu werden. In dem Glauben bin ich jedenfalls aufgewachsen, auch wenn es nie so direkt gesagt wurde. Jan und ich ahnten, dass es eine dunkle Seite der Mutterschaft gibt, und die hat uns interessiert.

Jan Gassmann: Das Thema hat uns interessiert, weil wir nicht komplett verstehen konnten, wie es dazu kommen kann, dass eine Mutter ihr Kind verlässt. Wir wollten dem nachgehen und wissen: warum? Was macht so ein Schritt mit ihr, warum tut sie das und wie geht die Gesellschaft damit um?

Die Gesellschaft geht nicht sehr verständnisvoll damit um. Würden Sie sagen, dass es eins der letzten Tabus ist, keine Mutter sein zu wollen?
Jan Gassmann: Keine Mutter sein zu wollen, ist noch etwas anderes, als sich gegen ein Kind zu entscheiden, wenn es schon da ist.

Carmen Jaquier: Genau. Ich denke, mittlerweile ist es nicht mehr so tabuisiert, keine Kinder haben zu wollen. Aber ein Kind zu verlassen, nachdem man es auf die Welt gebracht hat? Das ist ein riesiges Tabu und man wird für so eine Entscheidung sehr wenig Empathie bekommen.

Jan Gassmann: Selbst wenn man sich nicht für die Reaktion der Gesellschaft interessiert, verletzt man seine:n Partner:in, sein Kind … Ich erinnere mich an eine Protagonistin in Orna Donaths Buch «Regretting Motherhood», die gesagt hat, dass sie so gerne nach wie vor mit ihrem Mann zusammen wäre, aber es einfach nicht aushalten kann, ihr Kind zu sehen. Diese Geschichten haben uns berührt, und wir haben gemerkt, dass das Thema Mutterschaft von sehr vielen, sehr komplexen Gefühlen begleitet wird.

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«Das Thema Mutterschaft wird von sehr komplexen Gefühlen begleitet»

Jan Gassmann

Es ist ja eigentlich auch eine unmögliche Ausgangslage: Man muss sich für ein Kind entscheiden, bevor man überhaupt weiss, wie es sein wird.
Carmen Jaquier: Ja, und man weiss, dass man aus der Sache danach nicht mehr herauskommt – oder nur sehr schwer. Man hat ja auch keine Ahnung, was für eine Mutter man sein, welche Art von Liebe man empfinden wird. Ich glaube, es gibt kein Rezept für diese Entscheidung, ausser natürlich Logistisches abzuklären, viel Zeit mit anderen Familien und Kindern zu verbringen, Gespräche zu führen und seine Werte zu dekonstruieren. Man muss sich fragen: Warum möchte ich Mutter werden? Ist das ein intrinsischer Wunsch oder folge ich einfach dem Ideal der guten Frau? Gleichzeitig sollte man aber auch nicht zu kopfgesteuert sein, denn das macht die Sache nicht immer einfacher.

Wussten Sie beide schon immer, dass Sie Eltern werden wollten?
Jan Gassmann: Nein, für mich war das gar nichts Obligatorisches. Es hat sich richtig angefühlt, zu dem Zeitpunkt, als Carmen und ich Eltern wurden. Mir war wichtig, nicht einfach ein Kind zu haben, weil alle in unserem Alter das damals gerade so gemacht haben. Aber wir haben das Glück, dass wir beide Künstler:innen sind und deshalb Verständnis für die Bedürfnisse des anderen aufbringen.

Carmen Jaquier: Ich habe angefangen, darüber nachzudenken, als ich mit der Arbeit an dem Film begonnen habe. Erst in dem Prozess habe ich so richtig verstanden, dass ich als Frau sehr viele Möglichkeiten habe und nicht unbedingt Mutter werden muss.

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Die Hauptfigur Diane flüchtet aus dem Krankenhaus und fährt mit dem Nachtbus an die Costa Brava. Warum haben Sie diesen Nicht-Ort Benidorm als Location ausgesucht?
Jan Gassmann: Wir wollten einen Ort, der seine beste Zeit hinter sich hat, Benidorm ist ein sehr cinematischer, seltsamer Ort. Wir haben genau den Trip gemacht wie unsere Darstellerin: 24 Stunden mit dem Bus.

Carmen Jaquier: Es hat auch eine symbolische Bedeutung. Viele Frauen, mit denen ich gesprochen habe, haben sich zum Beispiel nach einer Fehlgeburt gefühlt, als wären sie dem Musterbild der Frau nicht gerecht geworden, als hätten sie versagt und als läge das Ideal in Trümmern. So fühlt sich diese Stadt an, die so viele seltsame Menschen anzieht. Ein Ort, der seinem eigenen Ideal nicht mehr gerecht wird.

Diane freundet sich in Benidorm mit einer älteren Dame namens Rose an und fängt an, sich um sie zu kümmern. Ist Rose ein Ersatz für das Baby, um das sie sich eigentlich kümmern müsste? Kann man diese Bilder als Kritik an der Rolle der Frau als ewige Fürsorgerin verstehen?
Carmen Jaquier: Wir wollten damit zeigen, dass Diane sehr wohl fähig ist, zu lieben, wenn auch nicht ihr eigenes Kind. Ich verstehe die Szenen nicht als Kritik an der Verteilung von Care-Arbeit, sondern eher als Inspiration. Wir sollten uns alle mehr um andere kümmern, wenn nicht um Kinder, dann um ältere Menschen, Nachbar:innen, Mitmenschen. Die Antwort ist also nicht, dass Frauen sich weniger um andere kümmern sollten, sondern, dass alle anderen sich mehr um andere kümmern sollten.

«Es ist gesund, dass man sich als Frau von seinem Kind abgrenzen möchte»

Carmen Jaquier

Im Zuge der Recherche haben Sie mit über fünfzig Schwangeren und Wöchnerinnen Gespräche geführt.
Carmen Jaquier: Ja, es war sehr berührend. Wir hatten gar nicht vor, nur mit Frauen zu sprechen, die mit ihrer Mutterschaft hadern. Es stellte sich erst im Verlauf der Gespräche heraus, dass fast alle Frauen, die eine Schwangerschaft, eine Geburt oder die erste Zeit mit Baby erlebt hatten, eine Art Geheimnis hatten – Dinge, für die sie sich schämten, Gefühle, die sie nicht einordnen konnten und die sie noch nie mit jemandem geteilt hatten. Die Transformation zur Mutter bringt viele komplexe Gefühle mit sich.

Jan Gassmann: Wir haben gemerkt, wie sehr diese Frauen reden wollten. Als sie sich wohl fühlten, war es so, als ob sie endlich diese Last der schweren Gefühle ablegen konnten. Es war für alle Frauen ein echtes Bedürfnis zu sprechen und ein grosses Geschenk für uns.

Carmen Jaquier: Es ist ja auch gesund, dass man sich als Frau manchmal von dem Kind abgrenzen und ein Individuum sein möchte. Kompliziert ist es nur, wenn das ein Dauerzustand ist.

Wie zentral war das Element der weiblichen Wut für Sie?
Jan Gassmann: Für mich fühlt Diane eine Art Ungerechtigkeit über die Ohnmacht der Situation. Plötzlich findet sie sich unter der Geburt wieder. Warum muss sie diesen Schmerz aushalten? Warum hat sie plötzlich diese Verantwortung? Warum ist ihr Mann einfach nur glücklich? Sie hat plötzlich nicht mehr die Kontrolle, und das macht sie verständlicherweise wütend.

Ist es schwer, als Paar zusammenzuarbeiten?
Jan Gassmann: Es hat Vor- und Nachteile. Es ist bereichernd, wenn man Zweifel, Freude, eine Vision teilen kann und zusammen etwas kreiert. Aber es macht einen auch verletzlich als Paar. Wir sind dieses Risiko bewusst eingegangen und am Set hat es sehr gut funktioniert, wir waren wie ein Fabelwesen mit zwei Köpfen (lacht). Aber es lässt sich nicht leugnen, dass wir auch sehr viel Arbeit mit nachhause genommen haben.

Carmen Jaquier: Wir hatten auch viele Konflikte. Wir haben gelernt, dass man den anderen manchmal machen lassen muss und selbst ein Stück weit die Kontrolle abgeben muss. Unser Sohn war mit uns am Set, das war sehr schön, aber es war manchmal auch schwer, zwischen Arbeit und Privatleben zu unterscheiden. Eigentlich wurden Arbeit und Privatleben eins.

War diese Zusammenarbeit eine einmalige Sache?
Carmen Jaquier: Für den Moment schon (lacht). Wir brauchen beide wieder mal ein Geheimnis voreinander.

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